Seit Jahren adressieren besorgte, legitimierte Politiker, Medienschaffende, Autoren und Bürgerinnen und Bürger ihre Kritik, Vorschläge und Visionen an die EU-Zentrale in Brüssel. To be or not to be that is the question, sagten die Briten und gaben die Antwort gleich selbst: Not to be! Warum kapieren die EU-Spitzen das nicht? Warum konzentrieren sie sich jetzt auf Brexit-Abwehrstrategien, statt endlich konzeptionelle, überlebensnotwendige Reformen aufzugleisen?
Eine flexible EU
Der Economist, erklärter Gegner des Brexit, widmete im März 2017 dem kranken Patienten EU seinen vierzehnseitigen Special Report. „If it is to survive, the European Union must become a lot more flexible“, sein Rat und man hört buchstäblich die Ungeduld hinter diesen Worten. „Will die EU überleben, muss sie gewaltig flexibler werden.“ In Erinnerung an den 25. März 1957, als noch der Schatten des Zweiten Weltkrieges über den sechs Gründermitgliedern schwebte, stellt die berühmteste Wochenzeitung der Welt (liberale Prägung und globale Berichterstattung) nüchtern fest: „Sie (die EU-Spitzen) wissen, dass ihr Projekt in grossen Schwierigkeiten ist.“ Die europäischen Leader haben am 25. März 2017 in Rom eben den 60. Geburtstag der EU gefeiert. Wissen diese Leader es tatsächlich?
Brexit als Alarmzeichen
Der Brexit als letzte überdeutliche Krisenwarnung ist ein dramatisches Zeichen für alle, die das sehen wollen. Weiter wie bisher ist keine Option mehr. Ein Mitglied aus dem EU-Club zu verlieren, ist ein Alarmzeichen, das den Auflösungsprozess ankündigt. Den zweitwichtigsten Nettozahler zu verlieren, geht an die Substanz. Was ist gemeint? Sehen wir uns dazu die Jahres-Bilanz (2015) der grössten Nettozahlenden und Nettoempfangenden des EU-Haushalts an:
Nettozahlende
Deutschland 14,3 Mia. €
Grossbritannien 5,7 Mia. €
Frankreich 5,5 Mia. €
Niederlande 3,7 Mia. €
Italien 2,6 Mia. €
Das heisst, diese Länder bezahlten 2015 so viel mehr in die gemeinsame Kasse ein, als sie zurück erhielten. Mit dem Brexit lösen sich also jährlich 5,7 Mia. € in Luft auf.
Dem stehen folgende grösste Nettoempfangende gegenüber:
Polen 9,5 Mia. €
Tschech. Republik 5,7 Mia. €
Rumänien 5,2 Mia. €
Griechenland 4,9 Mia. €
Ungarn 4,6 Mia. €
Mit anderen Worten, diese fünf Länder profitieren am meisten vom EU-Haushalt. Wenn man sich vor Augen hält, wie sich ihre Präsidenten und Regierungen bezüglich der gemeinsamen Regeln aufführen (teilweise missachten sie diese kaltschnäuzig, trotz angedrohter Bussen), ist viel über den aktuellen Zustand der EU gesagt. Jene halten am Morgen in Brüssel die hohle Hand hin für die willkommenen EU-Strukturgelder, um am Abend die von ihnen unterzeichneten Spielregeln in arroganter Weise zu ignorieren. Über das arme Griechenland brauchen wir nicht zu reden, dessen Situation ist allen bekannt.
Gegen das schleichende Gift dieser östlichen Nationalisten helfen keine Bussenandrohungen. Was hält die Verantwortlichen in Brüssel davor zurück, den Geldabfluss in diese Region zu stoppen, solange sich diese nicht an die Spielregeln halten?
Mit dem Brexit drohen also Mehrbelastungen für die Nettozahlerländer; dass deren Bevölkerung das kommentarlos schlucken wird, ist kaum anzunehmen. Würde der durch den Brexit verursachte Ausfall nicht kompensiert, sähen gerade die grössten Nettoempfangenden ihre Felle davon schwimmen. Da Geld bekanntlich die Welt (und die EU) regiert, sind grosse Verwerfungen absehbar.
Wie weiter?
Gewisse Kreise innerhalb der EU-Spitze drängen darauf, als Antwort auf die Brexit-Sache das Projekt einer noch stärkeren Integration zu pushen. Doch diese Variante ist wohl, angesichts der unüberhörbaren Rufe nach mehr nationaler Souveränität, chancenlos und sollte irgendwann abgeschrieben werden. Damit bleibt die schon oft angewandte Taktik des „Abwartens und Teetrinkens“, um sich irgendwie durchzumogeln. Bisher schien das oft vordergründig zu funktionieren, doch ob sich Eurokrisen, Flüchtlingsdilemma, die Gewitterzelle Trump, Putin und Erdogan als Drahtzieher und Einflüsterer hinter den Kulissen, weiterhin auf diese Weise aussitzen lassen werden, ist doch mehr als fraglich.
Ob ausgerechnet der kürzlich von der EU-Kommission lancierte Vorschlag einer gemeinsamen Kriegskasse die Mitgliedstaaten zu einer stärkeren Zusammenarbeit bewegen wird, bleibt mehr als fraglich. „Mehr desselben“, das wissen wir doch, war noch nie eine gute Idee.
Und auch der neueste Vorstoss der EU-Kommission, die Schaffung eines gemeinsamen Schuldenpapiers, ist eine Totgeburt. Die beabsichtigte stärkere Integration der Eurozone (der gemeinsame Euro: der grösste Flop der EU) auf diese Weise erzwingen zu wollen läuft der Idee grösserer Flexibilität diametral entgegen.
