«Willst du darüber reden?», fragt der Kollege in der Theater-Pause. «Nein. Und du?» «Ich auch nicht.» Also reden wir über den Dauerregen in Salzburg. Das geht immer und ist unverfänglich. «Liebe», steht auf dem Programm – und in Klammer: Amour.
Es ist die Uraufführung eines Theaterstücks nach dem gleichnamigen Film von Michael Haneke, der vor zehn Jahren in die Kinos kam, die Goldene Palme und einen Oscar gewann und niemanden unberührt liess.
Jetzt wird das Thema im Rahmen der Salzburger Festspiele im Landestheater Salzburg aufgenommen. Und es ist schwere Kost. Beklemmend. Im Film und im Theaterstück geht es um die Frage, wie man am Ende des Lebens mit Krankheit, Schwäche und Verfall umgeht. Und vor allem: Kann es ein Liebesbeweis sein, wenn man den anderen tötet? Alle im Publikum sind betroffen, auch wenn es sie – im Moment – noch nicht betrifft.
André Jung statt Trintignant
Viele Gedanken darüber hat sich André Jung gemacht, der hier die Hauptrolle spielt. In Hanekes Film war es Jean-Louis Trintignant, der seine Frau nach einem Schlaganfall auf ihren Wunsch hin von ihren Leiden erlöst und ihr ein Kissen aufs Gesicht drückt, bis sie stirbt.
Drei Stunden vor der Vorstellung habe ich mit André Jung im Landestheater abgemacht, früh genug, dass er sich anschliessend noch auf die Abendvorstellung konzentrieren konnte.
Annette Freitag: Haben Sie den Film damals gesehen?
André Jung: Ja, und ich war begeistert von den Schauspielern, begeistert vom Film, begeistert davon, was er zeigt und was er nicht zeigt, wie erbarmungslos Haneke die Schnitte gemacht hat und damit vieles ausgespart hat. Ein bedrückender und meisterhafter Film.
Film und Theaterstück heissen «Liebe». Ist das nicht ein Etiketten-Schwindel?
A. J. Nein. Sterbehilfe, das kann auch Liebe sein. Selbstliebe oder Nächstenliebe.
Möglicherweise beides?
A. J. Ich sehe beides. Da keiner von uns weiss, was Liebe ist, würde ich sagen, es ist Liebe, ja. Und es ist eine Grenzüberschreitung.
Haben Sie gezögert, als das Angebot kam, diese Rolle zu spielen?
A. J. Nein, ich habe mich sehr darauf gefreut, weil ich ja den Film kannte. Ich habe allerdings schnell gemerkt, dass man den Film nicht einfach auf die Bühne übertragen kann. Aber das Thema muss auf die Bühne.
Statt der Ehefrau, wie im Film, sind es auf der Bühne ein halbes Dutzend verschiedene Personen, die in ihrer Hinfälligkeit und Hilflosigkeit gezeigt werden.
A. J. Ja, anders als im Film ist es nicht spannend für eine einzelne Schauspielerin, die ganze Zeit nur im Bett zu liegen.
Und wie fühlen Sie sich in ihrer Rolle?
A. J. Ich weiss ja, dass es Theater ist. Ich bin kein Identifikationsmensch, aber ich tauche ein. Und ich spiel’s gern. Ich spiel’s richtig gern. Auch dieses Sich-an-der-Grenze-Bewegen, wo man nicht weiss, ist der andere tot oder ist es eine Phantasie oder wird er verrückt.
Und was spüren Sie vom Publikum?
A. J. Wenig. Es ist sehr ruhig. Obwohl das Stück ja auch Humor hat. Wie jede Tragik. Es braucht grosse Konzentration, dass man nicht ins Mitleid abdriftet, in Sentimentalität. Es darf nicht larmoyant werden.
Und wie stehen Sie persönlich der Sterbehilfe gegenüber?
A. J. Ich hoffe, dass ich sie nicht brauche … Aber ich bin sehr dafür.
Dann zwei Stunden später steht André Jung auf der Bühne. Kalt und steril sieht es aus, nicht so gemütlich elegant wie in Hanekes Film. Und es ist nicht die Partnerin eines langen Lebens, die hier ihr Lebensende herbeisehnt, es sind verschiedene Menschen, die dahinsiechen und um das letzte bisschen Würde kämpfen.
