Carlo Jagmetti stand 35 Jahre im diplomatischen Dienst der Schweiz. Von 1993–1997 war er Botschafter in den USA.
Es geht darum, unsere Nachkommen zu motivieren, sich mit den gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen auseinanderzusetzen, die eben gerade für sie selbst von vitaler Bedeutung sein werden. Man braucht nicht gerade so pessimistisch zu sein wie der amerikanische Philosoph Robert Pogue Harrison, der in der NZZ vom 5. August 2016 unter anderem von einer Infantilisierung der Gesellschaft sprach.
Ferner sagte er im gleichen Interview:
"Zum ersten Mal in der Geschichte kann unsere Gesellschaft ohne ein fundamentales Verständnis kultureller und historischer Zusammenhänge funktionieren. Das können Sie selbst in der Politik beobachten. Viele unserer Repräsentanten haben ein grundsätzliches Wissen darüber, wie unser politisches System funktioniert und worauf es beruht, nicht mehr parat. Eine Infantilisierung in der Politik ist eingetreten."
Viele Leser des Interviews dürften den Ausführungen Harrisons skeptisch begegnen. Der Amerikaner sollte aber, gerade wenn wir den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft und der Politik in der Schweiz im Auge haben, sehr ernst genommen werden.
Wir alle kennen den Slogan "too big to fail". Gibt es eine Art Gegenstück dazu etwa im Sinne von "too small to survive". Wäre dies eine Situation, in der sich die Schweiz in der Zukunft befinden könnte? Gehört die Zukunft nur den Grossen, und sollen die Kleinen gefälligst deren Anordnungen folgen oder eben untergehen?
Methode Swissair oder Methode UBS?
Beginnen wir zunächst mit einem Reminder zu "too big to fail". Es begann mit dem möglichen Untergang von Grossunternehmen, insbesondere Grossbanken wegen ihrer bedeutenden Rolle für die Gesamtwirtschaft eines Landes. Dass ein Grosser tatsächlich untergehen konnte, zeigt die Geschichte von Lehman Brothers. Als die beiden schweizerischen Grossbanken bei der Finanzkrise in Schwierigkeiten gerieten, rettete die eine sich selbst. Die andere wäre ohne die Unterstützung des Bundes möglicherweise untergegangen.
Als seinerzeit die Swissair mit dem Grounding konfrontiert war, leistete der Bund dem schweizerischen Bannerträger in der weiten Welt keinerlei Hilfe und liess das für die schweizerische Volkswirtschaft bedeutende Unternehmen einfach kaputtgehen. Eine Soforthilfe in der Höhe eines einstelligen Milliardenbetrages hätte zur Rettung genügen können. "Wir haben dafür keine Rechtsgrundlage", hiess es in Bern. Irgendwelche ordnungspolitischen Überlegungen spielten aber im Falle der Grossbank keine Rolle mehr, auch wenn es sich bei der Hilfe um einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag handelte – da galt eben: too big to fail. Die Fälle werden also sehr verschieden behandelt. Regeln gibt es dabei nicht. Die Frage bleibt durchaus offen, ob bei künftigen Schwierigkeiten eines Grossunternehmens die Methode Swissair oder die Methode UBS befolgt würde. Kein Unternehmen kann sich diesbezüglich in Sicherheit wiegen.
Wachsende Zweifel an der EU-Konstruktion
Wenn wir das "too big to fail" auf die Politik übertragen, so stellt sich heute angesichts der internen Probleme, der Unzufriedenheit der Bürger, der internationalen Herausforderungen, der Flüchtlingsströme, des Verhältnisses zur Türkei mit der gegenwärtigen beängstigenden Entwicklung und jetzt auch noch des Brexits die Frage, ob die Existenz der EU gefährdet sein könnte oder ob eben gerade das "too big to fail" gilt. Der europäische Einigungsprozess der Nachkriegszeit ist ganz sicher positiv zu bewerten, vor allem dank der friedenserhaltenden Funktion. Auch die wirtschaftliche Einigung bis zur Bildung des Binnenmarktes ist ein Erfolg.
