„Schall und Rauch – die wilden 20er“: Vermag eine auch noch so grosse Ausstellung das überhaupt zu leisten, ohne der Oberflächlichkeit zu verfallen: Das Porträt dieses so widersprüchlichen Jahrzehnts mit enormen politischen und sozialen Umschichtungen und mit Arbeitslosigkeit, mit dem jungen Völkerbund, der jungen Weimarer Republik, mit der Neuordnung vieler europäischer Grenzen, zugleich mit einer glitzernd schillernden Unterhaltungsindustrie in den Grossstädten, mit einer exzentrischen Mode, mit einem neuen architektonischen Denken und einem Aufbruch der Kunst in die Moderne?
Nicht im Titel der Ausstellung, auch nicht in den Saaltexten an den Wänden, wohl aber im Katalog sind Einschränkungen formuliert: Es geht, auch wenn die Katalog-Essays manches thematisieren, nicht ums Ganze, sondern im weitesten Sinne um Bildende Kunst und ihre Verwandtschaften. Es geht also nicht um Soziales oder im engeren Sinn Politisches und (mit wenigen Ausnahmen, Jazz etwa) nicht einmal um Musik und Literatur. (Dada findet kurze Erwähnung.) Die Teilaspekte machen aber noch kein Zeitgemälde aus.
„Ästhetische Ebene“
Cathérine Hug ist die Kuratorin der auf die von Corona von der Bühne gefegten Zürcher Festspiele 2020 hin konzipierten Schau. Sie zieht im Katalog Grenzen und spricht von Phänomenen „auf ästhetischer Ebene“. Und: Man habe den „Fokus auf Berlin, Paris, Wien und Zürich“ gerichtet, was pragmatisch anmutet und sachlich nicht durchwegs zu begründen ist. Sie gesteht auch ein, dass die Vergnügungsorte dieser Städte, die im Rückblick für viele als die Hotspots der „tosenden, verrückten, wilden 1920er Jahre“ gelten, „bei Weitem nicht von der Mehrheit der Bevölkerung“ frequentiert worden seien – bei aller Publizität, die ihnen die damaligen Medien und auch die Geschichtsschreibung angedeihen liessen. Manches ist Übertreibung und Legende. Die Mehrheit schlug sich mit Sorgen herum, von denen die Ausstellung kaum spricht.
Präfaschistisches ausgeblendet
Auch jene Strömung ist ausgeblendet, welche in den Zwanzigern nicht nur virulent war, sondern das politisch-gesellschaftliche Gefüge bereits massgeblich veränderte – der Faschismus, der kurz darauf sein wahres Gesicht zeigen wird. Dabei gäbe es, wenn auch abseits der erwähnten Hotspots, durchaus Anschauungsmaterial „auf ästhetischer Ebene“. Ein Beispiel unter vielen ist das in den Zwanzigern errichtete bizarre „Vittoriale“ von Gabriele d’Annunzio am Gardasee, eine Art „Siegesdenkmal der Italiener“. Ebenfalls ein Beispiel aus Italien: Filippo Tommaso Marinetti formulierte sein Futuristisches Manifest wohl bereits vor dem Ersten Weltkrieg, doch die vom Manifest geprägte Kunstrichtung hielt sich bis über die 1920er Jahre hinein weit in den italienischen Faschismus Mussolinis. D’Annunzio wie Marinetti haben das Jahrzehnt „auf ästhetischer Ebene“ stark, wenn auch negativ mitgeprägt. Die Grenzen sind eben fliessend.
Auch das sind Beispiele unter vielen anderen: Es gibt Beziehungen zwischen Aspekten der Bauhaus-Moderne und faschistischer Selbstdarstellung. Mies van der Rohe baute wohl 1926 in Berlin ein Denkmal für Rosa Luxemburg, unterzeichnete aber 1934, wohl aus Opportunismus, den Aufruf der Kulturschaffenden zur Unterstützung Adolf Hitlers im „Völkischen Beobachter“. Giuseppe Terragni, in den Zwanzigern Begründer der italienischen Architektur der Moderne, des Razionalismo, bekannte sich offen zum Faschismus und baute in Como im Razionalismo-Stil die Casa del Fascio.
Thematische Schwerpunkte
Jakob Tanner bringt in seinem Katalog-Essay „Das Kaleidoskop der 1920er Jahre“ auch Ausserkünstlerisches des Jahrzehnts zur Sprache. Cathérine Hug allerdings verzichtet auf solche und andere zugegebenermassen schwer zu visualisierende Aspekte. Sie setzt sechs medienübergreifende Schwerpunkte nicht chronologischer, sondern thematischer Art. Es geht da um den Abschied vom Kriegstrauma (da wird soziale Not am ehesten angedeutet), um neue Bilder für neue Rollen von Mann und Frau, um die Revolution der Mode, um Ikonen der Architektur und des Designs (und dabei vor allem um den Einfluss des Bauhauses), um neue Sehgewohnheiten (gegenständlich, abstrakt, konstruktivistisch) und um neue Körperempfindungen. All das hat seine Aktualität auch heute, 100 Jahre post festum, behalten.
