Es war für Robert Frank ein „homecoming“ der besonderen Art. Von der Abgeschiedenheit seines Domizils im Fischerdorf Mabou am Golf von St. Lawrence, von wo aus er, wie er erzählte, gern aufs Meer hinausschaut, kehrte der 87-Jährige in die Schweiz zurück, aus der er 1947 via Paris in die USA ausgewandert war. Statt am Ufer des Atlantiks stand Robert Frank auf der Bühne des Berner Stadttheaters und nahm eine „standing ovation“ des Publikums entgegen.
Der Beifall galt einem Künstler, dessen 1959 in den USA erschienenes Fotobuch „The Americans“ als Meisterwerk in die Geschichte des Mediums eingegangen ist. Das Vorwort zum Buch mit seinen 83 Schwarzweiss-Aufnahmen schrieb der Autor Jack Kerouac (1922-1969), auch er eine Legende. Kerouacs weitgehend autobiografischer Kultroman „On the Road“ gilt als eines der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur. Robert Frank weilte in Bern, weil er den „Swiss Press Photo Lifetime Achievement Award“ gewonnen hatte. Die prestigeträchtige Auszeichnung war 2011 an Fotoreporter und „Magnum“-Mitglied René Burri gegangen.
Die Suche am Rande
Von der Bühne schaute der leicht gebrechlich wirkende Preisträger ins Rund des Theaters und erläuterte in wenigen Worten, wie wichtig die Aussicht - „the view“ - für einen Fotografen sei. Robert Franks Blick ist stets ein spezieller gewesen. Ihn interessierte nie das Auffällige, das Spektakuläre, das Zentrale. Er schaute lieber auf das Unscheinbare, zu den Rändern und den Grenzen hin, wo sich Aussichten, Erscheinungen und Horizonte verwischen und nur noch schwierig zu greifen sind. Das gilt auch für die Menschen, die Robert Frank fotografiert hat. Er suchte lieber die Leute am Rande, Existenzen, die sonst ausgeblendet, übersehen und vergessen wurden.
Das Mitgefühl des Fotografen galt auch den Verlierern, die es in Amerika aller gegenteiligen Propaganda zum Trotz immer auch gegeben hat. Jedenfalls gab es sie Mitte der 50er-Jahre, als Robert Frank auf drei ausgedehnten Reisen mit einem gebrauchten Ford quer durch das Land den Stoff für „The Americans“ sammelte. Er machte rund 27 000 Aufnahmen, von denen er etwa 1000 vergrösserte, aus welchen er am Ende 83 Bilder für das Buch auswählte. Einer nannte die Aufnahmen einst „83 Dolchstiche direkt ins Herz des Mythos“. Frank selbst hatte 1951 in der Illustrierten „Life“ gesagt: “Wenn die Leute meine Bilder anschauen, möchte ich, dass sie das Selbe fühlen, wie wenn sie die Zeile eines Gedichts zweimal lesen wollen.“
"Trauriges Gedicht einer schwerkranken Person
„On the road“ dokumentierte Robert Frank die Kehrseite des amerikanischen Traums, und die wollten damals, in der Zeit des Aufbruchs und Aufschwungs nach dem 2. Weltkrieg, nicht alle sehen: Armut, Einsamkeit, Entfremdung, Diskriminierung, Pessimismus. Einmal, unterwegs in Arkansas, wurde der Fotograf von der Polizei verhaftet. Die Polizisten, Kinder des Kalten Krieges, glaubten, der Ausländer mit dem fremden Akzent und den Kameras handele sei ein kommunistischer Spion.
Als „The Americans“ 1959 (ein Jahr später als in Frankreich) auch in den USA erschien, fragte das Magazin „Popular Photography“ eine Reihe einheimischer Schriftsteller um ihre Meinung. Die Reaktionen fielen fast alle negativ aus. „Sie beschrieben das Buch als das traurige Gedicht einer schwerkranken Person“, sagt Sarah Greenough, die 2009 in der National Gallery of Art in Washington DC eine Ausstellung zum Gedenken an das Erscheinen des Buches vor 50 Jahren kuratiert hat.
Der Misserfolg am Anfang
Ein Rezensent in „Popular Photography“ nannte das Werk „etwas sinnlos Verschwommenes, Korn, matschige Einstellungen, betrunkene Horizonte und allgemeine Schlamperei“. Der „New Yorker“ dagegen ortete im Bildband „einen gelungenen sozialen Kommentar“, der allerdings „mit brutaler Sensibilität“ ausgedrückt werde. Anfänglich verkaufte der Verlag Grove Press lediglich gegen 1000 Exemplare des Buches. Wer „The Americans“ heute auf Amazon.com kaufen will, stösst auf den Hinweis „Sold out“.