Als aber der Wandel der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union erfolgte, geriet das Gebilde in eine weniger realitätsgerechte Phase. Der westdeutsche Bundeskanzler Kohl wollte nach dem Zerfall der Sowjetunion die Wiedervereinigung der beiden Deutschland möglichst rasch herbeiführen. Frankreichs Präsident Mitterrand war dagegen, weil ein wiedervereinigtes Deutschland grösser und stärker als Frankreich würde. Er reiste denn auch noch zu Erich Honecker nach Ostberlin, um seinen Widerwillen gegen eine deutsche Wiedervereinigung zu unterstreichen. Da Mitterrand aber eine politische Union und eine Währungsunion zu schaffen wünschte, der Deutschland nicht gewogen war, kam es zum Deal "deutsche Wiedervereinigung gegen politische und Währungsunion". Dafür wurde der Vertrag von Maastricht geschaffen, dem weitere ergänzende Abkommen folgten, bis der französische Ex-Prädident Giscard d'Estaing die Idee einer europäischen Verfassung vorantrieb. Dieses Grossprojekt wurde aber in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt und scheiterte damit. Mit ganz wenigen Änderungen wurde bald darauf der gleiche Text als Abkommen von Lissabon genehmigt, wohlverstanden ohne irgendwo das Volk zu befragen. Damit gelang es der Politik, ihren Willen durchzusetzen. Viele EU-Bürger fühlten sich betrogen. Seither sind in den Volksmeinungen die Zweifel an der EU-Konstruktion und der Unwille gegenüber der Kommission und dem Rat der Union sowie auch gegnüber der gigantischen Brüsseler Bürokratie gewachsen. Die Ukraine-Abstimmung in den Niederlanden war ein deutlicher Ausdruck dieses Unmutes. Ein noch deutlicheres und auch dramatisches Zeichen setzt nun der Brexit.
Übergrosser Drang nach Erweiterung
Hier möchte ich wieder ein Zitat aus der NZZ anfügen. Unter dem Titel "Die Lebenslüge der EU" publizierte Thomas Fuster am 6. August 2016 einen eindrücklichen Kommentar, der folgendermassen beginnt:
"Der Euro und der freie Personenverkehr entzweien die EU. Den Themen ist gemeinsam, dass sie vorwegnehmen, was es nicht gibt: eine europäische Staatlichkeit. Auf die Dauer kann das nicht gut gehen."
Am Schluss steht zu lesen:
"Gefordert ist ein kontrollierter Rückbau, der die EU wieder in Einklang bringt mit der Realität souveräner Mitgliestaaten. Das Kleine zu negieren, war noch nich nie ein Beweis von Grösse."
Die EU hat insbesondere hinsichtlich der vier Freiheiten bezüglich Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen viel Positives erreicht. Der grösste Erfolg ist der Binnenmarkt. Das wird ja offensichtlich auch von den Briten so beurteilt, die nach dem Brexit den Anschluss an den Binnenmarkt sicherstellen möchten. Die EU ist ein Konstrukt, das nach jahrzehntelanger seriöser Aufbauarbeit von einer Krise in die andere schlittert. Daran mögen gewiss auch äussere Faktoren und Einflüsse etwas Schuld tragen. Die Hauptverantwortung liegt aber bei den EU-Behörden und den Mitgliedstaaten selbst mit dem übergrossen Drang nach rascher Erweiterung und gleichzeitiger Vertiefung und mit der oft unnötigen Abdeckung neuer Lebensgebiete, mit dem Ziel, die Souveränität der Mitgliedstaaten weiter abzubauen und die Kommission zu einer supranationalen de facto-Regierung zu machen.
Könnte die EU einstürzen?
Das eklatanteste Beispiel ist die Währungsunion, der allerdings nicht alle EU-Mitgliedstaaten angehören. Bedeutende Leute bezeichnen die Währungsunion als Fehlkonstruktion. Was besonders auffällt, ist der mangelnde Respekt für die selbst gegebenen Vorschriften. Der Stabilitätspakt und die von ihm geforderten Disziplinen werden nicht beachtet, wobei sich die Grossen Freiheiten herausnehmen, die den Kleinen verweigert werden. Das krasseste Beispiel ist Frankreich, das bekanntlich die Disziplin nicht beachtet, gegen das aber die Kommission in Brüssel sich nicht getraut, Sanktionen zu ergreifen. Frankreich betrachtet sich ja als Führungsmacht und misst sich höchstens noch mit Deutschland, das sich seit der Wiedervereinigung vor allem dank seiner wirtschaftlichen Leistungskraft zum eigentlichen Hegemon der EU entwickelt hat.
