Rabbiner und Imame zeigten sich Seite an Seite beim Schweigemarsch an diesem Sonntag durch die Innenstadt von Toulouse, ein Jahr nach den abscheulichen Morden des hausgemachten französischen Terroristen Mohamed Merah.
Die Angehörigen der Opfer der drei französischen Soldaten nordafrikanischer Abstammung und der drei jüdischen Kinder und eines Vaters, Muslime und Juden, gingen ebenfalls demonstrativ nebeneinander. Der jüdische Schriftsteller Marek Halter, an der Seite des Imams von Drancy – dem Ort, von dem aus einst über 70’000 französische Juden in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten deportiert worden waren – betonte, er kämpfe mit den geistlichen Oberhäuptern des Islam dafür, dass diese Religion in Frankreich als eine grosse, friedliebende Religion gesehen und akzeptiert werde.
Merah, der mit dem Ruf «Allah akbar» auf den Lippen seine Opfer regelrecht hingerichtet habe, dürfe nicht weiter dafür sorgen, dass sechs Millionen Muslime in Frankreich unter dem permanenten Verdacht stünden, allesamt radikale Islamisten zu sein. Wie recht Halter damit hat, zeigt eine jüngste Umfrage, wonach über 70 Prozent der Franzosen angeblich der Meinung sind, die Religion des Islam sei mit den republikanischen Werten Frankreichs unvereinbar.
Die Zeremonie
Der Bürgermeister von Toulouse nannte feierlich die Namen der Ermordeten, ein Magnolienbaum, Symbol der Würde und der Stärke, wurde gepflanzt und sieben Kinder aus Toulouse lasen sieben Strophen eines Gedichts von Kipling, in dem sich ein Vater an seinen Sohn wendet, für die sieben Opfer der Mordserie.
Der Staatspräsident beschwor die Einheit der Nation und unterstrich, indem man französische Soldaten und sogar Kinder in ihrer Schule getötet habe, habe man die Republik in ihrem Herzen treffen wollen. Die Republik aber habe standgehalten, denn die Demokratie sei immer stärker als der Fanatismus.
Der Bürgermeister von Toulouse, Daniel Cohen, formulierte dann auch mit gebrochener Stimme noch einmal, was Frankreich vor einem Jahr schmerzlich bewusst geworden war: Da hatte einer Söhne und Töchter der Nation erschossen, der selbst ein Sohn Frankreichs war. Diese sieben Morde im März 2012 mit islamistischem Hintergrund – da kann man sich nichts mehr vormachen und nicht mehr darum herum reden – waren nicht von aussen nach Frankreich hereingetragen worden.
Der 23-jährige Mohamed Merah war ein Kind der Stadt Toulouse, ein Kind der französischen Gesellschaft, so wie sie heute nun einmal ist. Ein französischer Junge, der die Schule der Republik durchlaufen hatte, in Frankreich sozialisiert worden war, in einer ihm vertrauten Umgebung eine Lehre als Karosserieschlosser absolviert und als solcher sogar kurze Zeit gearbeitet hatte, bevor er in die Kleinkriminalität abdriftete und anschliessend umkippte, sich im Lauf von nur wenigen Monaten in eine ganz andere Welt begeben und sich dort eingeschlossen hatte – in der Welt der strengen Salafisten und des radikalen Islamismus.
Mohamed Merah war zudem ein Junge mit einem Engelsgesicht – die Videos und Photos, die von ihm veröffentlicht wurden, nur wenige Stunden bevor er damals, wie angekündigt, mit der Waffe in der Hand sterben sollte, zeigten einen ausgelassenen jungen Mann mit einnehmendem Lächeln, der in seiner Vorstadt mehr als einem Mädchen den Kopf verdreht haben dürfte, einen harmlos wirkenden Angeber, mit den unter Vorstadtjugendlichen unerlässlichen Markenklamotten am Leib, der schnelle Autos und schwere Motorräder liebte. Ein ganz normaler Franzose, Anfang zwanzig.
Angehörige der Opfer engagieren sich
Was im Fall Merah besonders unter die Haut geht, eine Tragödie innerhalb der Tragödie, ist die Tatsache, dass die Biographie und Sozialisation der drei von Merah getöteten französischen Soldaten der des Täters sehr ähnlich sind. Sie gehören derselben Generation an, sie haben alle ihre familiären Ursprünge in Nordafrika und sind allesamt in Frankreich geboren worden. Sie sind in nicht gerade privilegierten Verhältnissen und Stadtvierteln aufgewachsen, waren in der Schule alles andere als erfolgreich. Drei sind Berufssoldaten geworden; einer, Mohamed Merah, ist in Toulouse abgeglitten.
Albert Chenouf-Meyer, der im Elsass aufgewachsene und verheiratete, aus Algerien stammende Vater des von Merah erschossenen Soldaten, Abel Chenouf, hat das in einem gerade erschienen Buch mit dem Titel «Abel, mein Sohn, mein Kampf» sehr eindringlich und ausführlich behandelt und immer wieder durchblicken lassen: Dieser Mohammed Merah in Toulouse hätte im Grund genommen genau so gut mein eigener Sohn sein können.
