Ein bisschen ist es wie ein Taumel, wenn man zur Festspielzeit in Salzburg von einer Veranstaltung in die nächste, von einer Oper zur anderen und von einem Konzert ins Schauspiel läuft. Kultur-Völlerei. Grossartig …! Und man stolpert dabei auch auf manch’ Überraschendes.
So war es doch zunächst befremdlich, zu sehen, wie Hunderte Männer und Frauen frühmorgens in mehreren Holzcontainern dastanden, eher ärmlich angezogen und eng zusammengepfercht. Ein Zugfahrzeug schleppte die Container ab. Ort des Geschehens: der Toscaninihof an der Rückseite der Felsenreitschule. Dunkel, schroff und unfreundlich sieht die Wand hinter den Containern aus, die direkt in den Fels übergeht.
Des Rätsels Lösung: Es waren die rund 200 Statisten, die am Abend in Leoš Janáčeks Oper «Káťa Kabanová» die riesige Bühne bevölkern sollten. Und: die «Statisten» waren lediglich lebensgrosse Puppen, die – immer wieder in anderer, fast geometrischer Formation – zu einer Art Bühnenbild mutieren und verblüffend echt wirken.
Cool und herzzerreissend
Noch mehr Eindruck in dieser wahrlich überwältigenden Inszenierung macht allerdings eine zarte, schmale junge Frau, die das Elend dieser Káťa Kabanová ganz cool und gleichzeitig herzzerreissend darstellt: Corinne Winters, eine amerikanische Sopranistin, die so gar nichts Divahaftes an sich hat.
Schon als «Jenufa» ist sie zum Saison-Ende am Grand Théâtre Genf aufgefallen – und jetzt bei den Salzburger Festspielen. Sie betört mit kräftiger und melodiöser Stimme, der auch die vielen sportlichen Lauf-Spurts nichts anhaben können, die sie auf dieser extrem breiten Bühne gleich mehrmals einlegt. Sie will davonrennen aus ihrer engen und beengenden Lebenssituation, sucht die Liebe, die sie bei ihrem Mann nicht gefunden hat, bei einem anderen. Vergeblich. Sie bleibt gefangen und befreit sich erst durch den Tod. Barrie Kosky hat die Geschichte auf der fast leeren und düsteren Bühne beklemmend und faszinierend inszeniert – nicht zuletzt dank der 200 künstlichen Statisten.
Gespür für schwierige Zeiten
Schon Tage zuvor war es auf der gleichen Bühne der Felsenreitschule noch dunkler, noch hoffnungsloser geworden. Intendant Markus Hinterhäuser hat bei der Spielplangestaltung wohl gespürt, dass in diesem Sommer schwierige Zeiten auf uns zukommen. Als erste Oper der Festspiele hat er Bela Bartoks «Herzog Blaubarts Burg» und Carl Orffs «De Temporum fine Comoedia» («Das Spiel vom Ende der Zeiten») ausgewählt. Für die Inszenierung verantwortlich ist Romeo Castellucci, die musikalische Leitung hat Teodor Currentzis. Die Festspielleitung hat an ihm festgehalten, trotz einiger Kritik an Currentzis’ Verbindung zur staatlichen, russischen VTB-Bank. Herausgekommen ist ein überwältigender Abend. Das Gustav-Mahler-Jugendorchester setzt Currentzis’ Interpretation dieser beiden schwierigen Stücke phänomenal um. Und auf der Bühne schälen sich aus der diffusen Dunkelheit Umrisse heraus, Figuren, Feuer …
Judith folgt Blaubart als dessen neue Gemahlin auf die Burg und steht vor sieben Türen. Dahinter entdeckt sie Foltergeräte, Waffen, Geschmeide, aber auch Blutspuren. Hinter der siebten Tür stösst sie auf Blaubarts frühere Ehefrauen: die Frauen des Morgens, des Mittags, des Abends. Und Judith wird die Frau der Nacht auf dieser Reise durch die innere Dunkelheit. Interpretiert wird Judith von der litauischen Sängerin Aušrinė Stundytė, die geradezu prädestiniert scheint, solch’ komplexe, schwierige und zugleich eindrückliche Frauen darzustellen.