Diese EU ist also unser wichtigster Partner in sehr vielen Belangen. Diese EU ist in der Krise. Das ist nicht gut; denn eine kriselnde EU ist ein wenig sicherer und in seiner gegenwärtigen Situation gewiss kein entgegenkommender oder gar wohlmeinender Partner. Wie Franz Blankart stets zu sagen pflegte, hat die Schweiz ein Interesse an einer starken Gemeinschaft, also an einem in sich geschlossenen und nach aussen überzeugend wirkenden Verhandlungspartner. Die Situation ist heute also wenig günstig. Die grosse Unsicherheit besteht aber darin, dass Existenzängste verspürt werden. Ist die EU too big to fail oder könnte sie tatsächlich auseinander fallen? Das Römische Reich, grosse Kolonialreiche, auch das Dritte Reich sind zusammengebrochen, die Sowjetunion ist eingestürzt; könnte dies der Europäischen Union auch so ergehen?
Die Efta, eine Gegenbewegung zur EWG
Kommen wir jetzt zur unserem Verhältnis zur seinerzeitigen Europäischen Gemeinschaft und der heutigen Europäischen Union.
Die drei grossen Nachbarländer der Schweiz, d. h. Deutschland (damals Westdeutschland), Frankreich und Italien sowie die Benelux-Staaten waren die Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Nur schon wegen der geographischen Nähe, der kulturellen Verbindung und der intensiven Wirtschaftsbeziehungen zu den drei Grossen der EWG konnte die Schweiz diese Entwicklung nicht einfach unbeteiligt beobachten. Unter der Führung von Grossbritannien und mit aktiver Beteiligung der Schweiz wurde 1960 die Europäische Freihandelsassoziation (Efta) gegründet, eine Art Gegenbewegung zur EWG.
Die Efta verfolgte aber zwei Hauptziele, nämlich die Schaffung einer Freihandelszone für die Unterzeichnerstaaten und einen Brückenschlag zur EWG. Ende Dezember 1961 deponierte die Schweiz ein Gesuch um Assoziation mit der EWG gemäss Art. 238 des EWG-Vertrags. Mit dem 1963 von de Gaulle erteilten Nein zum britischen Beitrittsgesuch zur EWG ging das schweizerische Assoziationsgesuch einfach unter. Erst neun Jahre später gelang der Abschluss der Freihandelsabkommen (FHA) zwischen den einzelnen Efta-Staaten mit der EWG.
1992 – Beitrittsgesuch der Schweiz
Dank den von allen Efta-Ländern mit der EG abgeschlossenen Freihandelsabkommen entstand für das ganze Gebiet der um Grossbritannien und Dänemark erweiterten EG und der kleiner gewordenen Efta eine grosse Freihandelszone. Das System war nicht ganz unkompliziert und bedingte eine enge Koordination zwischen den Efta-Ländern. Die Bewährung des Systems wurde am 9. April 1984 gefeiert, als sich die Minister der Efta-Länder und der EG-Mitgliedstaaten mit der EG-Kommission in Luxemburg zu einer erstmaligen derartigen Zusammenkunft trafen – ein historisches Ereignis. Dabei ging es vor allem darum, die europäische Zusammenarbeit auf neue Gebiete auszudehnen und zu intensivieren.
In der von den Ministern verabschiedeten Erklärung wurde die Absicht der Schaffung eines dynamischen europäischen Wirtschaftsraums festgehalten. Die Idee eines solchen Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) schien zukunftsweisend und wurde enstsprechend aufgenommen. Die Verhandlungen waren lang und schwierig. Einige Efta-Länder orientierten sich immer mehr in Richtung Beitritt. Völlig unvermittelt hinterlegte der Bundesrat am 20. Mai 1992 ein Beitrittsgesuch in Brüssel. In der Schweiz wurde das mühsam erarbeitete EWR-Paket in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992 abgelehnt. Das lange umstrittene Beitrittsgesuch wurde erst kürzlich als gegenstandslos erklärt.
