Und im schlimmsten Fall umgebracht, sogar dann, wenn sich die Tabubrecher jenseits der Grenzen der tabuisierenden staatlichen oder religiösen Macht befinden. Charlie Hebdo musste es schmerzlich erfahren.
Nicht nur Diktaturen haben ihre Tabus, auch demokratische Gesellschaften wie die Schweiz. Der Unterschied besteht darin, dass die Tabuwächter nicht im Dienst der staatlichen Macht stehen, sondern im Auftrag der „öffentlichen Meinung“ über die Respektierung des tabuisierten Sperrgeländes wachen.
Erinnern Sie sich noch an das Bankgeheimnis? – Es war uns bis vor wenigen Jahren tabu, gleichsam eingemauert in den Sockel des Wilhelm Tell Denkmals in Altdorf und nicht in Frage zu stellen. Und dann, unvorbereitet für die Tabuwächter, fegte die Geschichte über Nacht das heilige Gelände weg und die Vertriebenen standen erstaunt und ratlos vor einem Scherbenhaufen.
Doch zum Glück für die Wächter der öffentlichen Meinung blieb auch nach dieser schmerzlichen Demontage noch eingezäuntes Gelände genug, darin der heiligste aller Bezirke mit dem Namen ‚Europa’. Wer sich dort hinein wagt, und sei es auch nur mit der Absicht, sich darin umzusehen, so wie man neugierig einen verwilderten Garten besucht, den lange niemand mehr betreten hat, begibt sich in höchste Gefahr. Das musste vor einer Woche Marco Curti erfahren, als er in einem Artikel („die Schweiz in der Sackgasse[dd1] “) die Frage zu stellen wagte, ob der Schweizer Franken noch eine Zukunft habe.
Wohlverstanden, es war eine Frage, nicht eine Antwort, die Aufforderung, sich im tabuisierten Gelände, in dem bis vor kurzem auch noch das Bankgeheimnis angesiedelt war, umzuschauen. Doch das war den Sittenwächtern zu viel. Auf breitester Front wurde Curti von den aufgescheuchten Verteidigern der öffentlichen Meinung in seine Schranken gewiesen und mit ihnen andere Mitgliedes des Club helvétique, welcher die Plattform für den Spaziergang durch das verminte Gelände geboten hatte. Nein, es wurde nicht scharf geschossen wie kürzlich in Paris, so weit sind wir zum Glück nicht. Die Medien haben subtilere Waffen. Aber in Einem gleichen sich die Methoden: man spielt auf den Mann, nicht auf die Sache („Exbanker mit Geschichtsstudium“) oder operiert mit diffamierenden Vergleichen („wie eine Übernahme der Reichsmark 1944“), und nimmt dabei gleich ein paar andere Gesinnungsgenossen in Sippenhaft, willkürlich ausgewählte Mitglieder des Club helvétique, die sich als Ziel öffentlicher Empörung besonders gut eignen.
Aber eigentlich geht die wahre Gefahr von Tabuzonen weniger von Tabubrechern aus, sondern von demokratischen Gesellschaften, welche die Tabus stillschweigend tolerieren. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger sich einer Art von Selbstzensur unterwerfen und diese so sehr internalisiert haben, dass sie diese gar nicht mehr wahrnehmen, wenn wir es stillschweigend akzeptieren, dass das Stellen einer Frage von den Tabuwächtern via die Medien sofort in das Geben einer Antwort umgemünzt wird, dann unterziehen wir uns Spielregeln, welche das proaktive Handeln der souveränen Schweiz in Frage stellt. Gibt es in unserem Land vor den Wahlen noch Politiker, welche das Wort ‚Europa’ positiv in den Mund zu nehmen wagen?
Nur das Fragen bringt uns weiter. Eine Frage gleichsam reflexartig auf die Person zu reduzieren, welche die Frage stellt, macht uns blind für die möglichen Antworten. Im besagten Artikel von Marco Curti hätte es einigen Stoff für eine sachliche Auseinandersetzung gegeben. Überdies. Ganz so abwegig sind Curtis Fragen offensichtlich nicht. Der Zufall wollte es, dass in der NZZ vom 2. Februar die französische Ökonomin Hélène Rey kritisch in Frage gestellt hatte, ob in der globalisierten Welt nationale Volkswirtschaften tatsächlich noch unabhängig über ihr klassisches Instrumentarium ‚eigenständige Geldpolitik’, ‚feste Wechselkurse’ und ‚freier Kapitalverkehr’ verfügen könnten.
Gerade in diesen schwierigen Zeiten hätte es die Schweiz dringendst nötig, den politischen Diskurs auf eine neue Basis zu stellen, welche das gute Argument und nicht die Tabus zur Richtschnur nimmt.
PS: Ich bin Mitglied des Club helvétique. Was mich mit meinen Kollegen verbindet, sind nicht in erster Linie die Antworten, sondern die Kultur des Infragestellens.