Im Februar 2008 fragte der in den USA lebende gebürtige Russe Dimitri Simes, in welchem Ausmass die amerikanische Politik mitverantwortlich sei, dass Russland keine „liberale Demokratie“ geworden sei. Schon der Titel seines Artikels im einflussreichen Magazin „Foreign Affairs“ erklärt vieles: „Wer hat Russland verloren?“ Verlieren kann man nur etwas, was man besitzt oder zu besitzen glaubt. Die Annahme des Westens, Russland habe als Verlierer des Kalten Krieges keine andere Wahl, als sich in die westliche Welt zu integrieren (und zwar unter den Bedingungen des Siegers), erwies sich als Trugschluss.
Was ist die richtige Richtung?
Der Westen hat Russland auch in einem weiteren Sinn „verloren“. Denn welche russische Stimmen kommen bei uns zu Wort, was wollen wir hören und sehen? Jahrelang dienten Gorbatschow, Jelzin, in den ersten Jahren auch Putin, als Symbolfiguren eines Reformprozesses nach westlichem Muster. Das war leichter, als sich mit der unübersichtlichen politischen Realität auseinanderzusetzen.
Im Westen wurde immer wieder betont, die Hilfe zur Demokratisierung Russlands dürfe weder einem allgemein verbindlichen Modell folgen noch dem Land aufgezwungen werden. In Wirklichkeit war aber die Botschaft an Russland unmissverständlich. In einem Papier zur nationalen Sicherheitsstrategie der Clinton-Regierung schrieb Strobe Talbott an die Adresse Moskaus: „Wir werden euch durch alle Schwierigkeiten begleiten – solange ihr euch in die richtige Richtung bewegt.“ (Foreign Affairs, Nr.6 1996)
Sympathien für Thatcher und Pinochet
Dafür sorgen, dass sich Russland in die „richtige Richtung“ bewegt, sollte die Privatisierung der Wirtschaft, die ein von der US-Regierung finanziertes Expertenteam der Harvard-Universität eng begleitete. Priorität hatte, möglichst rasch neue Fakten, neue Besitzverhältnisse, zu schaffen, um die „roten Direktoren“ auszuschalten und eine Rückkehr der Kommunisten an die Macht zu verhindern. Führende Reformpolitiker pilgerten zu Margaret Thatcher, deren neoliberale Wirtschaftspolitik sie zum Vorbild nahmen. Im Moskau der neunziger Jahre gab es viele liberale Stimmen, die überzeugt waren, Russland müsse das autoritäre Entwicklungsmodell des chilenischen Diktators Pinochet übernehmen, das von westlichen Ökonomen, den sogenannten Chicago Boys, angeleitet worden war.
Joseph Stiglitz, damals Chefökonom der Weltbank, kritisiert in seinem Buch „Schatten der Globalisierung“ das Vorgehen der Radikalreformer und ihrer Berater. Die Privatisierung sei für den Oligarchenkapitalismus verantwortlich und habe eine Verarmung der Bevölkerung zur Folge gehabt. Im Volksmund wurde der Begriff „Privatisazija“ zum Schimpfwort „Prichvatisazija“ (Klauerei). Die Schlüsselreform diskreditierte die Demokratie, weil sie in den Augen der Bevölkerung als Raubzug im Namen von demokratischen Reformen über die Bühne ging.
Die „passable Demokratie“
Mit grossen Summen wurden vom Westen prowestliche Parteien unterstützt, die heute im Parlament nicht mehr vertreten oder überhaupt verschwunden sind. Alle Wahlen in den neunziger Jahren wurden von den USA und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als „frei und fair“ gelobt. Die Wiederwahl Jelzins 1996 galt als Beweis für die „Fortschritte im demokratischen Prozess“, obwohl genügend Beweise für Manipulationen vorlagen. Schon früh begannen russische Entscheidungsträger zu verstehen, „was die internationale Gemeinschaft als passable Demokratie zu akzeptieren bereit ist,“ wie Sarah Mendelson 2002 in „Foreign Affairs“ schrieb.
Als aufmerksame Schüler der „passablen Demokratie“ erwiesen sich Putin und seine Leute, die zehn Jahre später die „souveräne Demokratie“ kreierten. Auf dem Papier blieben alle demokratischen Institutionen bestehen, in Wirklichkeit wurden die Medien, das Parlament, die regionalen Mächte und die Gerichte Putins „vertikaler Macht“ unterstellt.
Wie dehnbar seine Grundprinzipien sind, zeigte der Westen auch, als er 1994 Jelzins Einmarsch in Tschetschenien nicht nur duldete, sondern sogar rechtfertigte. Präsident Clinton verglich den Konflikt mit Tschetschenien mit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg. Der Westen tolerierte, dass die russische Armee durch den unverhältnismässigen Einsatz von Gewalt internationale Verträge schwer verletzte.
