Als der 17-jährige Pelé 1958 in Schweden erstmals Weltmeister wurde, war ich Neun. Brasiliens 5:2 im Final gegen Frankreich kriegte ich noch nichts so richtig mit. Spielen war für uns seinerzeit wichtiger als Schauen, und einen Fernseher hatten wir zu Hause eh nicht. Das sollte sich später andern.
Wir waren Strassenfussballer, kickten auf dem Platz vor dem Volg-Laden oder auf der Industriestrasse in Zug, mit einem Gartentor und einem Gitterzaun daneben als Goal, eine Sägerei mit Baumstämmen auf der einen, ein eingezäuntes Holzlager auf der andern Seite des Spielfelds. Fussballstiefel hatten wir keine, wir tschutteten in Halbschuhen, deren abgeschürftes oder löchriges Leder wiederholt Anlass für elterlichen Tadel war.
Trikots berühmter Vereine hatten wir schon gar nicht, die Vorstellung musste genügen, um uns in Alfredo di Stéfano, Francisco Gento oder Ferénc Puskás von Real Madrid zu verwandeln. Real gewann in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre fünfmal hintereinander den Europa-Cup der Landesmeister, bis die Madrilenen 1960 gegen den Erzrivalen FC Barcelona frühzeitig ausschieden.
Die Katalanen verloren dann allerdings den Final im Wankdorf-Stadion in Bern gegen Benfica Lissabon mit 2:3. Lediglich 29‘000 Zuschauer sahen sich das Spiel an. Ein Jahr zuvor, als Real Madrid Eintracht Frankfurt in Glasgow mit 7:3 vom Platz gefegt hatte, waren im Hampden-Park unglaubliche 135‘000 Zuschauer zugegen gewesen. Wir schossen alle sieben Tore, d.h. Di Stéfano drei und Puskás deren vier.
Das Spiel in Glasgow durften wir uns bei den Nachbarn ansehen, ausnahmsweise, denn es fand abends statt – im Gegensatz zum Final des FA-Cups in Wembley, der nachmittags über die Bühne ging. Das Endspiel 1960 vor fast 100‘000 Zuschauern gewannen die Blackburn Rovers verdientermassen gegen die schwierig auszusprechenden Wolverhampton Wanderers 3:0.
Erst war noch unklar gewesen, ob der Deutsche Fussball-Bund (DFB) 1959 die Frankfurter Amateure (die Bundesliga startete erst 1963) gegen die „Königlichen“ überhaupt würde spielen lassen: Ferénc Puskás hatte drei Jahre zuvor angedeutet, die deutsche Fussballnationalmannschaft sei 1954 beim 3:2 Sieg im WM-Final gegen Ungarn, dem „Wunder von Bern“, gedopt gewesen.
Taktisch waren wir damals Real Madrid nur in einem Aspekt überlegen. Flog der Ball nach einem missglückten Abstoss oder einer zu lang gezogenen Flanke über den Zaun des Holzlagers, war auf der andern Seite prompt und knurrend der Furcht einflössende Schäfer eines Angestellten der Sägerei zur Stelle. Das Tier galt es jeweils abzulenken, damit einer von uns ungehindert über den Zaun klettern und das Leder auf die Industriestrasse zurückkicken konnte.
Wir griffen zu einer List, auf die wohl auch Sun Tzu stolz gewesen wäre. Wir machten am obern Ende des Holzlagers Radau, indem wir gegen den Gitterzaun traten und lärmten, worauf der Wachhund mit stupider Regelmässigkeit angerannt kam, was uns erlaubte, am untern Ende den Haag zu überwinden und den Ball zu retten. Bei Sun Tzu hätte das wohl geheissen: „Im Osten Lärm machen, aber im Westen angreifen“. Auf jeden Fall überstanden wir alle Spiele unlädiert, zumindest was Hundebisse betraf.
Taktisch weniger glücklich agierten wir beim Spielen auf der Wiese des Guggiwäldi ob der Stadt Zug. Geriet ein Pass zu scharf oder zu ungenau, kollerte der Ball den steilen Abhang des Hügels in Richtung Bahngeleise hinunter und musste jeweils vom Übeltreter in einer Energie und Schnauf kostenden Aktion auf die Wiese zurückgeholt werden. Die Topographie liess sich nicht überlisten.
Wobei wir, was diese Wiese betraf, neben dem Gelände noch mit einer andern Inkonvenienz zu kämpfen hätten, mit der sich die Spieler von Real Madrid im Estadio Santiago Bernabéu mit Sicherheit nie konfrontiert sahen: Unser Rasen wurde von Zeit zu Zeit ohne Vorwarnung gegüllt, was zwangsläufig zu Spielausfällen führte.
Dafür ist, anders als auf dem Guggiwäldli, im Bernabéu unseres Wissens nie Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ als Sommertheater aufgeführt worden. Obwohl ein Zitat aus dem Stück sehr wohl prophetisch auf Fussball-Fans hätte gemünzt sein können: „Verliebte und Verrückte sind beide von so brausendem Gehirn, so bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt, was nie die kühlere Vernunft begreift!“
Unsere Liebe zum Fussball zeigte sich nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie. Einmal pro Woche erschien damals die Zeitschrift „Tipp“, dreimal wöchentlich die Zeitung „Sport“ unter dem allwissenden Chefredaktor Walter Lutz - Pflichtlektüre für angehende Weltfussballer. Natürlich reichte unser Sackgeld nicht aus, um solche gedruckten Preziosen zu kaufen. Dafür nahmen wir, Strassenkinder halt, zum Betteln Zuflucht.
