Nie von Wilhelm Leibl gehört? Er sei bloss Spezialisten bekannt, sagte Zürichs Kunsthausdirektor Peter Becker an der Medienkonferenz zur Eröffnung der ersten Leibl-Retrospektive in der Schweiz. Vielleicht kennen hierzulande tatsächlich nur wenige den Realisten, dem das Wie wichtiger war als das Was. Schliesslich ist sein Werk in Schweizer Museen – die Stiftung Oskar Reinhart in Winterthur bildet eine Ausnahme – kaum präsent. Wer sich aber in deutschen Sammlungen mit Kunst des 19.Jahrhunderts umsieht, stösst immer wieder auf seinen Namen – meist in Sälen mit der Überschrift „Wilhelm Leibl und sein Kreis“. Sie zeigen ihn zusammen mit seinen Freunden, mit denen er in München von 1871 bis 1873 eine lose Künstlergruppe bildete: Carl Schuch, Wilhelm Trübner, Theodor Alt, Johann Sperl, Hans Thoma waren dabei.
Wilhelm Leibl studierte in München, u. a. beim Historienmaler Carl Theodor von Piloty, malte spontan lebendige und skizzenhafte Ölbilder, dann, mit grossem Erfolg, repräsentative Porträts. Doch bald hatte er genug von Erfolg und Kunstbetrieb. 1873 zog er sich zurück nach Oberbayern, wo er sich ländlichen Themen widmete: Bauernmädchen, Landschaften, Menschen in bäuerlichen Innenräumen. Aus heutiger Sicht sind weder Sujets noch Malweise spektakulär. Die Versuchung ist gross, Leibl seiner ländlichen Idylle zu überlassen und sich im nächsten Museumssaal nach Glanzpunkten umzusehen.
Zu Recht? Zu Unrecht? Leibls Realismus – ihm fühlte er sich selber verpflichtet, und unter diesem Stichwort verbucht ihn die Kunstgeschichte – ist vergleichsweise harmlos. Es gibt keinerlei Sozialkritik und da ist nichts zu spüren von Brüchen in der Gesellschaft, nichts von der Industrialisierung und ihren Folgen, nichts von Städten und Gründerzeit. Das brachte ihm mitunter auch herbe Kritik ein. Vorbei sind für Leibl aber auch Historienmalerei und verehrende Darstellung der herrschenden Aristokratie, wie sie Adolf von Menzel (neben allerdings ganz andern Themen, Bildern toter Soldaten zum Beispiel) noch pflegte, oder wie sie die reaktionäre Kulturpolitik Wilhelms II. förderte.
Rückzug und Aufbruch
Doch die Sache ist, wie meist, komplexer. Zog sich Leibl wirklich in die Idylle zurück? Vergleiche helfen weiter, zum Beispiel mit dem Schweizer „Idylliker“, dem 13 Jahre älteren Albert Anker, der lange Zeit zwischen Paris und seinen Salons und dem ruhigen Berner Seeland pendelte und als Maler der Bauern zu Ruhm gelangte. Anker blendete allerdings, trotz all der niedlichen Buben und selig schlafenden Mädchen, die politische Gegenwart nicht aus, im Gegenteil: Schulstuben, Ziviltrauung, Gemeindeversammlungen usw. lassen sich durchaus lesen als Bekenntnis zu den Errungenschaften der noch jungen modernen Schweiz. Bei Leibl findet sich nichts davon. In seinem Werk schlagen sich aber, ganz anders als beim künstlerisch konservativen Anker, die Entwicklungen der damals modernen Malerei nieder, jener Malerei, die Wilhelm II. verdammte. Und da ist von einer Idylle wenig zu spüren, umso mehr aber von einem vom Künstler viel Energie und Geduld abfordernden Weg ins Neuland. Der Rückzug wird zum Aufbruch.
Zügige und frische Malweise
Gustav Courbet, der 1869 in München Leibls „Bildnis der Frau Gedon“ sah, würdigte sein jugendliches Talent und schlug ihm vor, nach Paris zu kommen, wo Leibl im Salon Erfolg hatte und auch Werken Edouard Manets begegnete. In der Zürcher Ausstellung begegnen sich in einem Raum Manets Portrait von Albert Wolff (1877) und Leibls Bildnis des Malers Szinyei Merse (1869), und da kann der jüngere Deutsche durchaus vor dem grossen Franzosen bestehen. In manchen Werken mutet Leibls Malweise durchaus „französisch“ an. Er malte „alla prima“, nass in nass, zügig und frisch. Seine Malerei, in der Leibls Verneigung vor Rembrandt oder Frans Hals spürbar wird, verzichtet weitgehend auf Konturen und lässt die Farbflächen zu lebendigen Körpern werden. Auch im Porträt liebt er Spontaneität und Direktheit.
Manches mutet impressionistisch an, seine Interieurs zum Beispiel und die Art und Weise, wie er die Personen im meist dunklen Raum situiert und dem spärlichen Licht aussetzt. Manch ein unkonventioneller und geradezu „antiklassischer“ Bildausschnitt kann an Degas erinnern. In Leibls späten Landschaften steht meist Atmosphärisches im Vordergrund. Hier tritt das Sujet in den Hintergrund, wichtig wird, wie es in Malerei umgesetzt wird.
Selbstkritik und Reflexion
Leibl liebt das bäuerliche Milieu Oberbayerns. Zu seinen Modellen pflegte er herzliche Beziehungen. Sein Rückzug in die Idylle, wenn es denn einer ist, wird aber, das zeigen diese Werke, gleichzeitig zum Aufbruch in die Moderne. (Auch da ein vergleichender Hinweis auf einen Schweizer „Idylliker“ und Leibl-Zeitgenossen – auf Robert Zünd, der in seinen Eichen- und Buchenwäldern wohl zu einem unverwechselbaren Personalstil fand, mit seiner fast buchhalterischen Überpräzision aber aus der Zeit gefallen scheint.) Zu diesem Aspekt des Modernen gehört auch das Reflexionsvermögen des Künstlers, der, ganz im Gegensatz zu den zeitgleich arbeitenden Historienmalern und „Malerfürsten“ wie Anton von Werner in Berlin, seinem eigenen Werk mit Skepsis und harter Selbstkritik begegnete und sich stets auch des Scheiterns als Möglichkeit bewusst blieb. Schlagendes Beispiel: „Das Mädchen mit der Nelke“, in Öl auf Holz gemalt, zersägte er. Übrig blieben, später je einzeln gerahmt, das Porträt selber sowie die beiden Hände. Ähnlich verfuhr er mit einem seiner Hauptwerke, dem 1882/1886 entstandenen Gemälde „Wildschützen“, das er aus Unmut über den Misserfolg mit diesem Werk, das ihn lange Zeit beanspruchte, ebenfalls zerteilte.
Vom zerstörten Gemälde „Wildschützen“ gibt es eine Fotografie. Auch sind zahlreiche Kohlestudien erhalten. In der 114 Katalognummern umfassenden Zürcher Ausstellung belegen sie, zusammen mit vielen anderen Zeichnungen, Wilhelm Leibls hohes Können im Umgang mit diesem Medium.
Kunsthaus Zürich. Bis 19. Januar. Kuratiert von Marianne von Manstein und Bernhard von Waldkirch. Katalog 280 Seiten, 55 Franken. Die Ausstellung wird vom 31. Januar bis 10. Mai 2020 in der Albertina in Wien zu sehen sein.