Ein paar freundschaftlich, kulturell und geopolitisch bedingte Tage mit meiner Frau in Tunesien zeigen die einst vielversprechende Demokratie im Gründungsland des arabischen Frühlings im freien Fall.
«Ich möchte weinen, wenn ich den gegenwärtigen Zustand meines Landes sehe», meint der ehemalige tunesische Botschafter, ein alter Freund aus vergangenen diplomatischen Zeiten. Das Wiedersehen mit ihm und seiner Frau – ebenfalls tunesische Botschafterin im Austausch mit ihrem Gatten – war einer der Gründe, warum wir uns früh in der Saison nach dem Maghreb-Land aufmachten, ohne Garantie der im Sommer allgegenwärtigen Sonne mit entsprechenden Badefreuden an langen Sandstränden. Tatsächlich war es nur unwesentlich wärmer als zur gleichen Zeitpunkt in der klimaerwärmten Schweiz.
Das aus meiner Gymizeit bestbekannte, weil im Lateinunterricht endlos erwähnte Karthago und andere Zeugen vergangener Grösse in diesem neben Ägypten geschichtlich wichtigsten Land Nordafrikas einmal physisch zu erleben, war ein zweiter Grund. Als geopolitisch tätiger Unternehmer wollte ich schliesslich eine Lagebestimmung vor Ort machen können, angesichts alarmierender Medienberichte über den rasch fortschreitenden Zerfall der vom arabischen Frühling einzig übrig gebliebenen Demokratie.
Politik
Präsident Kais Saied, als ehemaliger Rechtsprofessor und Parteiloser dank seinem basisdemokratischen Gehabe gewählt, hat sich in seinen Amtsjahren seit 2019 vom Hoffnungsträger der Jugend und von Teilen der Demokratiebewegung immer rascher zum unduldsamen, konservativen Autokraten gewandelt, welcher den Rechtsstaat aushebelt, Opponenten ins Gefängnis wirft und für eine rassistische Brandrede gegen schwarzafrikanische Migranten von der «African Union» offiziell getadelt wurde.
Sogar der ja 2011 bei Ausbruch des arabischen Frühlings fortgejagte Despot Ben Ali sei im Vergleich noch besser gewesen, habe er doch wenigstens das Land modernisiert, so eine tunesische Betrachterin. Said mache, ausser undemokratischer Repression eigentlich gar nichts, sondern lasse das Land immer weiter im Sumpf von Wirtschaftsmisere und zerbröckelnder Infrastruktur versinken.
Hier gilt es darauf hinzuweisen, dass im arabischen Quervergleich die tunesischen Frauen seit jeher und auch heute noch selbstbewusst auftreten. Kopftücher sind meist nur auf dem Land anzutreffen, Verschleierte überhaupt nicht, obwohl die tunesische Partei der Muslimbrüder auf dem Papier noch immer die stärkste Partei ist. Gerade Frauen sind dann auch bereit, bei Gelegenheit dem Land den Rücken zuzukehren. So etwa die beiden Töchter unserer Bekannten, als hochqualifizierte Fachkräfte in Nordamerika tätig und – meinen etwas melancholisch Eltern und Grosseltern – die mit ihren Familien wohl kaum mehr zurückkehren würden.
Wirtschaft
Tourismus war und bleibt seit römischen Zeiten die Hauptindustrie Tunesiens, das im Gegensatz zu seinen beiden Nachbarn, Libyen und Algerien, kaum über Rohstoffe verfügt. Die islamistischen Attentate von 2015 gegen westeuropäische Touristen führten zu einem ersten verheerenden Einbruch. Kaum etwas erholt, schlug Covid zu und brachte das Land, das erst spät über Pfizer-Impfungen verfügte, und damit auch die Tourismusindustrie zu einem völligen Stillstand. Die Folgen sind noch heute offensichtlich; ganze Reihen von Strandhotels sind nicht nur saisonbedingt, sondern angesichts zerfallender Fassaden und Reklameschilder offensichtlich permanent geschlossen. Im Disneyland der Tourismusmetropole Hammamet, für Tausende geplant und gebaut, verlieren sich bei unserem Besuch eine Handvoll Besucher zwischen geschlossenen Fassaden dieses «Ballenbergs» von Tunesien (Nachbildung von «Medinas», Altstädten, aus allen vier Ecken des Landes).