Ein williges Opfer war Fräulein Flück, die den Kiosk an der Bahnhofstrasse in Zug führte, ein filigranes hölzernes Gazebo, das unter Denkmalschutz gehört hätte. Fräulein Flück händigte uns jeweils auf treuherzige Nachfrage hin, falls nicht ausverkauft, die geköpften Sports“ und „Tipps“ aus, weil sie den Verlagen lediglich die Titel der unverkauften Exemplare zurückzuschicken brauchte. Und wir hatten den Stoff, aus dem die Träume waren: Matchberichte, Analysen, Porträts und – vor allem! –Fussballbilder, die wir sorgsam auszuschneiden und zu archivieren pflegten.
Auch bei Kleider Frey an der Bahnhofstrasse gingen wir jeweils betteln, denn das Modegeschäft stellte in einem Schaufenster jede Woche aktuelle Agenturbilder von Schweizer Sportanlässen aus. Unter den Schwarzweissfotos begehrten wir natürlich die Fussball-Bilder, die übrigen Sportarten – Rad, Rudern, Turnen, Schwingen, Waffenlauf - straften wir mit Verachtung. Höchstens Eishockey tolerierten wir noch knapp.
Am liebsten waren uns jene Bilder, die der Fotograf von hinter dem Tor durch das Netz hindurch geschossen hatte: Penalty- oder Freistoss-Tore, spektakuläre Goalie-Paraden, hektische Strafraumszenen. Stichwort Netz: Da wir im Alltag über keines verfügten, übten Tornetze auf uns eine fast erotische Anziehung aus. Nichts Schöneres, als auf einem richtigen Fussballplatz Ball zur Abwechslung den Ball in ein richtiges Netz zu dreschen, einmal, zweimal, dreimal!
Neben Tschutti-Bildern sammelten wir auch Fussball-Literatur. „Elf Freunde müsst ihr sein“ von Sammy Drechsel hatten wir alle gelesen, obwohl die Handlung weit weg, an einer Berliner Volksschule der 1930-er-Jahre, spielte. Punkto Fussball literarisch ergiebig waren vor allem die frühen 60-er Jahre.
Da erschien zum Beispiel, ein unvergessliches Weihnachtsgeschenk, das Buch „Fussball in der Schweiz“ der beiden Radio-Sportreporter Hans Suter und Jean-Pierre Gerwig. Die beiden waren uns bestens bekannt wegen ihrer sonntäglichen Direktübertragungen von Spielen aus dem Zürcher Letzigrund, dem Basler St. Jakob, dem Berner Wankdorf, dem Stade des Charmilles in Genf oder dem Stadio Cornaredo in Lugano – alle für uns klingende „Theatres of Dreams“, wie das Old Trafford von Manchester United.
„Fussball in der Schweiz“ war ein 264-seitiger Band des Zürcher Photo-Buch Verlags, der laut Vorwort „einen Überblick über die Höhen und Tiefen des Schweizer Fussballs“ gab. „Wer könnte sich nicht freuen an diesen prächtigen Bildern über jene Sportart, die Körper und Charakter stählt!“, schrieb Gustav Wiederkehr, Zentralpräsident des Schweizerischen Fussballverbandes. Das wertvolle Werk wurde zwecks besserer Haltbarkeit sorgfältig in durchsichtige Klebefolie eingebunden und ziert heute noch die Bibliothek.
„Fussball 1962“ sodann war der Titel eines JUWO Sportbuches mit über 100 aktuellen Sportfotos: „schwarz/weiss und farbig in grossen und kleinen Formaten“. Doch um an diese Schätze zu kommen, mussten erst beharrlich 500 JUWO-Punkte gesammelt werden. Dabei galt es, die Mutter zu überzeugen, im Volg vor allem jene Produkte zu kaufen, welche die begehrten Punkte verhiessen: von Gerber-Käse über Roco-Ravioli bis hin zu Ovo Sport.
Waren die nötigen Punkte zusammen, hiess es sich gedulden, bis das ersehnte Päckli mit dem Buch (Fr. 4.50) und die Fotos eintrafen. Das akribische Einkleben der Bilder unter Anteilnahme der ganzen Familie war ein Ritual, dessen Reiz sich heutigen Zeitgenossen kaum mehr erschliesst, obwohl es gelegentlich, nach einem Missgeschick mit der Leimtube, nicht ohne Fluchen abging. Die Lektüre des JUWO-Buches war dann allerdings Genuss pur, so zum Beispiel Vico Rigassis Ausführungen über den Schweizer Cup.
Der Bündner Sportreporter, der uns seiner dreisprachigen Eishockey-Reportagen wegen mächtig imponierte, zitierte in „Fussball 1962“ seinen guten alten Freund Noldi Kaech, der im „Magglinger Stundenbuch“ dafür plädierte, die Austragungsweise des Cups ja nicht zu verwässern, damit Fussball, „der König aller Sportarten“, nicht an Popularität einbüsse.
„Lasst uns deshalb hoffen, dass die Systeme und Pläne eines Tages so verwickelt und kompliziert werden, dass weder Trainer noch Spieler sich damit zurechtfinden“, schrieb Noldi Kaech: „Dann vielleicht besteht die Aussicht, dass eine Mannschaft den Weg zurückfindet, den Weg zurück zum ‚Glorious Sport of Football‘ – zum Fussball unserer Väter. Wünschen wir dieser Mannschaft Glück und viele Tore.“ Tempi passati. Nur der Ball ist nach wie vor rund.