Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf zeigt sich derzeit als „drole de guerre“. Auf Nebenkriegsschauplätzen liefern sich die zwei Kandidaten Gefechte, ohne aber den Gegner nachhaltig schwächen zu können. Nationale Umfragen zeigen nach wie vor ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Präsident Barack Obama und Herausforderer Mitt Romney, und die fünf bis zehn Prozent unentschiedener Wähler sind immer noch unentschlossen. Experten warnen davor, den Eindruck überzubewerten, Romney sei aufgrund mehrerer selbst verschuldeter Pannen angeschlagen, ja unter Umständen tödlich verwundet. Dafür gehe es der Wirtschaft viel zu schlecht, wovon erfahrungsmäss ein Herausforderer profitiere.
Kommentatoren werden nicht müde, eine „October surprise“ zu erwähnen, ein unvorhergesehenes Ereignis, das den Wahlkampf kurz vor dem Urnengang am 6. November in eine völlig neue Richtung lenken oder gar entscheiden könnte. Der Begriff stammt aus dem Jahr 1972, als Henry Kissinger, Präsident Nixons Unterhändler bei den Friedensgesprächen in Paris, zwölf Tage vor der Wahl vollmündig verkündete, ein Frieden mit Nordvietnam sei zum Greifen nah: „Peace is at hand.“.
Die Demokraten legen fast überall zu
Zwar sollten in Ostasien noch drei Jahre dauern vergehen, bis sich die letzten Amerikaner von einem Hausdach in Saigon aus per Helikopter vor dem anrückenden Feind in Sicherheit brachten. Doch Kissingers frohe Botschaft half Richard Nixon, den demokratischen Herausforderer George McGovern hinter sich zu lassen.
Trotzdem fragt die „Washington Post“ bereits jetzt, ob die Wahl 2012 in Richtung eines Sieges der Demokraten tendiere: „Entweder befinden wir uns am Scheideweg (…), oder etliche Umfragen liegen völlig daneben.“
Zwar zitiert das Blatt auch eine Befragung unentschiedener Wähler, laut welcher Barack Obama landesweit mit lediglich einem Prozentpunkt vor Mitt Romney liegt. Umfragen in einzelnen Bundesstaaten zeigen aber, das die Demokraten fast überall zugelegt haben und das nicht nur auf präsidialer Ebene, sondern auch bei den wichtigen Rennen um den Einzug in den Senat. Dort halten die Demokraten derzeit noch mit 53 zu 47 Sitzen die Mehrheit – ein Vorsprung, den die Republikaner mit drei bis vier Sitzgewinnen wettzumachen hoffen. Den Umfragen zufolge haben die Demokraten jüngst ausgerechnet in Staaten zugelegt, die im November als Wahl entscheidend gelten: Ohio, Virginia und Florida.
Obama "der glücklichste zeitgenössische Politiker"
Beunruhigen dürften Republikaner auch die Ergebnisse von Befragungen, laut denen Mitt Romney seinen Vorsprung gegenüber Barack Obama eingebüsst hat bei der Frage, wem die Wähler eher zutrauen, die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen und Arbeitsplätze zu schaffen. Unentschiedene erwarten heute eher vom Präsidenten als vom Herausforderer, dass er Amerikas enormes Haushaltsdefizit verringern kann. Zudem ist die Zahl jener Wähler im Steigen begriffen, die glauben, die Nation sei auf dem richtigen Weg.
Die rückläufigen Umfragezahlen haben Mitt Romney und die Republikaner sich selbst zuzuschreiben. Dabei ist es nicht so, dass Barack Obama urplötzlich alle Misserfolge seiner Amtszeit hat vergessen lassen und erneut als Kandidat überzeugt, der wie Anno 2008 Hoffnungen auf einen Wechsel weckt: „Yes, we can.“ Matt Latimer nennt den Präsidenten im „Daily Beast“ schlicht „den glücklichsten zeitgenössischen Politiker“.
Der 17. Mai
Und wieso das? „Unser Oberkommandierender präsidiert eine marode Wirtschaft, eine hohe Arbeitslosigkeit, eine turbulente Weltlage sowie eine massive Staatsverschuldung und wirkt trotzdem selbst auf Freunde selbstsicher und arrogant.“ Die nicht wiedergewählten Präsidenten Jimmy Carter und George H. W. Bush würden wohl, so Latimer, irgendwo frustriert ihr Schicksal verfluchen: „Was muss ein Kerl dieser Tage alles tun, um eine Wahl zu verlieren?“
Auf jeden Fall sollte einer vermeiden, was Mitt Romney am 17. Mai anlässlich eines Auftritts in Boca Raton (Florida) widerfahren ist. Der Republikaner sprach dort vor Anhängern, die bis zu 50 000 Dollar pro Kopf bezahlt hatten, um ihn während eines noblen Dinners sprechen zu hören. Laut einem Video, welches das linksliberale Magazin „Mother Jones“ veröffentlicht hat, sagte der Kandidat, dass 47 Prozent aller Amerikaner „auf jeden Fall“ für Präsident Obama stimmen würden, weil sie sich schon zum Voraus als Opfer sähen und ohne Sozialhilfe des Staates nicht überleben könnten. Auch würden diese Wähler keine Steuern zahlen.