Die Mutter von Imad Ibn Zlaten, dem allerersten Opfer von Merah, hat wohl Ähnliches empfunden. Seit der Ermordung ihres Sohnes reist sie quer durch Frankreich in die Vorstadtghettos und versucht mit ihren Mitteln, mit ihren Worten, die Jugendlichen dort vor den Parolen der Islamisten zu bewahren, dafür zu sorgen, dass keine anderen Mohamed Merahs heranwachsen. Sie nennt das ihren «Kampf gegen den Hass». Eine trauernde, gebrochene Frau schafft es, mit immenser Würde und unter ihrem Kopftuch sich bei herumlungernden Halbstarken mit Baseballkappen Gehör zu verschaffen.
Zwei Eltern, deren Kinder unter besonders dramatischen Umständen ums Leben kamen, gelingt es, aus dem Schmerz, aus ihrer Trauer Kraft für etwas Positives zu schöpfen – eine Lektion zivilgesellschaftlichen Engagements, vor der sich die Republik Frankreich nur verneigen kann.
Es wird nicht reichen, die Misere, die Hoffnungslosigkeit und die Radikalisierung der jungen Generation in Frankreichs Vorstadtghettos aus der Welt zu schaffen, und doch ist es ein in diesen Zeiten für das Zusammenleben der Bürger Frankreichs unverzichtbarer Akt, der hier und dort vielleicht doch Anlass zu Hoffnung und Veränderung geben könnte.
Offene Fragen
Umso mehr haben diese Angehörigen jetzt das Recht, die ganze Wahrheit zu erfahren über die Hintergründe der islamistisch motivierten Mordserie des Mohammed Merah. Gerade da aber sind die Dunkelzonen noch extrem zahlreich.
Ein Jahr nach der Tat hat es die Justiz immer noch nicht geschafft zu klären, inwieweit Merah ein Einzeltäter war oder von einem Netzwerk unterstützt wurde. Sein älterer Bruder, ein hartgesottener Salafist, sitzt zwar immer noch im Gefängnis; offensichtlich hat der Untersuchungsrichter aber grösste Schwierigkeiten, ihm eine wirkliche Beteiligung oder Beihilfe an den Morden nachzuweisen. Unklar bleibt auch, wer Merah die Reisen nach Afghanistan, Pakistan, Syrien oder Ägypten finanziert hat oder das Anmieten von teuren Autos, mit denen er in Toulouse über Monate hinweg geprotzt hat.
Pannen
Vor allem aber warten die Angehörigen der Opfer immer noch auf ein eindeutiges Eingeständnis der Republik, was die ganz offensichtlichen Pannen in der Affäre Merah bei den verschiedenen Nachrichtendiensten des Landes angeht. Erst vor wenigen Wochen tauchten Dokumente auf, die eindeutig belegen, dass Merah bereits 2006, im Alter von 18, als militanter Islamist signalisiert worden war. Danach stand er zwar, mehr oder weniger, unter Überwachung der zuständigen Dienste. Ein letztes Mal war er im November 2011, nach seiner Rückkehr von einem mehrmonatigen Aufenthalt in Pakistan und Afghanistan, von der regionalen Abteilung des Nachrichtendienstes verhört worden. Unmittelbar danach aber wurde – anscheinend auf Anweisung von Paris – die nähere Überwachung von Merah eingestellt!
Seit einem Jahr kann niemand die Frage beantworten, warum dies ausgerechnet nach Merahs Reise ins pakistanisch-afghanische Grenzgebiet und zu den Ausbildungszentren der Gotteskrieger geschehen ist. Und da niemand diese Frage beantworten kann, ist auch der Verdacht nicht ausgeräumt, dass der Nachrichtendienst dabei war, Merah als V-Mann zu engagieren.
Koordination? Fehlanzeige
Schlimmer noch: Es besteht der schwerwiegende Verdacht, dass die Morde an den drei jüdischen Kindern und einem Vater vor der Schule vielleicht hätten verhindert werden können, wenn die Pariser Zentrale auf die regionalen Mitarbeiter im Nachrichtendienst gehört hätte.
Nach den Morden an den drei französischen Soldaten beharrte Paris darauf, dass man die Täter im rechtsradikalen Lager zu suchen habe, weil alle drei Opfer nordafrikanischer Abstammung waren, während in Toulouse mehrere Beamte an die islamistische Szene dachten. Denn die Regimenter der drei ermordeten Soldaten in Toulouse und Montauban waren jeweils in Afghanistan im Einsatz gewesen.
Eines gilt mittlerweile als praktisch sicher: Hätte man Informationen und Daten der verschiedenen Nachrichtendienste sofort miteinander abgeglichen, wäre man auf Mohamed Merah gestossen, noch bevor dieser zu seiner fürchterlichen Expedition zur jüdischen Schule aufbrach.
Das Ende
Und letztlich bleibt natürlich auch noch die Frage: Warum haben es die verschiedenen Polizei- und Nachrichtendienste vor einem Jahr nicht geschafft, den 23-jährigen Merah, nachdem sie ihn ausgemacht hatten, ganz einfach beim Verlassen des Hauses oder auf der Strasse festzunehmen? Warum musste es zu dieser 32-stündigen, martialisch inszenierten, in alle Welt übertragenen Belagerung der Wohnung des Mörders kommen? Warum mutierte der damalige Innenminister höchstpersönlich zum Justiz- und Polizeisprecher vor Ort, und warum gab es letztlich keine andere Lösung, als Mohamed Merah zu töten?
Der Innenminister von damals, Sarkozy-Intimus Guéant, sagt heute angesichts der mehr als wahrscheinlichen Pannenserie nur: «Merah hat uns einfach hereingelegt.» Das klingt, mit Verlaub, ein wenig dünn.