Orffs Werk hingegen behandelt das Jüngste Gericht in einer Interpretation, die in Orffs persönlichen, religiösen Anschauungen wurzelt. Das Werk wurde 1973 von Herbert von Karajan an den Salzburger Festspielen uraufgeführt und nun erstmals von Teodor Currentzis wieder gespielt. Auch hier: Schwarz und nochmals schwarz … aber diesmal mit Chören, Tänzern und feurigen Linien und Formen, die zwar kaum Licht ins Dunkel bringen, aber zumindest das Dunkel auf der Bühne strukturieren. Das Publikum spendete nach dem denkwürdigen Abend tosenden Applaus, insbesondere demonstrativ für den Dirigenten …
Sie rührt zu Tränen
Heller, wenn auch insgesamt nicht fröhlicher, wird es bei Giacomo Puccinis «Il Trittico», das sind drei Opern in je einem Akt: «Gianni Schicchi», «Il Tabaro» und «Suor Angelica», diesmal im Grossen Festspielhaus und unter der musikalischen Leitung von Franz Welser-Möst, der von 1995 bis 2002 Generalmusikdirektor am Zürcher Opernhaus war. Strahlender Mittelpunkt der drei Aufführungen ist auch hier wieder eine junge Sängerin: Asmik Grigorian, die ebenfalls aus Litauen stammt und im vergangenen Jahr schon als Chrysothemis in «Elektra» von Richard Strauss für Aufsehen gesorgt hat. Auch sie das pure Gegenteil von dem, was man früher unter einer «Opern-Diva» verstanden hat: schauspielerisch und stimmlich ist sie wandelfähig und agil. Und vor allem im letzten Teil, als «Suor Angelica», berührt sie das Publikum buchstäblich zu Tränen.
Es ist auffällig, dass mit Asmik Grigorian, Corinne Winters und Aušrinė Stundytė in Salzburg drei Sängerinnen im Mittelpunkt standen. Drei Sängerinnen, die kaum mehr dem Cliché der Opernsängerin vergangener Zeiten entsprechen. Drei Sängerinnen auch, die total vergessen lassen, dass Anna Netrebko wegen ihrer Nähe zu Putin, dieses Jahr nicht dabei war. Und von den singenden Männern war ohnehin weniger die Rede …
Aušrinė Stundytė ist eine der herausragenden Sängerinnen dieses Festspielsommers in Salzburg. Als Judith in «Herzog Blaubarts Burg», hatte sie die Hauptrolle in der wichtigsten Opernproduktion und erzählt, wie die Arbeit daran war.
Annette Freitag: Wie war es, so im Dunklen zu spielen?
Aušrinė Stundytė: Schön! Je weniger man von der Umgebung sieht, desto leichter ist es, sich in das Geschehen zu versenken. Man spielt und singt einfach und vergisst fast, dass da Publikum ist.
Das Publikum war aber sehr gespannt.
Absolut. Diese Spannung spürt man auch auf der Bühne. Ich glaube, fürs Publikum ist es noch düsterer als für uns auf der Bühne. Man ist fast ein bisschen in Trance, aber ich bin nicht mit Judith verschmolzen, weil die Situation ja doch abstrakt ist und nur eine Andeutung dessen, was erzählt wird.
Haben sie die Judith im «Blaubart» zum ersten Mal gesungen?
Nein, zweimal szenisch und einmal konzertant. So musste ich es nur auffrischen.
Aber die Inszenierung hier war doch ganz anders?
Das macht viel mehr Spass, als wenn es die gleiche Inszenierung wäre. Gerade dieses Stück ist so offen für alle möglichen Interpretationen. Das ist gerade das Interessante daran.
Und was bedeutet «Blaubart» für sie? Und was soll beim Publikum ankommen?
Für mich ist definitiv klar, dass es nicht um das Märchen geht, also nicht um die literarisch wortwörtlich genommene Geschichte, sondern es geht um die Interpretation dessen, was im Inneren der Menschen abgeht. Bartok hat es natürlich vor allem auf das Innere Blaubarts bezogen, aber in der Salzburger Inszenierung wollte der Regisseur Romeo Castellucci alles umkehren und auf Judiths innere Welt beziehen. Seine ursprüngliche Idee war, hauptsächlich Judith auf der Bühne zu haben und Blaubart ist nur ihre Vision, gar kein leibhaftiger Partner. Während der Proben wurde es aber mehr und mehr zu einer Paarbeziehung, was ich persönlich als sehr angenehm empfinde. So sind die sieben Türen nicht nur für Judith ein Geheimnis, sondern auch für Blaubart ein verborgener Schmerz.
Nun haben sie das erste Mal mit Teodor Currentzis zusammengearbeitet, der ja seit dem Ukraine-Krieg im Mittelpunkt von Kritik und Diskussionen steht… wie haben sie die Situation erlebt?
Diese Fragen kamen in jedem Interview! Die Journalisten wollten Details von uns haben über Gespräche und Positionen. Ich kann nur sagen: die Arbeit lief sehr professionell. Die musikalische Arbeit war sehr spannend, aber wir hatten keinerlei persönlichen Kontakt. Auch seine Anweisungen hat er über den Assistenten vermittelt. Er war sehr distanziert und sehr, sehr professionell. Es ging nur um Musik. Aber das ist auch nichts Aussergewöhnliches: ich muss sagen, dass ich mit keinem Dirigenten, mit dem ich gearbeitet habe, jemals Kaffee getrunken oder privat geplaudert hätte.