Es steht aktuell viel auf dem Spiel für die EU. Das Projekt der Nachkriegssicherheit für Europa, das den Gründervätern so wichtig war, kommt ausgerechnet jetzt, da die Sicherheit der Gesellschaft immer öfter durch Terroranschläge gefährdet scheint, unter Druck. Viele haben überhaupt vergessen, warum es die EU gibt.
Ein Europa der Zukunft
Das Autorenmagazin „Schweizer Monat“ analysiert die verschiedenen Entwicklungsstrategien, die von der Europäischen Kommission nach dem „ungeplant eingelegten Rückwärtsgang“ (Brexit) zur Beurteilung vorgeschlagen werden. Es resultiert aus diesen Überlegungen, dass – anstelle der „immer engeren Union“ – die Idee eines „Europas der Clubs“ keine Träumerei mehr ist, sondern die logische Konsequenz, wenn man den vielen unterschiedlichen Ansprüchen an die EU gerecht werden will. Die zentrale Frage wäre dann nicht mehr „Wie viel Europa?“, sondern „Wie viele Europas?“
Michael Wohlgemuth plädiert in seiner über dreissigseitigen Standortanalyse schliesslich für eine „Clubunion“. Dieses Modell, das er selbst als radikal, visionär und politisch naiv bezeichnet, sieht die EU als Hüter eines „Kern-Acquis“, gleichzeitig als Makler, Monitor, Schiedsrichter und Schlichter innerhalb der variablen Struktur eines offenen, freiwilligen, sich auch konkurrierenden Integrationsclubs.
Ohne an dieser Stelle im Detail auf diese Ideen näher einzugehen – sie sind lesenswert und konstruktiv. Aus „politisch naiven“ Versionen entstehen mit der Zeit jene Lösungen, die den Gedankensprung in die Zukunft wagen und die Trümmerreste eines überholten Konzepts mutig wegräumen.
Auch George Soros, in seinem Keynote Speech am 1. Juni 2017 (Brussels Economic Forum), denkt sehr ähnlich und plädierte eindrücklich für ein „mutli-track-Europe“, das seinen Mitgliedstaaten grössere Auswahlmöglichkeiten liesse anstelle der Idee eines Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten.
Reformbedarf der EU
Es lässt sich zweifelsfrei feststellen, dass die EU-Institutionen, entstanden in den letzten 60 Jahren, nicht mehr in der Lage sind, flexibel auf Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren. So weist die EU-Kommission (Chef: Jean-Claude Juncker) mit 28 Kommissären schlicht zu viele Mitglieder auf, um effizient zu wirken. Die Konsequenz ist, dass sie de facto von den Herren Juncker und Selmayr gesteuert wird, sich aber gleichzeitig vom EU-Parlament viel zu stark vereinnahmen lässt. Zudem existieren zu viele Unter-Kommissionen, nicht wenige davon von fragwürdigem Wert. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass bei wichtigen Entscheidungen so oder so die nationalen Regierungen die harten Verhandlungen in ihren Ländern führen müssen.
So kommt der Economist zum Schluss, dass die EU also dringend grössere Differenzierungen innerhalb ihres Kreises zulassen muss, wenn sie nicht eine potenzielle Desintegration riskieren will. Möglich erscheint die Idee variabler Geometrie (nicht zu verwechseln mit variablen Geschwindigkeiten) um ein Zentrum mit weniger Mitgliedstaaten, aber alle der Euro-Zone zugehörend. Darum herum kämen jene Länder, die nicht der Euro-Zone zugehörig sein wollen. Ein dritter Ring käme jenen Ländern zu, die nicht in die EU wollen, jedoch möglichst am Gemeinsamen Markt teilnehmen und auch mitbezahlen würden.
Das latente Demokratieproblem der EU lässt sich nicht mit immer neuen (alten) Reformvorschlägen auf dem Papier lösen. Die nationalen Parlamente wollen mehr Spielraum – ist das so schwer verständlich? Längst haben sich zudem die EZB (Europäische Zentralbank) und der Europäische Gerichtshof als wichtigste Institutionen etabliert – auch das ein nicht eingeplantes Resultat falsch gesetzter Prioriäten.
Äsops Fabel zur Erinnerung
Der Begründer der europäischen Fabeldichtung, Äsop, der griechische Dichter, der vor rund 2500 Jahren lebte, schrieb Dutzende wunderbarer Fabelgeschichten. Eine davon, „Das Schilfrohr und der Ölbaum“ lautet sinngemäss:
„Über Stärke, Festigkeit und Ruhe stritten sich ein Schilfrohr und ein Ölbaum. Das Rohr, welches vom Ölbaum getadelt ward, dass es aller Stärke entbehre und leicht von allen Winden hin und her bewegt werde, schwieg und sagte kein Wort. Nach einer kleinen Weile erhob sich ein heftiger Sturm; das hin und her geschüttelte Rohr hatte den Windstössen nachgegeben und blieb unbeschädigt, der Ölbaum dagegen, welcher sich den Winden entgegengestemmt hatte, wurde durch deren Gewalt gebrochen.“
Zwar machen einige zaghafte Reformvorschläge die Runde, doch es stellt sich die Frage, ob diese nicht zu „brüsselfixiert“, formal und bürokratisch, dafür zu wenig radikal und visionär ausgefallen sind. Zudem liegen sie jetzt auf dem Tisch, während sich alle Aufmerksamkeit dem Brexit zuwendet. To be or not to be that is the question – nochmals: diesmal gilt es ernst.