In den Vereinigten Staaten sind 2013 insgesamt 33‘169 Menschen durch Schusswaffen getötet worden. Soweit die jüngsten Zahlen der zuständigen Bundesbehörde. Das sind nur unwesentlich weniger Personen, als jedes Jahr auf den Strassen und Highways der Nation sterben. Prognosen zufolge dürfte 2015 die Zahl Schusswaffentoter erstmals jene der Strassenopfer überstiegen haben.
Im Präsidentschaftswahlkampf, zumindest auf republikanischer Seite, sind Schusswaffen kein Thema. Zu stark und zu politisch einflussreich ist die Waffenlobby (NRA) des Landes, als dass Politiker es wagen würden, das heisse Eisen einer verschärften Kontrolle anzufassen - trotz wiederholter Massaker und mehrerer Aufrufe des Präsidenten zu griffigen Gegenmassnahmen.
Immerhin ist jüngst in Amerika der im Vergleich zu anderen Ländern häufige Schusswaffengebrauch durch die Polizei in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Das Muster: Weisse Gesetzeshüter töten junge, oft unbewaffnete Schwarze – und kommen vor Gericht in den meisten Fällen unbehelligt davon. Was wiederum die schwarze Bevölkerung empört und zu Unruhen führt, die allenfalls mit Gewalt niederzuschlagen erneut Sache der Polizei ist.
Zur Besänftigung zorniger Gemüter trägt nur wenig bei, was sich ein junger Polizist in Chicago leistet. Der Beamte, der im Dezember im Rahmen eines Einsatzes gegen häusliche Gewalt einen 19-jährigen Schwarzen sowie eine unbeteiligte 55-jährige Nachbarin erschossen erschoss, hat gegen die Familie des Teenagers eine 10-Millionen-Dollar-Klage aufgrund eines „extremen seelischen Traumas“ eingereicht.
Officer Robert Rialmo argumentiert, der 19-Jährige, der einen Baseballschläger bei sich trug, habe ihn geradezu zum Schiessen gezwungen. Der Teenager wurde von sechs Kugeln getroffen, von denen eine seinen Körper durchschlug und die Frau hinter ihm tötete. Wobei es, wie häufig in solchen Fällen, auch hier widersprechende Versionen des Tathergangs gibt. Gemäss einem Anwalt der beiden Opfer stand der Polizist, als er schoss, mindestens sieben bis zehn Meter von seinem Gegenüber entfernt: „Wieso sollte ein Junge, der dreimal die Polizei telefonisch um Hilfe gebeten hat, einen ausrückenden Beamten mit einem Baseballschläger attackieren?“
Noch wollen sich die Stadt Chicago und deren Bürgermeister nicht zu Rialmos Klage äussern. Der Vorfall wird untersucht und auf Bitten der Ermittlungsbehörde soll sich auch die US-Bundespolizei (FBI) eingeschalten. Auf jeden Fall ist der Vorgang ein weiterer Beweis dafür, was für absurde Folgen, auf Seiten der Polizei wie der Bürger, Amerikas liberale Haltung gegenüber Schusswaffen haben kann.
So absurd wie der Fall jenes 11-jährigen Jungen in White Pine (Tennessee), der am 3. Oktober 2015 im elterlichen Wohnwagen ein 8-jähriges Mädchen mit einem Gewehr erschoss und den ein Gericht nun wegen Mordes zu Verwahrung bis zum 19. Lebensjahr verurteilt hat. „Wir erinnern uns an ihr Lächeln und ihr hübsches Gesicht“, sagt der Rektor der Primarschule, die McKayla Dyer vor ihrem Tod besuchte: „Normalität sieht anders aus.“ Wie wahr!