Prominente und Vergessene
Die Recherche des Ausstellungsteams war zweifellos intensiv und zeitaufwändig. Sie brachte neben Bekanntem auch weniger Vertrautes ans Tageslicht. Die Besucherinnen und Besucher begegnen in der kleinteiligen, je nach Themenblock andersfarbigen Ausstellungsarchitektur Werken von Künstlern, die zu den Protagonisten der klassischen Moderne gehören: Kandinsky, Le Corbusier, Brancusi, Georg Grosz, Paul Klee, Man Ray, Christian Schad, Oskar Schlemmer, Hans Arp, František Kupka, Hans Finsler, Xanti Schawinsky. Zu Wort kommen manche bedeutende Exponentinnen und Exponenten des Ausdruckstanzes wie Josephine Baker, Suzanne Perrottet, Rudolf von Laban, Gret Palucca, Harald Kreutzberg.
Andere Künstlerinnen und Künstler sind wohl nicht allen Besucherinnen und Besuchern vertraut. Doch auch da findet sich Spannendes. Ein Beispiel ist die Wienerin Marianne (My) Ullmann, deren Interesse in ihrer dem Kubismus nahestehenden Aufgliederung der Realität der Umsetzung der Bewegung ins ornamentale Bild gilt.
Weitgehend vergessen wird der in den 1920er Jahren berühmte und erfolgreiche deutsch-tschechische Maler Ernest Neuschul sein, der sich mit seiner Partnerin Takka-Takka in Berlin ostindischen Tänzen widmete und in der Ausstellung mit einem exotischen Tanzbild, für das Takka-Takka Modell stand, vertreten ist.
Hierzulande wenig bekannt sind sicher auch die neusachlichen Maler Karl Hubbuch oder Wilhelm Schnarrenberger. Hubbachs Milieu-Studien erinnern an Otto Dix, Schnarrenbergers Porträt an Christian Schads Charakter-Bilder. Unter manch anderen wenig bekannten Künstlerinnen und Künstlern sei überdies der aus Stans stammende und weitgehend unterschätzte Fotograf Martin Imboden (1893–1935) erwähnt, der zahlreiche Exponenten des modernen Tanzes fotografierte. Vom zwischen Avantgarde und Sozialreportage oszillierenden Fotografen ist aber nur ein einziges Bild der Avantgarde-Tänzerin Sonja Markus zu sehen.
Der Experimentalfilm
Es ist ein Verdienst der Ausstellung, nicht nur den zukunftsweisenden Strömungen der Avantgarde-Fotografie der 1920er Jahre Aufmerksamkeit zu schenken, sondern auch dem Film mit experimentellem Charakter. Gleich zu Beginn sehen wir uns dem Film „Ballet mécanique“ gegenüber, den Fernand Léger 1924 gemeinsam mit George Antheil realisierte. Ebenfalls von abstrakt-experimentellem Charakter ist der 4-Minuten-Film „Rhythmus 23“ des Dadaisten Hans Richter. Der 1927 entstandene 65-minütige experimentelle Dokumentarfilm „Sinfonie der Grossstadt“ von Walther Ruttmann schildert einen Tag in der als lebendiger und pulsierender Organismus gezeigten Stadt Berlin. Siegfried Kracauer kritisierte den berühmten und oft gezeigten Film heftig: Er sei formalistisch, oberflächlich und sozial blind.
Aus heutiger Sicht
Cathérine Hug sieht, bei allen Unterschieden im Wirtschaftlichen und Sozialen, Vergleichsmöglichkeiten zwischen den kulturellen Befindlichkeiten unserer Zeit und jenen der 1920er Jahre. Folgerichtig lud sie einige Künstlerinnen und Künstler unserer Tage, die sich mehr oder weniger explizit mit den „wilden Zwanzigern“ befassen, zu Interventionen. Das funktioniert bestens, wenn sich Hiroshi Sugimoto in seiner konzentrierten und streng konzeptuellen Fotografie mit Ikonen der Bauhaus-Architektur beschäftigt. Ähnlich bei Thomas Ruffs Aufnahmen, deren distanzierte Sprödheit der Bauhaus-Architektur entgegenkommt, oder bei Fabian Marti und seiner Nähe zu den technisch-chemischen Experimenten der Fotografie der 1920er Jahre. Eindrücklich ist auch die Beschäftigung Kader Attias mit den grauenvoll entstellten Gesichtszügen verletzter Kriegsheimkehrer. Ob Marc Bauer mit seiner raumfüllenden Malerei dem in den 1920er Jahren entwickelten Mnemosyne-Atlas Aby Warburgs gerecht werden kann, ist fraglich: Das Denken des epochalen Kulturhistorikers ist dazu wohl zu komplex und vielschichtig.
Fazit
Um auf die eingangs gestellt Frage zurückzukommen: Nein – die Ausstellung vermag kein schlüssiges Gesamtbild des zerrissenen Jahrzehnts zu zeichnen. Sie führt aber unglaublich viele Details der künstlerischen Strömungen des fraglichen Jahrzehnts vor, in die man sich vertiefen kann. Dabei sind Entdeckungen möglich, doch werden zugleich auch viele altbekannte Cliché-Vorstellungen über die „wilden 20er“ bedient. Den weitgehend düsteren politisch-sozialen Hintergrund, vor dem sich alles abspielte, muss man selber imaginieren. Die Katalog-Lektüre mag dabei ein wenig helfen. Da viele Künstlerinnen und Künstler einem breiteren Publikum wenig bekannt sein dürften, hätte der reich bebilderte Katalog mit dem Beifügen wenigstens knapper Künstler-Viten viel gewonnen.
Kunsthaus Zürich. Bis 11. Oktober. Kooperation mit dem Guggenheim Museum Bilbao, wo die Ausstellung 2021 gezeigt wird. Katalog mit Essays von Cathérine Hug, Jakob Tanner, Gioia Mori, Alexis Schwarzenbach und Petra Joos. 272 Seiten. 44 Franken.