„Noch nie war die Ungleichheit so gross wie heute.“ So oder ähnlich urteilen nicht wenige Medienschaffende und Politiker. Bevor wir uns beeindrucken lassen, lohnt sich ein Blick zurück, in die Vergangenheit.
Reich und arm
Wir verdanken Mary Beard, der renommierten Althistorikerin (Cambridge University) faszinierende Einblicke in die legendengeprägten Zeiten vor rund 2000 Jahren. Ihre „Tausendjährige Geschichte Roms“* (8. Jahrhundert v.Chr. bis 7. Jahrhundert n.Chr.) ist ein spannender Wälzer. Akademisch versiert berichtet sie über Intrigen, politische Machtspiele, Grössenwahn reicher „Führer“ und Populisten. An dieser Stelle interessiert, was sie über das Leben von „Reich und Arm“ recherchiert hat. „Noch nie wie heute“ erfährt dabei eine erste eindrückliche Relativierung.
Arbeiten bis zum Tod
Der Beruf in der städtischen Bevölkerung war identitätsprägend. „Die meisten, die zum Überleben ein regelmässiges Einkommen brauchten, arbeiteten, wenn sie konnten, bis sie starben. Vor dem Hintergrund einer geschätzten Gesamtbevölkerung des Römischen Reiches von 50-60 Millionen umfasste die Oberschicht (wohlhabend bis reich/sehr reich) etwa 300‘000 Menschen, also ein halbes Prozent. Die römische Gesellschaft gliederte sich also in die kleine Gruppe sehr Reicher und die restliche, recht undifferenzierte Masse, die am Existenzminimum herum krebste.“ Apropos Ungleichheit.
Bittere Armut im Mittelalter
Für die gesamte Epoche des Mittelalters gilt, dass ein hoher Anteil der Bevölkerung in bitterer Armut lebte. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte weit auseinander. Niemand kannte die heutige Definition von Armut, die besagt, dass derjenige als arm gilt, dessen Einkommen unterdurchschnittlich ist. (Wenn die Caritas Schweiz mittlerweile gar von 1,1 Millionen armer oder armutsgefährdeter Menschen in der Schweiz spricht, ist das einer sachlichen Diskussion auch nicht förderlich.)
Seinerzeit litt die Mehrheit der Bevölkerung häufig unter existenziell bedrohlichen Lebensumständen, sodass Armut die Regel und nicht die Ausnahme war. Verregnete Sommer, Missernten und Krankheiten konnten schnell in den Ruin und in ausweglose Situationen führen.
Jahr ohne Sommer in der Schweiz
„1816 schneite es bis im Juni in tiefe Lagen. Im Juli regnete es an 28 Tagen, meistens von morgens bis abends“, so beschrieb Heinrich Zschokke damals das miserable Wetter. Es folgte „die grösste Theuerung“ zufolge von Missernten. Die Menschen assen teilweise Gras oder Rinde. In einzelnen Appenzeller Gemeinden starb 1816/17 jeder zehnte Einwohner.
Diese Beispiele zeigen, dass „gestern“ die Ungleichheit nicht nur viel grösser als heute war; sie konnte lebensbedrohend sein. Doch wenden wir uns jetzt der Gegenwart zu.
1950–2010
„Wir sind reicher geworden.“ Diese Ansicht untermauert der Ökonom Alexander Fink (SCHWEIZER MONAT) anhand von Statistiken, die über einen längeren Zeitraum geführt werden. So etwa verdreifachte sich das weltweite Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. „Der Wert der dahinterstehenden Güter und Dienstleistungen ist für die profitierenden Menschen sehr konkret.“ Der Anteil Menschen in absoluter Armut weltweit ist im Zeitraum 1981–2011 von 44 auf 13 Prozent gesunken. Um das positive Bild abzurunden: Wir leben länger und demokratischer. „Heute ist alles besser als früher“, wäre gemäss Fink eine zutreffende Beurteilung. Wer sich mehr für die Geschichte der Ungleichheit interessiert, dem sei ourworldindata.org empfohlen, die interessante Website zur Geschichte der menschlichen Zivilisation.
Steigende Ungleichheit in der Gegenwart?
Vor allem in China haben Globalisierung und Wirtschaftswachstum hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreit. „In den letzten zwei Jahrzehnten sind jeden Tag 130‘000 Menschen mehr der extremen Armut entkommen“, sagt der Ökonom Max Roser auf seiner oben erwähnten Homepage. Da ist die Ungleichheit offensichtlich kleiner geworden. Allerdings hat dieser erstaunliche Wandel zum Besseren gleichzeitig die Ungleichheit anderswo hochgetrieben, ein Phänomen, das vornehmlich in westlichen Demokratien teilweise für unerwartete und beunruhigende Volksentscheide gesorgt hat. Gemeint sind die USA und Grossbritannien.
Dass unsere westlichen Gesellschaften gefordert sind, haben noch zu viele Verantwortungsträger gar nicht realisiert. Dringend notwendig und überfällig sind Korrekturen unseres neoliberalen „Systems“ (siehe mein Beitrag „Das System ist krank“ vom 15. Februar 2017). Dass dieses in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer Explosion der Unterschiede zwischen höchsten und tiefsten Einkommen geführt hat, ist unbestritten.
Spaltung unserer Gesellschaft
Schon 2012 hat der renommierte, amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz auf die Gefahren der Spaltung unserer Gesellschaften aufmerksam gemacht und vor der daraus resultierende Bedrohung unserer Zukunft eindringlich gewarnt.** Insbesondere ging er der Frage nach, warum das (amerikanische) Wirtschafts- und in der Folge das politische System versagt hatten. Er diagnostizierte eine fehlgeleitete Beherrschung dieses Systems durch Finanzinteressen, in dessen Folge das Vertrauen in die Demokratie schwinden werde.