Noch kein Ausweg gefunden
Man darf es fast als ein Wunder betrachten, dass es der Schweiz gelungen ist, ihr Verhältnis zur inzwischen aus der EG hervorgegangenen EU neu zu gestalten. In den beiden Paketen der Bilateralen I und II wurde die Zusammenarbeit auf vielen Gebieten neu geregelt, was allerdings bedingte, dass die Schweiz die EG-Vorschriften in die eigene Gesetzgebung überführte. So interessiert die Schweiz auch an den drei Freiheiten des Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs ist, so schwierig ist es für sie angesichts der hohen Zahl von Ausländern im Lande und der überbordenden Zuwanderung, den freien Personenverkehr zu gewährleisten. Die Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 betreffend die Einschränkung der Masseneinwanderung hat eine komplexe Situation geschaffen. Der Ausweg ist einstweilen noch nicht gefunden.
Wie soll es nun weiter gehen?
Der Gedanke, über die grosse Zahl bestehender Verträge ein Dach zu bauen, ist nicht neu. Sie geht eigentlich bereits auf die in Absatz 3 der Präambel des Freihandelsabkommens von 1972 enthaltene Entwicklungsklausel zurück, worin es heisst, dass sich die Vertragsparteien bereit erklären, "unter Berücksichtigung aller Beurteilungselemente, insbesondere der Entwicklung der Gemeinschaft, die Möglichkeit eines Ausbaus und einer Vertiefung ihrer Beziehungen zu prüfen, wenn deren Ausdehnung auf Bereiche, die nicht unter dieses Abkommen fallen, im Interesse ihrer Volkswirtschaften nützlich erscheinen sollte".
Würde die EU der Schweiz Konzessionen machen?
Sodann bot die Erklärung von Luxemburg einen Ansatz. Auch das EWR-Abkommen hätte eine entsprechende Lösung gebracht. Jetzt ist eben die Rede von einem Rahmenabkommen.
Der Ansatz, die vielen und sehr verschiedenartigen Vertragswerke zwischen der Schweiz und der EU aufzuarbeiten und unter einem "Obervertrag" zu vereinen, hat an sich etwas Bestechendes. Die Verwaltung und die Fortführung der Verträge könnte dank dem übergeordneten Vertrag und der Einsetzung neuer Institutionen vereinfacht werden. Allfällige Differenzen könnten rationell und rasch bereinigt werden. Neue Gedanken hinsichtlich des Ausbaus der Beziehungen könnten in relativ unkomplizierter Weise an die Hand genommen werden.
Hinsichtlich des Inhalts eines Rahmenabkommens sind wir vorläufig auf Spekulationen angewiesen. Aber es ist sicher davon auszugehen, dass es sich nicht um einen dekorativen Vertrag mit leeren Worthülsen handeln könnte, sondern um eine Auflistung schweizerischer Konzessionen auf wichtigen Gebieten. Ganz offen ist es, ob die EU überhaupt irgendwelche Konzessionen machen würde und allenfalls welche.
Ohne Mitspracherecht
Es ist klar, dass vom Riesen EU eine Lösung angestrebt wird, wonach das Verhältnis zur Schweiz im wesentlichen durch EU-eigene Institutionen geregelt, überwacht und weiterentwickelt werden könnte. Die Schweiz dürfte deshalb wohl weiterhin dahin gedrängt werden, die Entscheidungen über die Einhaltung der Regeln den Organen der EU zu überlassen und sich insbesondere und – wohlverstanden ohne irgend ein Mitspracherecht – der Rechtsprechung des EU-Gerichtshofes zu unterwerfen.
Auch wenn die Schweiz schon seit Jahren die eigene Gesetzgebung an das EU-Recht anpasst, würde die in einem Rahmenabkommen wohl verlangte direkte Übernahme von EU-Recht einen bedeutenden neuen Anpassungsschritt bedeuten. Zur richterlichen "Entmündigung" käme also eine weitgehende Rechtsvereinheitlichung.
Die EU steht ja nicht still. Die Regelungsdichte nimmt zu. Wenn die EU neue Vorschriften erlässt, die auch von Verträgen mit der Schweiz abgedeckte Materien betreffen, so wird die Schweiz – wie eben erwähnt – das EU-Recht übernehmen müssen. Vorherige Konsultationen kommen für die EU darum wohl nicht in Frage – also kein Mitspracherecht der Schweiz bei der Ausarbeitung neuer EU-Regeln, welche die Schweiz – wie gesagt – dann aber übernehmen müsste.
