«Beautiful», «exciting», «wonderful», «fantastico», «thrilling», «incredible», oder wie sich jemand auf Deutsch ausdrückt: «genialster Zeitgeist».
So umschreiben Internet-User Dieter Ammanns Komposition, die sie auf YouTube gehört haben. Und sie haben recht. Dieses knapp zwanzig Minuten lange Stück zieht einen sofort in seinen Bann. Fremd und geheimnisvoll, rhythmisch und flirrend, ganz leise, aber auch donnernd bewegt es Herz und Seele und erzählt mit suggestiven Klängen von Dingen, die wir nicht kennen. Es ist eine Art Entdeckungsreise ins eigene Innere. Schön, aufregend, wunderbar, phantastisch, ergreifend und unglaublich. Der Titel des Stücks: «glut». Fürwahr, das passt und hat eine doppelte Bedeutung. Auf Deutsch ist Glut wärmend und feurig, im Englischen bedeutet «glut» Überfluss, aber auch Leidenschaft.
«glut» aus Zofingen
Und jetzt sitzen wir dort, wo das Stück entstanden ist, in der Dachstube eines Einfamilienhauses mitten in Zofingen. Hier hat Dieter Ammann (Bild) seinen Flügel stehen, seinen Arbeitstisch, eine Sitzecke, einen Computer, alles, was man braucht als Komponist. «Ich komponiere aber nicht auf dem Computer», wirft Ammann gleich ein. «Kommen Sie» … fordert er mich auf und geht hinüber zur Partitur seines Stücks. Dann schlägt er ein grossformatiges Notenbuch auf. Exakt und fein säuberlich sind da mit spitzem Bleistift die Klänge von «glut» ganz nüchtern in Noten und Chiffren festgehalten. Takt 138 ist es und die Seite ist eng und voll beschrieben. Eindrücklich und schön sieht es aus.
Vor rund zwei Jahren ist das Stück vom Tonhalle-Orchester mit grosser Besetzung, grossem Einsatz und ebenso grossem Erfolg uraufgeführt worden, nachdem Ammann etwa anderthalb Jahre daran gearbeitet hatte. Dies neben seiner Lehr-Tätigkeit an der Hochschule Luzern. Wie hat er die damalige Uraufführung heute in Erinnerung? «Im Falle von ‘glut’ hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl. Das merkt man als Komponist, wenn man das Orchester besucht. Das macht man ja nicht in der ersten oder zweiten Probe. Wenn der Komponist zu früh kommt, wird er nur hypernervös, weil dann noch zu viel im Argen ist. Man kommt also besser erst, wenn Dirigent und Musiker sich schon mit der Materie befasst haben … da merkt man dann schon, welche Grundstimmung herrscht. Und die war gut.»
Dieter Ammann gehört zu den Komponisten die ohne Computer arbeiten. «Ich höre also nicht, was ich schreibe. Ich habe keine ‘soundfiles’ und damit kein feedback. Ich höre es nur innerlich. Und da ich sehr langsam arbeite, höre ich dann Passagen wieder, die ich schon vor einem Jahr komponiert habe. Es ist ein spannender Moment, so etwas auf der Orchesterprobe zu hören. Der erste Eindruck hat das positive Gefühl verstärkt und die folgenden Konzerte waren dann in diesem wunderbar positiven flow, den ich von Anfang an gespürt habe.»
Komponierte räumliche Tiefe
«glut» wurde seither immer wieder gespielt. «Das gibt es in der zeitgenössischen Musik selten», sagt Ammann. «Das hat aber auch mit den Veranstaltern und mit der Förderungs-Vergabe zu tun. Bei einer Uraufführung bekommen sie Geld, die Medien kommen, das Interesse ist also gross. Und das Radio macht eine Aufzeichnung vom ersten Konzert, obwohl das zweite oder dritte meist besser wäre. Aber dieses Lechzen nach Novitäten ist auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und es führt dazu, dass es schon lange keine Repertoire-Bildung mehr gibt. Es gibt stattdessen den Durchlauferhitzer Uraufführung und dann verschwindet ein Stück – schwupp – in der Schublade.» Eine Entwicklung, die Dieter Ammann sehr beelendet. «Wenn ich, wie jetzt bei ‘glut’ für 20 Minuten Musik anderthalb Jahre Arbeit investiere und dabei mein Innerstes nach aussen kehre und mich regelrecht ausquetsche, dann möchte ich doch etwas erschaffen, das nach der Uraufführung weiterhin gehört wird.»