Am Schluss gibt’s Applaus. Erlösenden Applaus. Das Publikum strömt hinaus – und es regnet immer noch.
«Jedermann» - alle Jahre wieder
Weniger glamourös als in anderen Jahren kommt auch die neue «Jedermann»-Inszenierung daher, das Kernstück der Salzburger Festspiele seit eh und je. Michael Maertens versucht diesmal als «Jedermann» dem Tod von der Schippe zu springen. Vergeblich. Dass die Welt aus den Fugen geraten ist, wie Hamlet schon festgestellt hat, und wie es das diesjährige Motto der Festspiele bestätigt, unterstreicht auch das «Spiel vom Sterben des reichen Mannes», wie Hugo von Hofmannsthal schon im Untertitel schreibt.
In einer Nebenrolle tritt übrigens der Schweizer Schauspieler Bruno Cathomas als «dicker Vetter» auf und treibt so seinen Unfug auf der Bühne vor dem Dom – sofern es nicht regnet …
Nicht nur in Salzburg, sondern ganz allgemein, tut sich das Sprechtheater seit einiger Zeit schwer mit den Klassikern. Wir kennen das vom Schauspielhaus Zürich her, aber die Kammerspiele München oder das Burgtheater Wien zum Beispiel vergraulen ihr Publikum ebenfalls mit eigenwilligem Regietheater.
«Nathan» als Frau
In Salzburg nun also Gotthold Ephraim Lessings «Nathan der Weise», ein Klassiker des Bildungstheaters, an dem früher kein Gymnasiast vorbeigekommen ist. Jetzt wird es auf der Perner-Insel aufgeführt. Ulrich Rasche hat das «dramatische Gedicht» – wie Lessing es genannt hat – inszeniert.
Wer Rasche-Aufführungen kennt, weiss, wie’s geht: Eine Art riesige Drehscheibe, Düsternis, Lichteffekte, hypnotisierende, eindringliche Musik. Und da wir das Jahr 2023 schreiben und nicht 1783, wie bei der Uraufführung in Berlin, muss aus Gründen der Gendergerechtigkeit der «alte weisse Mann» einer jungen Frau Platz machen, die nun in Salzburg den «Nathan» verkörpert: Valery Tscheplanowa. Die gebürtige Russin, die sich auf deutschen Bühnen einen Spitzenplatz erobert hat und auch schon als «Sprechgranate» bezeichnet wurde, kennt Rasches Inszenierungen aus eigener Erfahrung. So konnte sie auch kurzfristig einspringen, als die eigentlich als Nathan vorgesehene Schauspielerin ausfiel. Und Valery Tscheplanowa macht das grossartig. Sie setzt sich gegen die Musik durch, sie spricht ihren Text laut und deutlich.
Die Drehscheibe dreht sich, und das Ensemble marschiert darauf. Meistens vorwärts, manchmal aber auch im Rückwärtsgang, weiter und weiter geht es, man fragt sich, wieviel Kilometer das Ensemble wohl am Schluss der Vorstellung zurückgelegt hat … Einem Zuschauer wird’s schlecht beim Zuschauen, andere haben ihre Probleme mit Schwindel. Trotzdem geht ein Sog aus von dieser düsteren Bühne und der suggestiven Sprache, eingelullt in die ebenso dunkle Musik.
Nach der Pause lichten sich die Reihen beträchtlich. Manch einer wartet lieber draussen bei Würsteln und einem Bier, statt weitere zwei Stunden der immer gleichen Maschinerie auf der Bühne zuzusehen. Nach unendlich langen vier Stunden sind gegen Mitternacht alle erlöst. Im Stück, aber auch im Publikum …
«Kaukasischer Kreidekreis»
Eine ganz besondere Rolle kommt einem ganz besonderen Ensemble in der Abteilung «Schauspiel» zu. Das Theater Hora aus Zürich bringt Bertolt Brechts «Kaukasischer Kreidekreis» auf die Bühne. Seit dreissig Jahren gibt es diese professionelle Truppe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. In Salzburg haben sie Publikum und Kritik im Handumdrehen für sich eingenommen, hört man von denen, die dabei waren. Und man glaubt es sofort, auch wenn man selbst zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in Salzburg war.