Die Designer sind clevere, emisge Laborarbeiter, Mitte Dreissig, eher auf der unteren Stufen der Technoriesen stehend, aber gerade hier entscheidend mitbeteiligt an den kleinen schrittweisen Verbesserungen – den „Tweaks“ – der Geräte. Man nennt sie deshalb auch „Tweaker“.
Justin Rosenstein zum Beispiel, Miterfinder des allgegenwärtigen Like-Buttons von Facebook, spricht von diesem jetzt als von einem „leuchtenden Dings des Pseudovergnügens“, das ebenso verführerisch wie hohl sei. Rosenstein vergleicht Snapchat mit Heroin; er hat seinen Laptop so präpariert, dass er den Anbieter Reddit blockiert; und er liess in sein neues iPhone eine App einbauen, die das Herunterladen von Apps verhindert.
Wir Technokentauren
Sich mit Technik vor der Technik schützen? „Welch ein Selbstwiderspruch!“ wird man sich sagen. Dennoch, die Paradoxie gehört zum Leben in Technotopen. Das heisst, wir leben in einer Art von Symbiose mit Geräten, die sich nicht aufkündigen lässt. Wir sind quasi Technokentauren, biologische Wesen, verwachsen mit Artefakten. Und dies auch immer mehr verhaltensmässig, psychisch, intellektuell. Unsere Gewohnheiten werden tief geprägt vom Umgang mit smarten Objekten, wir denken und handeln wie Computer, unser Alltag ist getaktet nach den Rhythmen all der Apps. Anvisiert wird die Abrichtung des Menschen zum willfährigen User, zum vollumfänglich allzeit zerstreuten, süchtigen Snapchat-, Netflix- oder LinkedIn-Konsumenten.
Persuasive Technologie
Technik hat immer schon bestimmte Adaptionen und Gewohnheiten zur Folge gehabt. Neu ist die Inversion: In die technischen Produkte von heute sind Gewohnheiten und Bedürfnisse weitenteils absichtlich implementiert. Verhaltenspsychologie – „Verhaltensdesign“ – spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie Hardware und Software: Psychoware sozusagen. Persuasive Technologie nennt sich die Disziplin. Der einflussreiche Oberzauberer B. J. Fogg in Stanford (gemäss Magazin „Fortune“ einer der „zehn neuen Gurus, die man kennen sollte“) hat dafür die Bezeichnung „Captology“ geprägt (ein Akronym für „Computer as Persuasive Technology“), in der natürlich das „capture“ – das „Einfangen“ – durchaus mitschwingt.
Überstimulation durch Geräte
Ein anderer Zauberlehrling, Tristan Harris, Produktmanager bei Google, wollte seine Kollegen auf einen nichtintendierten Effekt der neuen Geräte aufmerksam machen und liess 2013 ein internes Memo zirkulieren mit dem Titel „Ein Appell zur Verminderung von Zerstreuung und zum Respekt vor der Aufmerksamkeit der Nutzer“. Die Begriffe „Zerstreuung“ und „Aufmerksamkeit“ nehmen in der Psychopathologie des elektronischen Alltagslebens eine Schlüsselstelle ein. Der Befund: Überstimulation durch Geräte.
Aufmerksamkeit ist eines der raren und deshalb gnadenlos unkämpften Güter der Werbeindustrie. Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Gadgets kann kaum überschätzt werden. Gadgets wie Smartphone oder Smartwatch sind dazu konzipiert, unsere Aufmerksamkeit einzufangen. Und sie tun das am effizientesten, wenn sie unsere Aufmerksamkeit aufsplittern. Apple Watch: Bzzz, du hast dein Bewegungssoll erfüllt! Bzzz, Stau auf der A3! Bzz, eine wichtige SMS! Bzzz, die Schweiz hat gegen Portugal verloren!
Continuous Partial Attention
Man spricht heute von der „Continuous Partial Attention“ (CPA), also der andauernden Teilaufmerksamkeit. Die Motivation hinter CPA ist nicht wie beim Multitasking, möglichst alles auf einmal zu verrichten, sondern der Wunsch, möglichst an allem beteiligt zu sein. Das ist ein Phänomen, das durch die Vernetztheit ungeheuer verstärkt wird. Weil man als Netzknoten mit so vielen anderen Knoten verbunden ist, möchte man auch viele Links permanent nutzen. Und so rutscht man in die andauernde Teilaufmerksamkeit hinein. Eine künstliche Alarmiertheit wird herangezüchtet, nicht rechtzeitig irgendwo zu sein, etwas Wichtiges verpasst zu haben, nicht beachtet zu werden. Man kennt den Typus, der einem beim Gespräch ständig über die Schulter schielt. Zwanghafte Aufmerksamkeitsverzettler.