Schengen – in Frage gestellt
Ein Rahmenabkommen würde wohl zunächst einmal alle in den Bilateralen I und II behandelten Materien abdecken. Die meisten unter ihnen können Anlass zu Differenzen bieten, wie das aktuelle Problem der Personenfreizügigkeit und die Reaktion der EU in Sachen Forschung zeigt. Äusserst kritisch könnte es jederzeit etwa aber auch werden hinsichtlich der Landwirtschaft, des Landverkehrs (Gotthard-Transit!), des öffentlichen Einkaufswesens, der Bildung. Wenn die EU ein neues Lebensgebiet "vergemeinschaftet", so könnte sie versucht sein zu fordern, dass die Schweiz gemäss Rahmenabkommen die neuen Regeln übernimmt.
Die EU steht heute auf drei Säulen. Alles, was wir bisher besprochen haben, betrifft die erste Säule, d. h. die Wirtschafts- und Währungsunion. Hinsichtlich der dritten Säule, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, sind die Dinge schon weit gediehen. Das Interesse daran ist allerseits gross. Allerdings könnte das Schengen-System, das in der Schweiz hin und wieder in der Kritik steht und jetzt wegen terroristischer Aktivitäten und wegen des Andrangs von Flüchtlingen mitunter in Frage gestellt wird, noch Schwierigkeiten bereiten. Die Problematik der im Jahr 2015 entstandenen Flüchtlingsströme ist leider weiterhin ungelöst.
Sicherheitspolitisches Rahmenabkommen
Ich möchte hier aber noch etwas zur zweiten Säule sagen. Diese, nämlich die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP), könnte Sprengstoff liefern, sofern sich schweizerische Unterhändler darauf einlassen sollten, das Thema in ein institutionelles Rahmenabkommen oder gar in ein Rahmenabkommen zur Teilnahme der Schweiz an Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU aufzunehmen. Der Bundesrat hat in seinen Zielen ein solches Rahmenabkommen erwähnt und sorgt damit natürlich für Verwirrung. Im Vordergrund steht ja ein allfälliges institutionelles Rahmenabkommen. Offenbar will der Bundesrat aber auch ein Rahmenabkommen für sicherheitspolitische Zusammenarbeit anstreben. Das geht nun in eine mindestens so unakzeptable Richtung wie das institutionelle Rahmenabkommen. Folgendes, für die Schweiz ausserordentlich wichtiges Element sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Das Lissaboner Abkommen statuiert (gemäss Art. 1, Ziffer 27, Litera a , Abs.1, betr. Art. 11 des Vertrages über die EU):
"Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Aussenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschliesslich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.“"
Und weiter (in Art. 1, Ziffer 49, Litera c, betr. Art. 28 a, Abs. 7, des Vertrages über die EU):
„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die andern Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen ...“
Militärische Beistandsgemeinschaft
Auch wenn die EU von einer wirklich operationsfähigen Verteidigungsgemeinschaft noch weit entfernt ist, so etablieren die erwähnten Vorschriften immerhin doch eine militärische Beistandsgemeinschaft, und die Regelung entspricht, mindestens theoretisch, der automatischen Nato-Beistandspflicht gemäss Art. 5 des Nordatlantikpaktes. Dies ist ein wenig bekannter Aspekt, der in der Schweiz geflissentlich verschwiegen wird, besonders von den Befürwortern eines EU-Beitritts. Er ist nun aber offenbar geworden, als Frankreich im Anschluss an die Terrorakte vom 13. November 2015 in Paris von "Krieg" sprach, den Notstand verkündete und wohl zum ersten Mal in der Geschichte der EU den Beistandsartikel anrief. Dass Frankreich dabei die EU und nicht etwa den Art. 5 des Nordatlantikpaktes in Betracht zog, der nach den Ereignissen vom 11. September 2001 in New York ins Spiel gebracht wurde, sollte wohl eben gerade die militärische Dimension der EU unterstreichen. Am Gipfeltreffen vom 16. dieses Monats in Bratislava wurde eine intensivere Zusammenarbeit hinsichtlich externer Sicherheit und Verteidigung heraufbeschworen, dies vor allem darum, weil die EU nach dem Brexit und damit dem Austritt der stärksten Militärmacht punkto Verteidigung noch schwächer sein wird als bisher.