Diese Leute, dozierte Romney, kümmerten ihn nicht, weil es ihm sowieso nie gelingen werde, sie davon zu überzeugen, persönliche Verantwortung zu übernehmen und selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Dass sich unter den 47 Prozent amerikanischer Staatshilfebezüger aber mitnichten nur Schmarotzer befinden, sondern Millionen von Alten oder Kranken, die unverschuldet in Not geraten sind, übersah der Republikaner geflissentlich.
"Wir haben ein grosses Herz"
Doch inzwischen ist Mitt Romney, nach mehreren Tagen der Uneinsichtigkeit, zurückgerudert. Er habe in Boca Raton „nicht elegant formuliert“, erklärte er in einem Interview mit dem spanischsprachigen Fernsehkanal „Univision“ wenig überzeugend. „Meine Kandidatur dreht sich um die 100 Prozent in Amerika und ich sorge mich um sie“, sagte der 65-Jährige: „Ich habe bewiesen, dass ich fähig bin, den 100 Prozent zu helfen.“
Später räumte der Republikaner sogar ein, dass der Staat für seine Bürger in der Tat eine wichtige Rolle spielen könne: „So funktioniert Amerika. Wir haben ein grosses Herz. Wir kümmern uns um Leute in Not. Wir helfen ihnen, wieder aufzustehen. Dann aber sorgen wir dafür, dass sich daraus kein permanenter Lebensstil entwickelt.“
Rache wird kalt gegessen
Ironisch an der ganzen Geschichte ist der Umstand, dass ausgerechnet ein Enkel Jimmy Carters den Autor oder die Autorin des fraglichen Videos überzeugen half, das Dokument einem Reporter von „Mother Jones“ zuzuspielen. Ironisch deshalb, weil Mitt Romney sich im Wahlkampf 2012 wiederholt über Präsident Carter mokiert und ihn verschiedener Schwächen bezichtigt hat. Der Demokrat aus Georgia wurde 1980 auch aufgrund des gescheiterten Versuchs, 53 amerikanische Geiseln in Teheran zu befreien, nicht wiedergewählt und musste seinen Sessel im Oval Office für Ronald Reagan räumen. Rache, heisst es im Amerikanischen, sei ein Gericht, das am besten kalt gegessen wird.
Doch auch neben dem „47 Prozent-Video“ ist Mitt Romney in jüngster Zeit etliches Ungemach widerfahren. Medien haben wiederholt berichtet, es gäre unter seinen Beratern, weil sie sich bezüglich einer Erfolg versprechenden Wahlkampstrategie uneinig seien. Die Berichte wurden zwar jeweils umgehend dementiert, sind aber noch nicht verstummt. Auch deshalb nicht, weil unter der Woche Tim Pawlenty, der Co-Leiter von Romneys Wahlkampforganisation, überraschend von seinem Posten zurückgetreten ist.
"Sich nicht von täglichen Umfragen ablenken lassen"
Der frühere Gouverneur von Minnesota, der anfänglich selbst kurz kandidiert hatte, wird in Washington DC Leiter einer Finanzlobby. Multimillionär Romney, den die Demokraten seines intransparenten Finanzgebarens wegen attackieren, bedauerte zwar den Abgang seiner Top-Beraters, sah aber sofort auch das Positive: „Seine neue Position, in der er die Integrität unseres Finanzsystems fördert, ist lebenswichtig für die Zukunft unseres Landes.“
Nun soll ein publizitätsträchtiger Bus-Trip ins Landesinnere Abhilfe schaffen und Romneys angeschlagenes Image bei den Wählern wieder aufpolieren helfen. Auch Vizepräsidentschaftskandidat Paul Ryan geht „on the road“, nachdem er seine Parteifreunde im Kongress in Washington DC aufgefordert hat, „sich nicht von täglichen Umfragen ablenken zu lassen“ und „positiv eingestellt zu bleiben.“ Derweil hat „Mother Jones“, nicht ohne Schadenfreude, eine Bildstrecke mit Aufnahmen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten auf ihre Website gestellt. Der Titel des Foto-Essays: „17 Bilder eines traurigen Mitt Romney.“
Quellen: „The Washington Post“; „The New York Times“; „The Daily Beast“; The Independent“; CNN