Als Fussballer war ich ein Überzähliger. Spielten meine Kameraden in der Primarschule - sechzig Jahre sind es her - "Uruguay gegen Brasilien" oder "Schweden gegen Spanien", gehörte ich bei den Mannschaftszusammenstellungen nie zur ersten Wahl. Mittschutten durfte ich aus Gefälligkeit und wahrscheinlich auch wegen meiner Aufschneiderei, mit einem Fussballer der obersten Spielklasse, der damaligen Nationalliga A, verwandt zu sein. Darauf war ich unglaublich stolz.
Direkter Draht zur Fussball-Hochburg
Mein Cousin Kurt Bossard, den ich als meinen sehr viel älteren Bruder bewunderte, hütete beim FC La Chaux-de-Fonds das Tor. Die Mannschaft, heute in der 2. Liga, holte zwischen 1948 und 1964 sechsmal den Schweizer Cup, dreimal den Meistertitel und 1954 und 1955 sogar das Double.
Die schweizerische Fussball-Hochburg lag zu Zeiten der blühenden Uhrenindustrie im Jura. Von meinem Cousin mitgebaut und bewacht. Das finde ich noch heute grossartig.
Auf Tuchfühlung mit Stars
Von Winterthur und Zürich aus, wo ich aufwuchs, reiste ich häufig ferienhalber zu Kurt und seiner Frau Aline nach La Chaux-de-Fonds. dort konnte ich aus einer für Fans traumhaften Nähe das Team anfeuern und berühmte Spieler wie Kiki Antenen und Willy Kernen per Handschlag begrüssen.
Mit dem Sohn des legendären Trainers Georges Sobotka freundete ich mich an. Deshalb kam es auch zu privaten Begegnungen mit dem Fussballprofessor, der als Spieler der tschechoslowakischen Nationalmannschaft Vize-Weltmeister wurde. Obwohl mir der Prominente und Gefürchete nur herablassende Worte gönnte, empfand ich sie als sportliche Ritterschläge.
Mitfiebernder Experte
Der Besuch eines Fussballspiels hiess für mich nicht altersgerecht Stehplatz, sondern Haupttribüne. Kurt brachte mir die Regeln samt Offside bei, setzte mir taktische Lichter auf und erläuterte mir die Stärken und Schwächen der eigenen und gegnerischen Spieler. Ich avancierte zum mitfiebernden Experten - und eben zum wenigstens geduldeten Kickerlein auf der Schulhauswiese.
Stellte ein Elfmeter Kurt auf die Probe, war ich und nicht er der Angsthase. Die abwehrende Parade des Furchtlosen liess mein Herz jubeln. Einen Sieg des FCC empfand ich als hoch verdiente Auszeichnung, eine Niederlage tagelang als grauenhafte Ungerechtigkeit.
Abendtraining und Trinkgelder
Alle Spieler übten einen Brotberuf auf, meist einen lockeren und halbtagsweise. Kurt hingegen arbeitete voll und schwer als Heizungsmonteur. Trainiert wurde abends.
Die Spielerentschädigungen bewegten sich im Rahmen eines besseren Trinkgeldes. Nach dem Cupsieg gab es 500 Franken und einen Lederkoffer. Für die damaligen Verhältnisse waren das fürstliche Gaben.
Gefesselt am Radio
Die enge Vertrautheit mit dem FC La Chaux-de-Fonds und die für einen Primarschüler einzigartig spannenden Blicke hinter die Kulissen wären ideale Voraussetzungen gewesen, mich für eine Fussballer-Karriere zu entscheiden.
Doch die kehrseitige Erfahrung, was dieser Sport den Aktiven an Begabung und Leistung abfordert, welche Trainingsmühsal es für den Weg an die Spitze braucht, beliessen mich in der Rolle des Zuschauers. Und des Zuhörers, der in der noch fernsehlosen Zeit am Radio gefesselt war von den bildhaften Reportagen Hans Sutters, der mit seiner trockenen Stimme jedem Match die Würde bewegender Ernsthaftigkeit verlieh.
Wiederhergestellte Ordnung
Kurt, seine Mitspieler und der Trainer leben nicht mehr. Aber am FC La Chaux-de-Fonds nehme ich aus der Ferne noch immer Anteil.
Die Wahl, ob unsere Nationalmannschaft in Brasilien den WM-Final gewinnen soll oder der FCC zur Wiederherstellung meiner Fussballwelt nochmals den Schweizer Meistertitel, fiele mir sehr leicht.