Dieser Tage wieder den „Doktor Schiwago“ gelesen. Es ist der einzige Roman des russischen Schriftstellers Boris Pasternak. Er handelt von den Jahren der bolschewistischen Revolution und des Bürgerkrieges. Pasternak wurde dafür 1958 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen, doch er musste die Auszeichnung unter dem Druck eines üblen Kesseltreibens des damaligen Sowjetregimes unter Chruschtschow ablehnen.
In einer Passage sinniert der Titelheld Juri Schiwago über den inflationären Gebrauch des Begriffs „Volk“ durch Potentaten und Politiker. „Denn es ist doch nur Theater, nicht wahr“, sagt Schiwago zu seinem Freund Mischa Gordon. „Ich kann noch verstehen, was das Wort ‚Volk’ unter Cäsar bedeutete – man konnte von Galiern, Sueven und Illyriern reden. Aber seit jener Zeit ist es doch nur noch eine Konstruktion, die Kaisern, Königen und Politikern dazu dient, in ihren Reden ‚das Volk, mein Volk’ zu sagen....Daraus entsteht so etwas wie...ein Ausdruck linguistischer Manie, eine sprachliche Diarrhöe.“
Schiwago stellt diese sprachkritische Überlegung mitten im Ersten Weltkrieg an, vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als junger Arzt an der russisch-deutschen Front. Er konnte ja nicht ahnen, dass die folgende Generation von Machthabern in Europa den demagogischen Missbrauch des Volks-Begriffs noch viel skrupelloser vorantreiben sollten. Lenin, Stalin, Hitler, Mussolini – sie alle waren Grossmeister einer Propaganda, die das „Volk“ apodiktisch als angeblich geschlossenes Kollektiv mit angeblich einhelliger politischer Meinung instrumentalisierte.
Die Herrschaft dieser blutigen Despoten liegt gottseidank schon ziemlich weit zurück. Doch das Übel der missbäuchlichen Vereinnahmung des „Volkes“ wird in der politischen Arena munter weiter praktiziert. Ohne mit der Wimper zu zucken behaupten Politiker von links bis rechts und von Washington bis Peking bei ihren öffentlichen Auftritten, im Namen des „Volkes“ zu reden und genau zu wissen, was dieses „Volk“ will.
In der Schweiz operiert besonders penetrant die SVP mit dieser missbräuchlichen „Volks“-Rhetorik. Ihr Slogan „Schweizer wählen SVP“ ist ein Paradebeispiel arroganter und gleichzeitig zutiefst undemokratischer Volks-Vereinnahmung. Ähnlich wie in der ehemaligen DDR vor gut zwei Jahrzehnten sollten alle, die diesen ideologischen SVP-Anspruch nicht akzeptieren, dagegen mit dem Motto „Wir sind das Volk“ protestieren. Man muss dafür ja nicht gleich auf der Strasse demonstrieren – sondern kann im Herbst bequem mit dem Stimmzettel ein entsprechendes Zeichen setzen.
R. M.
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