Dieter Ammann hat Glück in dieser Beziehung. Seine Stücke schaffen es immer öfter ins Repertoire, was umso wichtiger ist, da sein Oeuvre aufgrund seiner langsamen, gewissenhaften Arbeitsweise nicht sehr gross ist. Spannend findet er dabei immer wieder, die verschiedenen Interpretationen seiner Stücke zu vergleichen. «Jedes Orchester hat einen Grundklang. Das hat damit zu tun, ob die Bläser stark besetzt sind oder eher die Streicher, oder ob sie oft Zeitgenössisches spielen oder nicht. Ausserdem hat der Dirigent dem Notentext gegenüber ein subjektives Empfinden, das er einfliessen lässt. Es gibt ja nicht nur eine einzige Lesart des Notentextes. Was wirklich alles drinsteckt, erfährt man aber nur, wenn ein Werk mehr als einmal gespielt wird. Ich versuche, einen Klang zu erzeugen, der Vorder-, Mittel- und Hintergrund hat, also eine komponierte, räumliche Tiefe. Und wenn nun vonseiten der Interpreten etwas unterschiedlich gewichtet wird, ist es wie ein Objekt, das aus verschiedenen Blickwinkeln anders aussieht und doch das Gleiche bleibt.»
Trotzdem kann man sich natürlich fragen, wie gross der Interpretations-Freiraum für einen Musiker oder Dirigenten ist. «Ich erwarte von den Musikern – die ja meine Partner sind –, dass sie eine persönliche Lesart einbringen, aber immer im Rahmen der Angaben. Wenn ich mir zum Beispiel überlege, ob der 32stel einen Punkt haben soll oder einen Strich oder einen Strich und einen Punkt, und das tausende Male in einem Stück, dann möchte ich, dass diese Punkte und Striche auch beherzigt werden.»
«glut» war eine Auftragskomposition des Zürcher Tonhalle-Orchesters und des Berner Symphonieorchesters. Hatte er da schon zu Beginn eine Ahnung, wie das Stück klingen könnte? «Am Anfang habe ich keine Ahnung. Es ist ein Sich-Vortasten.» Er blättert in den Noten. «Hier, beim Schreiben dieses Taktes, wusste ich, wie so oft, noch nicht, wie die Musik ein paar Takte später aussehen, beziehungsweise klingen könnte. Aber diese Auseinandersetzung mit klingender Materie, dieses Nicht-Wissen-wohin, das kann einen auch fertigmachen … In ‘glut’ gibt es am Anfang einen einzigen Ton, ein G, der durch ein Farbenmeer hindurch geschickt wird und nach 17 Minuten wieder erscheint. Aber inzwischen ist musikalisch so viel passiert, dass kaum jemand merkt, dass es eine Reprise vom Anfang ist. Man nimmt es ganz neu wahr.»
tsch tsch tsch dadamm dadamm
«Klingende Materie», wie Ammann sie nennt, also Materie, die nie greifbar, wohl aber hörbar ist, diese Materie, die «Musik» genannt wird, was ist das eigentlich genau? «Musik ist für mich einfach etwas akustisch Wahrnehmbares, sei es in Form von Geräuschen, Tonhöhen oder Rhythmus, bei dem ich einen künstlerisch gestaltenden Willen spüre. Wenn man das Radio anstellt, und es rauscht, dann ist das keine Musik. Wenn es aber tsch tsch tsch, dadamm dadamm, tschtschtsch macht, wenn sich also ein Muster oder eine Gestalt herausbildet, die eine Erkennbarkeit hat, dann kann es sich durchaus um Musik handeln. Ich würde sagen: Musik ist in der Zeit organisierter Klang.»
Diese klingende Materie mit Namen «glut» legt Ammann nun in die Hände eines Dirigenten, dem es ganz sicher nicht an feuriger Leidenschaft fehlt. Auf die Zusammenarbeit mit Teodor Currentzis freut Ammann sich sehr. «Es gibt da eine vermutlich eher im Dyonysischen gründende Gemeinsamkeit», sagt Ammann. «Currentzis scheint ein Dirigent mit hoher Imaginationskraft zu sein, der das Risiko nicht scheut, der die Energielinien einer Partitur aufzuspüren und darzustellen vermag, was gerade für die künstlerische Auseinandersetzung mit meiner Musik essentiell ist. Man muss bereit sein, an die Grenzen zu gehen, wie ich es im Schaffensprozess bisweilen auch tue.»
Kein Zweifel: Mit der Philharmonia Zürich wird Teodor Currentzis im Opernhaus die Glut mit Sicherheit frisch entfachen. Und ob sich dabei jemand die Finger verbrennt, das wird sich zeigen.
Philharmonisches Konzert
Ammann, Ravel, Strawinsky
Teodor Currentzis
Opernhaus Zürich
25. Januar 2018
Wien Konzerthaus
26. Januar 2018