Der Entscheid über den Abschluss von Rahmenabkommen mit Inhalten wie den oben angedeuteten ist von fundamentaler Bedeutung; denn es ist in Tat und Wahrheit ein Entscheid über einen späteren Beitritt zur EU. Nachdem die Diskussion über ein institutionelles Rahmenabkommen in Gang gekommen ist, gilt es, die weiteren Absichten des Bundesrates genau wahrzunehmen, deren Tragweite nicht zu unterschätzen und höchst wachsam zu sein. Denn wenn wirklich ein sicherheitspolitischer Anschluss inklusive Militär angestrebt werden sollte, wird es um Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz geschehen sein.
Die Kleinen für die eigenen Bedürfnisse einspannen
Der Drang nach einem europäischen politischen Zusammenschluss beruht auf der Einsicht, dass Europas Staaten einzeln im Konzert der Nationen auf der Weltbühne nicht mehr mit Durchschlagskraft mitspielen können. Dass sie dies unbedingt möchten, entspricht den Ambitionen früherer Grossmächte. Z. B. Frankreich kann heute alleine nicht mehr auf der gleichen Ebene mitspielen wie die USA, China, Russland oder Indien. Die Grössenordnungen und das Machtgefüge sehen eben heute anders aus als früher. Zusammenspannen mit den andern soll das Rezept sein, das in Wirklichkeit aber der Versuch ist, die andern, sprich die Kleineren und Schwächeren, für die eigenen Bedürfnisse einzuspannen und diese Bedürfnisse dann als "europäische Politik" zu verpacken. Die Grossen der EU spielen dieses Spiel seit langem. Die Kleinen lassen das geschehen, weil ihren wirtschaftlichen Interessen damit einstweilen gedient ist. Wirtschaftliche Probleme, Währungspobleme, Flüchtlingsströme usw. lassen nun erstmals seit der Schaffung der EU auch kleinere Mitgliedstaaten aufbegehren.
Bekanntlich hat die Schweiz ihren Weg als unabhängiges und neutrales Land dank politischer Stabilität, Verteidigungsbereitschaft, wirtschaftlichem Erfolg und sozial geordneten Verhältnissen mit Erfolg beschritten und sich aus der Machtpolitik herausgehalten. Damit steht sie im Gegensatz zur Idee des europäischen politischen Zusammenschlusses. Das gefällt den Grossen nicht; das passt nicht in das Gedankengut der EU-Kommission, welche die Schweiz endlich disziplinieren und gefügig machen möchte; und es gibt auch Neider. Soviel Demokratie wie in der Schweiz gibt es eben sonst nirgends; unser System wird auch gar nicht richtig verstanden. Darin liegt eine erhebliche Schwierigkeit bei Verhandlungen mit der EU. Dazu kommt aber die unheimlichere Schwierigkeit, dass bei uns im eigenen Land, und dies mitunter an massgebender Stelle, Kräfte am Werk sind, die für die Ansichten der EU-Kommission mehr Verständnis zu haben scheinen als für die Meinung des eigenen Stimmvolkes. Wenn aber der Souverän und die politische Führung in Grundsatzfragen auseinanderdriften, wird es gefährlich.
Mit Selbstsicherheit auftreten
Diese Entwicklung wiegt viel schwerer als das Grössenverhältnis des Kleinstaates Schweiz zum EU-Giganten. Wegen ihrer geografischen Kleinheit braucht die Schweiz ja nun wirklich keinen Komplex zu entwickeln. Ganz abgesehen davon, dass sie als Wasserschloss und als Alpentransitland über eine starke Position verfügt. Als Wirtschaftsnation lag die Schweiz 2014 weltweit an 20. Stelle. Bis Ende des 20. Jahrhunderts verfügte die Schweiz über einen geachteten Apparat zur Landesverteidigung. Dies ist heute leider – und in gefährlicher Dimension – nicht mehr der Fall, und es besteht zur Zeit und in den kommenden Jahren grosser Nachholbedarf; denn eine glaubwürdige Verteidigungsanstrengung ist ein entscheidender Faktor zur Wahrung der Unabhängigkeit. In Sachen Forschung wird in der Schweiz – übrigens mit oder ohne Forschungsabkommen mit der EU – Grosses geleistet. Unsere Währung ist noch eine der solidesten der Welt. All diese positiven Aspekte dürfen wir nicht unter den Scheffel stellen.