Wenn heute der Westen das autoritäre Regime des ehemaligen KGB-Offiziers Putin kritisiert, sollte er sich daran erinnern, wie mit seiner Hilfe und Beratung in den entscheidenden Jahren der Transition Entwicklungen unterstützt oder toleriert wurden, die der Demokratie und dem wirtschaftlichen Aufbau eines neuen Russland schadeten.
Kollektive Solidarität, individuelle Freiheit
Die Ansicht ist im Westen weit verbreitet und wird auch von vielen Russen geteilt: In Russland wird die Demokratie nie eine Chance haben. Die russische Gesellschaft brauche eine starke Hand und habe einen quasi natürlichen Hang zum Autoritären. Diese Auffassung übersieht eine wichtige Tatsache: Russland hat in seiner ganzen Geschichte nie einen funktionierenden Staat erlebt. Eine Demokratie mit Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit kann sich nur entfalten, wenn der Staat sich legitimiert und seine Aufgaben wahrnimmt.
Die russische Bevölkerung spricht sich bei Umfragen regelmässig für Demokratie aus. Im russischen Verständnis von Demokratie haben aber kollektive Werte wie öffentliche Ordnung, Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert als Wahlen und individuelle Rechte, die im Westen an erster Stelle stehen. Erfahrungen während der Sowjetzeit und im vorrevolutionären Russland haben im historischen Bewusstsein der Gesellschaft ihren Niederschlag gefunden.
Erwacht jetzt Russland?
Kommt es jetzt zu einem historischen Bruch? Erleben wir „Russlands Erwachen“ (Der Spiegel)? Wer glaubt, die Protestierenden auf den Strassen von Moskau und St. Petersburg nach den manipulierten Unterhauswahlen vom 4. Dezember seien Legion, verkennt die Realität.
Daran erinnert der Direktor des Forschungszentrums Lewada, Lew Gudkow. Der bekannte Soziologe sieht ein gespaltenes Russland. Das Gros der Bevölkerung lebe in der Provinz, „eingefroren in einem Zustand des Verfalls, während das Zentrum (die Megalopolen und grossen Städte) eine rasante Entwicklung durchmacht.“ In der Peripherie sei ein Fortleben sowjetischer Werte zu beobachten, auch bei jüngeren Menschen. Neotraditionalistische und nationalistische Einstellungen nähmen zu und stützten die autoritäre Staatsmacht. Gudkows Fazit: „Die träge, im Niedergang begriffene Peripherie erstickt die sporadischen Impulse zu Wandel und Modernisierung, die im Zentrum entstehen.“
Die Mittelschicht protestiert
Bringt nun die neue Protestwelle von Unzufriedenen im Zentrum erstmals die „kritische Masse“ mit, die nötig wäre, um eine politische Wirkung auszulösen und das Gros der Bevölkerung umzustimmen, welche die eigenen Lebensverhältnisse bisher nicht mit politischer Beteiligung in Zusammenhang brachte? Die Situation der frustrierten neuen städtischen Mittelschicht (20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung) ist widersprüchlich.
Die Demonstranten fordern Neuwahlen und Putins Rücktritt, obwohl gerade diese neue Mittelschicht unter Putins „goldenen Jahren“ ihren Lebensstandard steigern konnte und heute Angst vor radikalen Änderungen hat, die ihren neuen Besitzstand gefährden könnten. Mit einem weissen Band, dem Symbol der neuen Protestbewegung, distanziert sie sich denn auch von den Kommunisten und Anarchisten.
Unterstützung für jene, die "zu uns gehören"
Mit Erstaunen stellten westliche Korrespondenten fest, dass sich unter den Demonstranten zahlreiche Kleinunternehmer befanden oder solche, die es werden wollen, aber wegen der von Korruption und Monopolstrukturen verstopften Wirtschaft keine Chance haben.
Auch die in Moskau stationierten US-Diplomaten gehen – wie die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen zeigen – inzwischen davon aus, dass sich um Putin eine „korrupte, autoritäre Kleptokratie gebildet (hat), in der Staatsbeamte, Oligarchen und die organisierte Kriminalität miteinander verflochten sind und einen wahrhaften Mafiastaat bilden…“. Eine genauere Beschreibung des Systems gibt der ehemalige Wirtschaftsberater Putins, Andrej Illarionow: „Das wichtigste Prinzip von Russlands neuem Wirtschafts – und Rechtsmodell ist Selektivität. Die Ressourcen werden nur an jene verteilt, die 'zu uns gehören'." Bei den Auserwählten handle es sich um eine relativ kleine Schar von „Putin-Oligarchen“, die in der Öffentlichkeit weniger bekannt, aber viel mächtiger und reicher sind als die „Jelzin-Oligarchen“ der neunziger Jahre.