Jack Kerouac indes schrieb Folgendes über die Bilder seines Freundes: „Wer diese Bilder nicht mag, liebt keine Poesie. Wer Poesie nicht mag, soll nach Hause gehen und sich am Fernsehen Bilder von Cowboys mit grossen Hüten ansehen, denen zahme Pferde nichts antun. Robert Frank, Schweizer, unaufdringlich, nett, mit jener kleinen Kamera, die er hochhebt und dann einhändig abdrückt, hat aus Amerika ein trauriges Gedicht direkt auf Film gesogen und sich gleichrangig unter die traurigen Poeten dieser Welt eingereiht.“
Sehen, wie man Blut spuckt
Robert Frank selbst sagt von sich, er liebe Amerika, weil dort alles möglich sei. Und er sei inzwischen auch Amerikaner geworden, ein freier Mann, ohne das Gepäck einer einengenden Gesellschaft oder einer belastenden Geschichte.
„Ich hatte noch nie zuvor etwas Ähnliches gesehen“, erinnerte sich der 75-jährige Ed Ruscha, einer der Väter der Pop Art, vor drei Jahren anlässlich der Frank-Retrospektive in Amerikas Hauptstadt: „Robert Frank kam hierher und bewies, dass du die USA sehen kannst, bis du Blut spuckst.“ Der Schweizer Auswanderer inspirierte auch Joel Meyerowitz, einen Pionier der Farbfotografie, dazu, seinen Job als Art Director einer kleinen New Yorker Werbeagentur aufzugeben und zur Kamera zu greifen: „Die Vision, die jenem Buch entströmte, hat nicht nur mich, sondern eine ganze Generation von Fotografen gewissermassen in die amerikanische Landschaft hinaus geleitet – Amerikas irre Erhabenheit.“
Nachdem „The Americans“ 1959 erschienen war, hörte Robert Frank vorübergehend zu fotografieren auf und begann die ersten seiner eigenwilligen Filme zu drehen. Er habe sich, meint Franks 78-jährige Frau June Leaf, auch sie Künstlerin, nicht einfach wiederholen, sondern Neues schaffen wollen, auch auf das Risiko hin, zu scheitern.
„It’s all about going on.“
Der berüchtigtste unter Franks 25 Streifen ist wohl der Dokumentarfilm „Cocksucker Blues“. Das „Rockumentary“ darf aus juristischen Gründen nur selten gezeigt werden (Mick Jagger mag den Film nicht), war aber am Wochenende in Bern als Hommage an Robert Frank im Kino Kunstmuseum zu sehen. „Cocksucker Blues“ dokumentiert die US-Tournee der „Rolling Stones“ im Jahre 1972, eine wilde Abfolge von Konzerten, Drogenexzessen und Orgien.
Vor der Vorführung des Films in Bern stand Robert Frank dem Fotografen Michael von Graffenried Rede und Antwort. Im Gespräch habe Frank, berichtete der „Bund“ danach, nachdenklich bemerkt, das Leben sei ohnehin nichts anderes als die ständige Frage, wie man weiter machen könne: „It’s all about going on.“. Am wichtigsten im Leben sei ihm das Lob von Leuten gewesen, die ihm etwas bedeuteten, „viel wichtiger als das Geld, das ich mir mit meinen Bildern verdient habe.“
„It’s all about going on“: Robert Frank hat in seiner langen Vita viel hinter sich gelassen und oft weitergemacht - nach der Emigration aus der Enge der Heimat in die USA, nach dem grossen Erfolg von „The Americans“, nach dem tragischen Tod seiner beiden Kinder, seiner Tochter Andrea, die 21-jährig bei einem Flugzeugunglück in Guatemala starb, und seines Sohnes Pablo, der sich, geisteskrank, 1994 das Leben nahm.
Kalt, hart - und wahr
„Du kannst das Leben abbilden“, hat Robert Frank 2008 während eines China-Trips dem Journalisten Charlie LeDuff von „Vanity Fair“ erklärt: „Du kannst es aber nicht kontrollieren.“ Der Trip, zu einem Fotofestival in der Stadt Pingyao, würde wohl, mutmasste Frank, seine letzte grosse Reise sein.
„Während er sich selbst als Künstler gefunden hat, verlor Frank langsam seine Familie“, schrieb der Reporter im Glamour-Magazin: „Sein Spätwerk ist von Verzweiflung und Zorn geprägt, alte Fotos und Filme werden mit neuem Stoff gemischt, als ob er versuchte, etwas zu verheissen, als ob das Glück neu zwingen könnte. Seine Polaroid-Bilder der 70er- und 80er-Jahre sind mit Kratzern und Gekribbel verunstaltet, als ob er die Kunst zerstören wollte. Die Werke jener Zeit sind ein emotionales und ästhetisches Durcheinander und wahrscheinlich etwas vom Besten, was er je geschaffen hat. Sie sind wie in Stein gemeisselt, kalt, hart. Und wahr.“
Es gebe heute zu viele Bilder, zitiert Charlie LeDuff Robert Frank in „Vanity Fair“: „Es gibt zu viele Kameras. Wir werden alle beobachtet. Es wird blöd und blöder. Als ob alles, was passiert, bedeutungsvoll wäre. Nichts ist wirklich so besonders. Es ist einfach das Leben. Wenn alle Augenblicke festgehalten werden, dann ist nichts mehr schön und dann ist die Fotografie vielleicht keine Kunst mehr. Vielleicht ist sie das nie gewesen.“ Der Beifall abends im Berner im Berner Stadttheater zeigte, dass das Publikum respektvoll anderer Meinung war. „Robert Frank is here to stay.“