Auch sollten wir nicht auf die Klagelieder von mehr oder eben weniger kompetenten Historikern hören, die sogar absolut nachgewiesene historische Ereignisse zu reinen Mythen herabwürdigen und im Sinne ihrer politischen Agenda die Schweiz dekonstruieren wollen. Wir sollten uns bemühen, gegenüber dem Ausland in den unseren Grössenverhältnissen entsprechender Weise, aber mit der durch die Geschichte und die Leistungen unseres Landes gebotenen Selbstsicherheit aufzutreten. In den letzten 20 Jahren ist dies leider nicht immer gelungen. Die Wahrung der schweizerischen Interessen im Ausland hat unter der Unterwürfigkeit schweizerischer Behörden gelitten, die sich durch äussere Machtverhältnisse haben beeindrucken und unterkriegen lassen. Dies alles hat mit geografischer Kleinheit nichts zu tun und ist eine direkte Folge von gefährlicher und inakzeptabler Kleinmütigkeit. Das sollte anders werden! Eine Schweiz, die nicht klein an Mut ist, ist sicher nicht zu klein zum Überleben!
Zunehmender Widerstand gegen die Globalisierung
Auch den Gegnern der Supranationalität entgeht es natürlich nicht, dass viele Aspekte des heutigen Lebens eben weit über die Landesgrenzen hinausreichen und nach Koordination auf der internationalen Ebene rufen. Das Rezept dazu war bisher die zwischenstaatliche Zusammenarbeit souveräner Nationen. Bis es neue überzeugende Rezepte gibt, hält sich die Schweiz wohl besser an das traditionelle Rezept, als sich in ein Gebilde hineinziehen zu lassen, das eine eigene Staatlichkeit anstrebt, diese auf demokratischem Wege aber in absehbarer Zukunft nicht wird realisieren können. Wie bereits erwähnt, herrscht zur Zeit in vielen EU-Mitgliedstaaten grosse Unzufriedenheit, dies vor allem wegen der überzogenen Ambitionen von Politikern und Funktionären, wegen der immer absurder anmutenden Regelungswut, wegen der undemokratischen Willensbildung und der Unfähigkeit der EU zur Problemlösung. Im Heft "Schweizer Monat" vom September 2016 ist im Zusammenhang mit dem Brexit ein faszinierender Artikel des Cambridge-Professors David Abulafia publiziert, der mit den Worten schliesst:
"Nicht Grossbritannien hat die EU im Stich gelassen – die EU hat alle ihre Mitglieder im Stich gelassen."
Weltweit gibt es bekanntlich immer mehr Opposition gegen die Globalisierung, was sich zum Beispiel im stark zunehmenden Widerstand gegen Grossprojekte wie der Schaffung eines transatlantischen oder transpazifischen Freihandels manifestiert. Der Trend geht zur Rückbesinnung auf den Wert von souveräner Nationalstaatlichkeit. Dagegen wird von den Globalisten sofort die Gefahr von gefährlichem Nationalismus heraufbeschworen. Ein souveräner Nationalstaat ist aber keineswegs per definitionem ein nationalistischer Akteur. Ein anderer Trend der letzten Jahrzehnte zeigte ja mit dem Zerfall der Sowjetunion oder auch Jugoslawiens, dass grosse Gebilde in kleinere Einheiten zerlegt werden können, und dies mitunter gar mit positiven Auswirkungen. Dass derartige neu unabhängige Staaten wiederum in das Grossgebilde EU hineindrängen, ist durchaus verständlich, erhoffen sie sich dadurch doch höhere Sicherheit und wirtschaftliche Vorteile. In einigen neuen EU-Mitgliedstaaten, so vor allem in den sogenannten Visegrad-Ländern (Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien) wird aber der Verlust an Souveränität stark kritisiert. Möglicherweise geht die allgemeine Tendenz in Richtung vermehrter Eigenständigkeit. Angesichts dieser Entwicklung erscheint es als durchaus zeitgemäss, dass auch die eigentlich ja gar nicht so kleine Schweiz ihre Souveränität bewahren will. Vielleicht kann es irgendwo und irgendwann ein too small to survive geben. Ein solches ist aber für die Schweiz so lange nicht aktuell, als sie den politischen Willen zur Unabhängigkeit bewahrt und nach aussen klar bekundet, dass sie einerseits zu einer intensiven internationalen Zusammenarbeit stets bereit ist, anderseits aber der Supranationalität eine Absage erteilt und gewillt ist, ihre Eigenständigkeit zu wahren.
(Die Zwischentitel stammen von der Redaktion)