Die wenigen voll funktionsfähigen Hotelpaläste in Hammamet schotten sich gegen aussen ab, aus Sicherheitsgründen und weil ein – für Westeuropäer tatsächlich spottbilliges – «All-inclusive»-Arrangement mit Läden in den Hotelgebäuden für die Anbieter günstiger und sicherer ist als freier Ausgang ihrer Kunden in dieser chaotisch gewordenen Tourismusstadt mit über 70’000 Einwohnern. Was wiederum die traditionellen Tourismus-Anbieter ausserhalb – Restaurants, Läden, Autoverleih, Anbieter von Exkursionen – schwer trifft.
Hierhin gehört auch eine Bemerkung zum öffentlichen Verkehr. Als Eisenbahnfans wollten wir unbedingt eine längere Fahrt in den Süden mit der staatlichen Eisenbahn unternehmen. Trotz klaren Angaben im Netz und wiederholten Versicherungen via Telefon war die Realität bei Ankunft im Bahnhof zweimal dieselbe: «Pas de train, Monsieur.» Vielleicht der nächste in vier Stunden? Die Fahrt im anstelle herbeigezogenen, zehnsitzigen Transporttaxi mit lokalen Fahrgästen wurde – da die Besitzer Kleinunternehmer sind und auf möglichst viele Fahrten kommen wollen – zur unfreiwilligen Mutprobe angesichts beidseitiger Überholmanöver auf der Autobahn in rasendem Tempo. Busse gibt es natürlich, nur sind sie unzuverlässig und ihre Haltestellen schwer zu finden. Bleibt das im lokalen Vergleich teure Mieten eines Privatautos mit Chauffeur, der mit grosser Freundlichkeit unserer Beschwörung nachkommt, die offizielle Limite von 110 km auf der Autobahn doch möglichst wenig zu überschreiten.
Land und Leute
Eindeutig das positivste Kapitel unserer Tunesienreise, wie sich am erwähnten Beispiel unseres Privatchauffeurs zeigte. Generell wird Touristen, speziell wenn sie etwas Interesse am tunesischen Alltag zeigen, ausserordentlich freundlich und fast durchwegs in gutem Französisch begegnet. Natürlich, sie bieten an, wollen verkaufen, insistieren auch, wie das in Touristenzentren überall auf der Welt der Fall ist. Das Gespräch bleibt indessen freundlich, fast immer höflich und auch ein Nein wird akzeptiert.
Nicht nur zu kaufen, sondern auch zu sehen gibt es in Tunesien einiges. Neben der Hauptstadt Tunis mit den verschiedenen Sehenswürdigkeiten des unsterblichen Karthago – heute allerdings bemerkenswert schlecht unterhalten – ist vor allem der Süden Tunesiens eine Reise wert. Oder besser nach Mitteltunesien, da der wirkliche Süden mit seiner Grenze zum instabilen Libyen als nicht ungefährlich gilt. In El-Jem steht das grösste, noch erhaltene römische Amphitheater der römischen Welt, in den Dimensionen etwas kleiner als das Kolosseum, aber weniger angenagt vom Zahn der Zeit. Das muslimische Gegenstück dann im nur 50 km entfernten Kairouan, die älteste Moschee auf afrikanischem Boden. Errichtet von den arabischen Muslimen, welche im 8. Jahrhundert auf ihrem Eroberungsfeldzug durch den Maghreb und nach Andalusien dort ihren Herrschaftsanspruch gegenüber der römisch-byzantischen Provinze «Africa» geltend machten.
Leider ist heute Kairouan auch ein Symbol des gegenwärtigen Niedergangs. Um zum Zentrum mit den Sehenswürdigkeiten zu gelangen, fährt man durch ausgedehnte Vorortsviertel, welche buchstäblich apokalyptisch anmuten: Müll überall verstreut, schäbige, teilweise eingefallene Hütten, wo aber, so versichert unser Chauffeur «viele Leute» wohnen würden. Auf das «Warum» dieses hier offensichtlich sichtbaren Niedergangs eines einst recht wohlhabenden Entwicklungslandes angesprochen, zuckt er nur mit den Schultern.
Politischer Ausdruck dieses Schulterzuckens ist die kürzliche Beteiligung an einer nationalen Verfassungsabstimmung und einer darauf folgenden Parlamentswahl: 30%, dann 10% Teilnahme zeigen, so ein versierter ausländischer Betrachter, dass viele Tunesier ihr Land aufgegeben hätten.