Hat Google Harris’ Appell übrigens ernstgenommen? In gewisser Hinsicht schon. Er wurde in die Position eines Hausethikers gehievt, in eine marginale Rolle, wie Harris bemerkt: „Ich hatte überhaupt keine soziale Unterstützung. Ich sass da in einer Ecke und dachte und las und verstand.“ Frustriert verliess er Google 2015 und gründete die Agentur „Time Well Spent“.
iPhone: Designter Missbrauch
Jony Ive, Chefdesigner des iPhones, gab kürzlich in einem Inteview auf die Frage „Was ist Missbrauch eines iPhones“ die erstaunliche Antwort „Andauernder Gebrauch“. Das hört sich an wie ein zynischer Kommentar zur Werbung für das neue iPhone X: „Es war immer unsere Vision, ein iPhone zu schaffen, das nur Bildschirm ist. Ein Gerät, so immersiv, dass es in der Erfahrung verschwindet. So intelligent, dass es auf eine Berührung, deine Stimme, sogar auf einen Streifblick antwortet. Mit dem iPhone X ist diese Vision Wirklichkeit geworden.“ Ein Gerät, das in unsere Erfahrung einsinkt, ist definitionsgemäss konzipiert für andauernden Gebrauch, also für Missbrauch. Ergo ist der Missbrauch Wirklichkeit geworden. Da windet sich auch ein Tim Cook mit seinem Geschwurbel nicht heraus: „Wir wollen unseren Produkten Menschlichkeit einflössen (...) Die (Smartwatch) erlaubt dir ein Niveau der betreuten Vernetztheit, ohne dass du absorbiert wirst.“
Glücksmaschinen
Die Funktion „Pull to Refresh“ wurde entworfen, um auf dem Touchscreen zu scrollen. Mittlerweile ist sie zum populärsten, aber auch am süchtigsten machenden Bestandteil des Designs geworden. Natürlich wollte ihr Entwerfer Loren Brichter nicht einen Suchtmechanismus entwickeln. Aber ein nichtindentierter Effekt manifestiert sich auch hier. In jeder Sucht steckt die Suche nach Glück. Glück beruht zu einem wesentlichen Teil auf Zufall. Glücksmaschinen sind Zufallsmaschinen. Deshalb kann Brichter dem Vergleich mit dem Spielautomaten durchaus zustimmen: „Wenn du über das Display streichst, erinnert das an den einarmigen Banditen. Du weisst nicht, was als nächstes kommt. Manchmal ist es ein schönes Photo, manchmal ist es Werbung.“
Obwohl die Pull-to-Refresh-Funktion längst automatisiert werden kann, erfreut sich die manuelle Betätigung anhaltender Beliebtheit. Sie scheint ein psychisches Bedürfnis zu befriedigen. So wie der einarmige Bandit manuell bedient werden will, damit man das Glück sozusagen von Hand erzwingt, so könnte auch das Über-den-Touchscreen-Wischen das Gefühl bestärken, das Zufallsglück in der Hand zu haben. Ich sehe darin übrigens ein Symptom dafür, dass das Gerät quasi zu einem Teil der Anatomie geworden ist: Das Über-den-Touchscreen-Wischen wird zum instinktiven Reflex wie das Kratzen, wenn es juckt.
Das Zeitalter des Technoanimismus
James Wiliams, Ex-Geschäftsstratege bei Google, beschreibt die Industrie als die „umfassendste, normierteste und zentralisierteste Form der Verhaltenskontrolle in der Geschichte der Menschheit“. Williams hat Google verlassen und studiert nun an der Oxford University die Ethik der persuasiven Technologie. Er erinnert sich, so etwas wie eine Epiphanie erlebt zu haben, als er eines gewöhnlichen Arbeitstages auf das vielfarbig blinkende Display einer Armaturtafel blickte und sich plötzlich bewusst wurde, welches Ausmass an Aufmerksamkeit Technounternehmen für die Werbung beschlagnahmen: „Ich realisierte: Das ist buchstäblich eine Million Menschen, die wir sozusagen anstupsen und überreden, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden.“
Ist es eine Koinzidenz, dass der Wirtschaftsnobelpreis 2017 ausgerechnet für das Studium dieses Anstupsens verliehen wird? Wir tun gut daran, dies als Zeichen der Zeit zu lesen. Wie nie zuvor leben wir in einer Atmosphäre des Zaubers von Artefakten: des Technoanimismus. Er unterminiert unsere Entscheidungsfähigkeit. Er beeinflusst uns aus dem Unbewussten eines unreflektierten Technikgebrauchs heraus, und je entfesselter dieser Gebrauch, desto gefesselter sind wir an ihn. Zeit, dass auch wir aufwachen.
[1] Inspiriert zu diesem Text hat mich der Artikel von Paul Lewis im Guardian: Our minds can be hijacked: the tech insiders who fear a smartphone dystopia (6/10/2017). https://www.theguardian.com/technology/2017/oct/05/smartphone-addiction-silicon-valley-dystopia