Mehr als die Hälfte der Salzburger Festspiele ist schon vorüber. Gefeiert wird dieses Jahr der 150. Geburtstag von Max Reinhardt, der neben Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, einer der drei Festspielgründer war.
An den 43 Tagen zwischen dem 20. Juli und dem 31. August finden 179 Aufführungen an 15 Spielstätten satt. Und insgesamt stehen 212’341 Eintrittskarten zur Verfügung. Beeindruckende Zahlen.
Aber eigentlich geht’s ja um Kultur. Wobei … auch das stimmt nicht so ganz. Es geht auch um die Positionierung in einem schwierig gewordenen Umfeld. «Die Zeit ist aus den Fugen», so lautet denn auch das Motto der diesjährigen Festspiele, angelehnt an Hamlets Verzweiflung angesichts der ihn umgebenden Welt. «Durch die aktuellen Krisen und globalen Verwerfungen drohen auch die Ordnung und die Gewissheiten unserer Zeit zu zerfallen», so Intendant Markus Hinterhäuser.
Ein Opfer dieser Verwerfungen ist Anna Netrebko. Sie, die in Salzburg vor über zwanzig Jahren unter Nikolaus Harnoncourt zum Star avancierte und die Rolle der Primadonna der Festspiele fest besetzt hatte, ist nicht mehr dabei. Zu viel Nähe zu Putin, zu wenig Distanz zum Krieg … in Salzburg ist sie nicht mehr willkommen.
«Utopia» statt «musicAeterna»
Die aktuellen Krisen und globalen Verwerfungen machen auch den Umgang mit Teodor Currentzis schwieriger. Bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges sind Currentzis, der Grieche mit russischem Pass, und sein Orchester «musicAeterna» im Westen mit offenen Armen und noch offenerem Herzen empfangen worden. Die meist jungen russischen Musikerinnen und Musiker hatten unter Currentzis die Klassikszene aufgemöbelt und gründlich entstaubt. Und nun das: Currentzis distanziert sich nicht vom Krieg, er sagt nichts. Darf er, will er, kann er, oder soll er überhaupt in Salzburg auftreten? Und weil «musicAeterna» mit russischem Geld finanziert wird, werden seine Engagements mit diesem Orchester im Westen gestrichen. Vergessen geht dabei, dass Currentzis in dem ganzen Dilemma auch eine gewisse Verantwortung gegenüber den Mitgliedern von «musicAeterna» hat. Das Orchester ist mit ihm aus dem sibirischen Perm nach St. Petersburg gezogen und hat sich dort etabliert.
Markus Hinterhäuser hält zu Currentzis und hat ihn auch dieses Jahr wieder nach Salzburg eingeladen. Trotz aller Verwerfungen und trotz aller Kritik, die Hinterhäuser sich einerseits damit selbst eingebrockt hat. Von anderer Seite wird Hinterhäusers Haltung auch unterstützt. Nun ist Currentzis statt mit «musicAeterna» mit einem westlichen Orchester nach Salzburg gekommen, einem von ihm neu zusammengestellten, das «Utopia» heisst. Utopia kommt aus dem Griechischen und bedeutet «nirgendwo» oder «ohne Ort», aber auch «guter Ort», eine Art «Fantasiegebilde». Während er mit «musicAeterna» weiterhin in St. Petersburg arbeitet, hat er nun im Westen sein «Utopia»-Orchester. Und wo Currentzis draufsteht, ist Currentzis drin. Das hört man.
Trotz aller Diskussionen, trotz allem Hin und Her, trotz Pro und Contra Currentzis:
Seine Konzerte waren im Handumdrehen ausverkauft, die Warteliste ellenlang, die Diskussionen an der Billettkasse heftig und die Clicks beim Online-Verkauf unzählig.
Mit zwei Programmen sind Currentzis und «Utopia» nach Salzburg gekommen: «The Indian Queen» von Henry Purcell und die «C-Moll-Messe» von Wolfgang Amadeus Mozart. Beide Konzerte wurden je zweimal gespielt.
