Deutschland kennt zwei Besonderheiten, die mittlerweile zu Bestandteilen des Nationalcharakters geworden sind: die Möglichkeit zum Rasen auf den dafür freigegeben Streckenabschnitten auf Autobahnen und der leidenschaftliche Streit um ein Tempolimit. In der Regierungskoalition sind beide Seiten dieses Nationalcharakters vertreten und stehen in einer Art von Stau.
Die Argumente der Befürworter eines Tempolimits zielen auf den ökologischen Nutzen. So gibt es Berechnungen des deutschen Bundesumweltamtes, nach dem eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen auf 120 Kilometer je Stunde die gesamten CO2-Emissionen von Personenwagen und leichten Nutzfahrzeugen um rund 2,7 Prozent senken würde. Bei einem Tempolimit von 100 Kilometern läge die Minderung bei fast sechs Prozent.
Dazu kommen Berechnungen weiterer Effekte: So wird vermutet, dass es «Wohlstandsgewinne» von bis zu 950 Millionen Euro jährlich in Deutschland geben könnte, wenn auf Autobahnen eine generelle Höchstgeschwindigkeit eingeführt würde. So würde Treibstoff gespart, es gäbe geringeren Verschleiss zum Beispiel an Reifen und weniger Unfälle.
Die Gegner eines Tempolimits sehen sich durch diese Berechnungen eher bestätigt. Denn die CO2-Einsparungen sind für sie nur ein Tropfen auf dem heissen Stein. Und da es auf Autobahnen ohnehin, verglichen mit anderen Strassen und dem innerstädtischen Verkehr, nur niedrige Unfallzahlen mit Verletzten und Toten gibt, lässt sich für sie das Unfallargument vernachlässigen.
«Autobahn tested»
Man könnte den Stand der Auseinandersetzungen als ein ziemlich langweiliges Patt ansehen, wenn nicht in neuerer Zeit zunehmend ein weiteres Argument von den Befürwortern der «freien Fahrt» ins Spiel gebracht würde: Weil Deutschland das weltweit einzige Land ohne Tempolimits auf Autobahnen ist, haben die deutschen Autohersteller den entscheidenden Trumpf beim Export in der Hand. Denn ihre Modelle lassen sich mit dem Label «Autobahn tested» im Ausland hervorragend positionieren: Deutsche Autos sind qualitativ einfach besser, weil sie locker 200 km/h und mehr wegstecken können. Fahrwerk und Bremsen zeigen unter diesen Bedingungen souverän, wozu sie fähig sind. Wie sollen Amerikaner oder Japaner mit ihren limitierten Strassenzoos und den entsprechend schwabbeligen Fahrwerken und höchst fraqwürdigen Bremsen da mithalten können? Kurz: Die «freie Fahrt» schafft Arbeitsplätze im Automobilexport, der ohne dieses Alleinstellungsmerkmal in sich so zusammenfallen würde wie das Hochgefühl, das sich nach rasanter Fahrt an der harten Realität der ersten Geschwindigkeitsbegrenzung stösst.
Dieses Argument klingt zunächst fabelhaft, ist aber besorgniserregend. Ist die deutsche Autoindustrie derartig innovationsschwach, dass sie ein ganzes Autobahnnetz mit teilweise freigegebener Geschwindigkeit als Teststrecke braucht? Könnte sie ohne diese Möglichkeiten keine wirksamen Bremsen und überzeugenden Fahrwerke bauen? Und hat sie schon mitbekommen, dass die E-Mobilität, auf die auch sie volltönend setzt, hohe Geschwindigkeiten höchstens als eng begrenzte Ausnahme zulässt, weil sich die Batterien weitaus schneller leeren, als die Freude am schnellen Fahren es wahrhaben möchte?
Man kann noch weiter überlegen: Der Verkehr der Zukunft wird mehr und mehr vernetzt sein. Autos werden zu fahrenden Computern, die sich untereinander abstimmen. In dieses Konzept passen keine «Ausreisser», die allen anderen davon donnern. Ohnehin kann man fragen, ob es sinnvoll ist, Elektroautos, wie es derzeit häufig geschieht, als Kraftprotze auszulegen, die mit ihren PS und Newtonmetern bisherige Verbrenner übertrumpfen und entsprechende Fahrwerke, Reifen und Bremsen erfordern. Sollten sie nicht eher dem Energie- und Materialsparen dienen?
Den Befürwortern der «freien Fahrt für freie Bürger» muss gesagt werden: Es gibt kein Argument für das Einsparen von Energie und von Schadstoffemissionen, das sich nicht durch Vergleiche lokal und global so weit relativieren liesse, dass es sich am Ende erübrigt. Aus dieser Sackgasse gibt es nur einen Ausweg: Umdenken. Umdenken bedeutet aber mehr – und das sei den Marketingstrategen der Automobilindustrie ins Stammbuch geschrieben – als lediglich die «Bildsprache» zu verändern und schicke Interieurs mit tollen Bildschirmen zu gestalten. Umdenken heisst, sich den ganzen Schaden, den die Mobilität verursacht, vor Augen zu führen und sie so sparsam und schonend wie möglich zu gestalten. Da helfen keine Ausreden.