Stiglitz argumentiert weiter, dass zwar grundlegende ökonomische Kräfte im Spiel sein mögen, aber „die Politik hat den Markt so gestaltet, dass die Reichen auf Kosten der Übrigen begünstigt werden. […] Tatsächlich zahlen wir für unsere wachsende und übergrosse Ungleichheit einen hohen Preis: Neben Defiziten in punkto Wachstum und BIP haben wir es mit wachsender Instabilität, einer Schwächung der Demokratie, dem Gefühl, dass Fairness und Gerechtigkeit keine grosse Rolle mehr spielen, und sogar der Infragestellung unserer nationalen Identität zu tun.“ Zwar sprach Stiglitz von den USA, und da lesen sich diese Zeilen, nach der Trumpwahl 2016, wie eine prophetische Botschaft.
Zukunft der Einkommensungleichheit
Ein anderer Beobachter der Ungleichheits-Geschichte, Branko Milanovic (Ökonom, City University of New York Graduate Center), der über Jahrhunderte zurückgeht, um das Phänomen zu beschreiben, rät uns in seinem unaufgeregten, faktenbasierten Buch***, vor allem die Entwicklung der letzten 25 Jahre zu beachten. Auch er macht darauf aufmerksam, dass das schnelle Wachstum asiatischer Länder die globale Ungleichheit in diesem Zeitraum verringert hat.
Wie oben erwähnt, hat dagegen die westliche Mittelklasse, wie wir sie in den USA und Europa definieren, in dieser Zeit keine Verbesserung erlebt. Ihr Realeinkommen stagniert und auch er erklärt, weshalb deswegen hier der Unmut der Bevölkerung immer grösser wird.
Eine andere Gesellschaft
Zurück zu Stiglitz. Er moniert, dass eine Wirtschaftsreform, die den Namen verdient, gleichzeitig die ökonomische Effizienz, die Fairness und die Chancengerechtigkeit verbessern müssten. Ausdrücklich fordert er Reformschritte, um das „pervertierte“ Wirtschaftssystem zu zügeln. Gemeint ist mit anderen Worten, den „Finanzsektor zu zügeln“.
Da ist Stiglitz sehr deutlich: Monopole und unvollkommene Wettbewerbsmärkte (Grosskonzerne, Banken etc.) sind prägend für stark überhöhte Einkommen in der Kategorie der obersten ein Prozent der Erwerbstätigen. Dazu passt die Meldung im TA, dass Rex Tillerson, Ex-Chef von Exxon, nach seiner Berufung in die Trump-Regierung einen goldenen Fallschirm in der Höhe von 180 Millionen Dollar und Ex-Goldman-Sachs-Präsident Gary Cohn steuerbegünstigte 285 Millionen Dollar kassierten.
Eine verbesserte Corporate Governance ist dringend notwendig, damit das Abzweigen von Gewinnen in die eigenen Taschen unterbunden wird. Schluss auch mit Steuergeschenken an Unternehmen (Gewinnverlagerung) und an deren Stelle höhere Einkommens- und Vermögenssteuern (Abbau von Schlupflöchern).
Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist notwendig. „Wir haben Spielregeln geschaffen, die die Verhandlungsposition der Arbeiter gegenüber dem Kapital schwächen. Stiglitz fordert ein „nachhaltiges, verteilungsgerechtes Wachstum“ auf der Basis öffentlicher Investitionen. Diese Vorschläge sind in erster Linie für die USA gedacht, hierzulande (wie in meinem letzten Beitrag erwähnt) lautet diese Art Wachstum neuerdings „inklusives Wachstum“.
Die Politik ist gefordert
Die ökonomischen Zusammenhänge sind klar. Nun lautet die Frage: Wie steht es mit der Politik? Die oben skizzierte Agenda verlangt nach „grundlegenden politischen Reformen, denn wir sind alle Nutzniesser einer gut funktionierenden Demokratie und Gesellschaft“.
Momentan haben in unserem Land jene Kräfte Oberhand, die sich eine ganz andere Agenda zusammendenken. Steuersenkungen und Sparprogramme stehen ganz oben, ja oft herrscht der Eindruck, als würde diesen Kreisen etwas gar zu wohl damit. Doch was in den USA und in Grossbritannien als Resultate der Wahlen und Abstimmungen in letzter Zeit fast alle überraschte, ist ein Warnschuss. „Das Volk“, vereinnahmt durch wortgewaltige Führerfiguren, kann schon morgen die Gefolgschaft verweigern (Abstimmung 12. Februar 2017 zur Unternehmenssteuerreform III).
Ehrliche Debatten sind notwendig. Jugendorganisationen melden sich erfolgreich zu Wort. Es geht hier nicht mehr um Linke gegen Rechte, dieser verstaubten Definition des politischen Spektrums. Es geht um unsere Zukunft in einer globalisierten Welt. „Noch nie“ als medialer Attentiongetter ist dabei ungeeignet. „Mehr denn je“ braucht es jetzt eine aktive Gesellschaft. Das Schweigen der Öffentlichkeit muss ein Ende haben.
Ähnlicher Artikel
„Das System ist krank“, 15. Februar 2017
Christoph Zollinger
*Mary Beard: „SPQR – Die tausendjährige Geschichte Roms“ (2016)
Kapitel 11: Besitzende und Besitzlose
**Joseph Stiglitz: „Der Preis der Ungleichheit“ (2012)
***Branko Milanovic: „Global Inequality“ (2016)