Gräuel der Kolonialisierung
«The Indian Queen» ist die Weiterführung einer Produktion, die Gerard Mortier, der ehemalige Intendant der Salzburger Festspiele, vor zehn Jahren mit Currentzis in Madrid angeregt hat. Inzwischen haben Currentzis und der amerikanische Regisseur Peter Sellers das Werk weiterentwickelt, mit anderen Musikstücken von Henry Purcell angereichert und darüber die Geschichte der Kolonialisierung der amerikanischen Urbevölkerung durch die spanischen Eroberer erzählt. Den Stoff dafür bot der Roman «La niña blanca y los pájaros sin pies» der nicaraguanischen Schriftstellerin Rosario Aguilar. Sie schildert darin die Gräuel der spanischen Eroberer aus weiblicher Sicht.
Entstanden ist eine Art Collage mit der melancholischen, wunderbar berührenden Musik von Henry Purcell, mit dem phantastischen Utopia-Chor und -Orchester, mit Gesangs-Solisten wie etwa der herausragenden Jeanine De Bique aus Trinidad und Amira Casar, einer Schauspielerin, die den Text las und mit ihrer dunklen, eindringlichen Stimme den Saal verzauberte.
Oder die Stille, diese ganz leisen Passagen, piano, pianissimo, die Currentzis so perfekt beherrscht und bei denen er Orchester und Publikum gleichermassen unter Kontrolle hat: kein Husten, kein Rascheln, kein Räuspern, nur ohrenbetäubende Stille und atemlose Spannung. Wie hypnotisiert hörte man dreieinhalb Stunden zu – und hätte es noch einmal so lang ausgehalten.
Am Schluss: Jubel und nicht enden wollender, tosender Applaus.
Wo Mozart schon dirigiert hat
Der zweite Auftritt von Teodor Currentzis und «Utopia» war ein Klassiker bei den Salzburger Festspielen. Wolfgang Amadeus Mozarts c-Moll-Messe KV 427, aufgeführt in der Stiftskirche St. Peter. Genauso wie am 26. Oktober 1783, als Mozart höchstpersönlich die c-Moll-Messe in ebendieser Stiftskirche uraufgeführt hat. Bei den Salzburger Festspielen hat dieses Werk an diesem Ort jedes Jahr seinen festen Platz.
Zu jener Zeit hatte Mozart Salzburg verlassen und sich in Wien niedergelassen. Möglicherweise war diese Messe als Votivgabe gedacht, denn Constanze, die bald darauf seine Ehefrau werden sollte, war kurz zuvor von einer schweren Krankheit genesen. Der prächtige, barocke Rahmen von St. Peter vereinigt sich perfekt mit den Klängen der Messe, die an Bach erinnern, mit dem Mozart sich intensiv auseinandergesetzt hatte. Constanze hatte damals eine der beiden Sopranstimmen übernommen. Bei Teodor Currentzis ist es die Russin Nadezhda Pavlova, die mit betörender Stimme singt, teilweise gemeinsam mit Rachel Redmond, teilweise im nahtlosen Übergang zu einer Flöte.
Während drei Stunden hatte Currentzis zuvor hier in der Kirche geprobt, um die Tücken der Akustik in diesem Raum kennenzulernen und um darauf reagieren zu können. So liess er die Sängerinnen zunächst vor dem Orchester auftreten, platzierte sie aber in späteren Passagen weiter hinten mitten unter die Musiker. Dafür holte er zwei Flöten-Solisten aus dem Orchester heraus und stellte sie vor das Orchester.
Auch hier wieder: am Schluss standing ovation, Jubel, Applaus …
Trotz aller Diskussionen im Vorfeld, ob Currentzis nun auftreten darf oder nicht, haben sich die c-Moll-Messe und die «Indian Queen» schon zu Beginn der Festspiele als erste Höhepunkte im Musik-Bereich erwiesen.