Die „Offshore-Aristokratie“
Wie der Westen an diesem innerrussischen Verteilungskampf beteiligt ist, darauf macht Vladimir Surkov aufmerksam. In einer bemerkenswert ehrlichen Umschreibung bezeichnet der Berater von Präsident Medwedew und Premierminister Putin Russlands „Nouveaux-Riches“ als „Offshore-Aristokratie“. Diese „Machtelite“ bringe ihre Reichtümer im Ausland in Sicherheit und beweise damit, wie wenig sie Russland vertraue.
Vladimir Surkow fordert, Russland brauche eine „nationale Bourgeoisie“ - ein Bürgertum, das erstmals in der Geschichte sich in den Dienst des Staates stelle und den Staat nicht als sein Eigentum betrachte. In Wirklichkeit entwickelt sich Russland aber in eine andere Richtung. So sieht es jedenfalls der russische Politologe Boris Kagarlitzki, nach dessen Ansicht in Russland eine Refeudalisierung der Gesellschaft stattfindet.
Auf der Strecke bleibt ausgerechnet der Mittelstand, jene Gesellschaftsschicht, welche die Basis für Demokratie und Marktwirtschaft bilden sollte. Kagarlitzki dreht den Spiess um: Das „Transitionsland“ Russland hinke nicht hinten nach, sondern zeige dem Westen, wohin der „diki kapitalism“, der wilde Kapitalismus, letztlich führe.
„Russifizierung“ der westlichen Demokratie
Mit dem linken Kritiker Kagarlitzki einverstanden ist ausgerechnet Francis Fukuyama, der einstige Vorzeigeintellektuelle der amerikanischen Neokonservativen, von dem der Spruch vom „Ende der Geschichte“ stammt. In seinem neuesten Buch stellt er fest, dass die Macht der neuen Finanzoligarchen in den USA bereits ein Ausmass angenommen habe, das sich nicht mehr unterscheide „von den Zuständen in Schwellenländern wie Russland oder Indonesien.“ Von einer „Russifizierung“ der westlichen Demokratie spricht auch der konservative britische Publizist Charles Moore.
Nur noch ein „Sozialismus für die Reichen“
Das postsowjetische Russland zeigt, dass eine politische Liberalisierung ohne soziale Gerechtigkeit keine demokratische Gesellschaft hervorbringt. Im Westen war im Rausch des Sieges über das „Reich des Bösen“ nur noch von Freiheit die Rede. Soziale Gerechtigkeit, sofern man überhaupt an sie dachte, sollte sich von selbst einstellen. Heute erleben wir nicht nur in Russland eine Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich, wie sie zu Beginn der Neunzigerjahre kaum vorstellbar war.
Das ist keine Folge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Die Krise hat mit der Sozialisierung der Verluste (bei anhaltender Privatisierung der Gewinne) nur verschärft, was die Politik der letzten zwei Jahrzehnte anrichtete. Zwanzig Jahre nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ ist, so gesehen, nur eine Art von Sozialismus übrig geblieben - der „für die Reichen“ (Stiglitz).
Zwischen Niedergang und Aufbruch
Der Westen hat den Kalten Krieg zwar gewonnen, spätestens seit der Finanzkrise ist er aber seines Triumphs nicht mehr froh. Jene, die vor zwanzig Jahren das „Ende der Geschichte“ verkündeten, sehen sich von der Geschichte eingeholt. Es ist kein äusserer Feind, sondern der Kapitalismus selber, der die Ideale der Demokratie unterspült. Wie Russland vor zwanzig Jahren muss sich nun auch der Westen der Systemfrage stellen.
Und Russland? Seit zwei Jahrzehnten durchlebt das Land einen Prozess zwischen Niedergang und Aufbruch. Russland, so war vor zwanzig Jahren die Erwartung gewesen, sollte innert kurzer Frist und gleichzeitig Entwicklungen nachholen, die bei uns nacheinander und über Jahrhunderte hinweg stattfinden konnten: Demokratische Institutionen und eine Wirtschaft mit neuen Eigentumsformen aufbauen, imperiale Träume überwinden und ein normaler Nationalstaat werden. Gleichzeitig sollte sich eine von der Aussenwelt abgeschottete Gesellschaft plötzlich in einer globalisierten Welt zurechtfinden. Für die Bewältigung dieses historisch einmaligen Vorgangs braucht die russische Gesellschaft aber mehr Zeit. Seit 1991 sind erst zwanzig Jahre vergangen.