Doch die Stimme der Revolution hört man in diesem Jahr nur in der virtuellen Welt. In der realen türmen sich die wirtschaftlichen, politischen, gesundheitlichen und moralischen Trümmer berghoch auf.
„Es blieb nur Ali und sein Wasserbecken“ („ علی ماند و حوضش „): Diesen Spruch kennt jeder Iraner. Er ist eine ironische und zugleich realistische Warnung an die Mächtigen. Die Geschichte, die mit dieser Volksweisheit endet, will die Folgen der Intoleranz in drastischer Form offenbaren: Am Ende kann sogar Ali, der erste Imam der Schiiten, allein dastehen. Schlimmeres ist unvorstellbar, jedenfalls für einen gläubigen Schiiten.
Nach langem Warten in der Wüste der Prüfung marschieren die durstigen Gottesfürchtigen zum heiligen Becken کوثر, Kawthar. Dort steht Ali, hält einen Kelch in der Hand und will das seit Ewigkeiten ersehnte Wasser verteilen. Jeder, der sünd- und schuldlos sei, möge zum Kelch kommen, ruft er. Doch niemand kommt, denn es findet sich keiner ohne Sünde. Und Ali, dieses Sinnbild des Guten, bleibt mit seinem heiligen Wasser allein. Man kann darin auch lesen, der Imam und Führer der Gläubigen sei gescheitert. Ist in der Welt etwas Desaströseres und Dramatischeres vorstellbar? Wohl kaum.
Die Herrlichkeit der Macht
Ali Khamenei, der Revolutionsführer der Islamischen Republik, ruft jeden zum Feiern des heiligen Tages, des 10. Februar, auf. Die Feiern zum Siegestag der Revolution sind eine politische, nationale und religiöse Pflicht, und noch wichtiger: eine persönliche Machtdemonstration Khameneis. 41 Jahre lang zeigte die iranische Herrschaft an diesem Tag ihre Macht in all ihren Facetten. Nach monatelangen Planungen und intensiver Propaganda, nach einem zweiwöchigen Musik-, Theater- und Kinofestival sollten Menschenmassen in den Gross- und Kleinstädten an diesem Tag die Volksverbundenheit der „Republik“ im wahrsten Sinne des Wortes demonstrieren, den Feinden und Freunden im Inneren ebenso wie im Ausland. Für diesen Tag gab man deshalb ausländischen Journalisten leichter als sonst Pressevisa, damit sie die Bilder aus Teheran in die Welt tragen.
Was macht man aber, wenn ein unsichtbares Virus der Herrlichkeit der Macht in die Quere kommt und Massenaufmärsche unmöglich macht? Das werden wir sehen.
Doch auch ohne Corona wäre in diesem Jahr eine vorzeigbare Machtdemonstration, mit der man Freunde begeistern und Feinde beeindrucken könnte, schwierig bis unmöglich gewesen. Corona erspare den Mächtigen in diesem Jahr eine Blamage, sagen viele Beobachter.
Auf die Kameras kommt es an
Sowieso hatten diese Feierlichkeiten schon in den vergangenen Jahren aufgehört, eine Demonstration der Volksverbundenheit zu sein. Freiwillige waren in der Minderheit, die Teilnehmer der Aufmärsche waren bestellte Gruppen, die mit Bussen in die Grossstädte gebracht wurden, wie auch Schüler oder Staatsbedienstete. So sammelten sich in der Grossstadt Teheran mit ihren fast 12 Millionen Einwohnern schliesslich einige Tausend; nicht viele, doch genug für Fernsehbilder. Denn auf diese Bilder und auf die Kunst der richtigen Kameraeinstellung kommt es schliesslich an.
Die überwiegende Mehrheit, manche Beobachter sagen, fast zwei Drittel der Iraner, ist mit der Innen- und Aussenpolitik des Regimes unzufrieden. Hoffnungslosigkeit ist die dominierende Stimmung, gesundheitlich, politisch und wirtschaftlich wird es täglich hoffnungsloser im Land. Trump ist zwar weg, doch seine Sanktionen lasten weiterhin mit voller Wucht auf dem Iran.
Fünf Regierungen, nicht neben-, sondern gegeneinander
„In unserem Land gibt es keinen allgemeinen Konsens über die Aussenpolitik“, sagte der iranische Aussenminister Mohammed Javad Zarif am 6. Februar. Er selbst bemüht sich um die Annäherung an die USA. Tags darauf trat Ali Khamenei vor Offiziere der iranischen Luftwaffe und lehnte Verhandlungen mit den USA ab. Erst müsse Amerika alle Sanktionen aufheben, dann werde man sehen.
Nach monatelanger Abwesenheit empfängt Khamenei in letzter Zeit wieder bestimmte Gruppen. Man sieht ihn sogar ohne Maske. Der Volksmund behauptet, er habe längst Pfizer-Vakzine bekommen, obwohl er die Einfuhr westlicher Impfstoffe verboten hat.
Realistisch betrachtet gebe es im Iran fünf Regierungen, nicht neben-, sondern gegeneinander. Das sagt kein Geringerer als Abbas Akhundi, der in den letzten drei Dekaden unter unterschiedlichen Präsidenten Schlüsselministerien leitete, zuletzt als Wohnungs- und Verkehrsminister der Regierung Rouhani. Korruption beherrsche einen grossen Teil der Wirtschaft, und je länger die Sanktionen dauerten, umso mächtiger würden Schattenmächte und Schmuggler, so Akhundi.
Kann eine ganze Nation konterrevolutionär sein?
Einen Tag vor dem altgedienten Minister hatte der frühere Präsident Mahmud Ahmadinedschad einen bemerkenswerten Auftritt vor Arbeitern in der heiligen Stadt Qom. „Wenn jemand protestiert, sagen sie zu ihm: Du bist konterrevolutionär. Heute protestiert die gesamte Nation. Kann eine ganze Nation konterrevolutionär sein?“, fragte er dort. Und setzte noch eins darauf: „Wären Konterrevolutionäre an der Macht, wäre die Unzufriedenheit des Volkes viel geringer als heute.“
Wer in wenigen Monaten auf Rouhanis Regierung folgen wird, scheint uninteressant, denn bestimmend für die Zukunft des Iran und seiner Menschen sind die mächtigen Parallelregierungen.
Wie feiert man den Jahrestag der Revolution in Zeiten solcher Unzufriedenheit, in der zudem eine Seuche grassiert?
Cyberarmee im Einsatz
Das Reale ist unerträglich, unansehnlich und keineswegs feierlich. Es lebe das Irreale, das Virtuelle also. Hassan Mohebbi, Vizekommandant für Propaganda der Revolutionsgarden, verkündete kurz vor dem Jahrestag: 1’100 Bataillone der Cyberarmee stünden bereit, um am Tag der Revolution die Macht der Islamischen Republik zu demonstrieren, 5’000 Rednern und „Aufklärern“ seien Redelizenzen erteilt worden. Die Macht der Revolution soll also in diesem Jahr nicht auf den Teheraner Strassen, sondern dort präsentiert werden, wo auch echte Konterrevolutionäre omnipräsent sind: In der virtuellen Welt der Iraner und in deren sozialen Netzwerken geben diverse Gruppen der iranischen Opposition den Ton an.
Die „Feierlichkeiten“ dieses Jahres demonstrieren also in jeder Hinsicht den Niedergang und die Niederlage. Aus den politischen, wirtschaftlichen und moralischen Trümmern hören wir an diesem Tag die Revolutionäre rufen: „Wir sind noch am Leben!“. Nur: Wie lange noch?
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Mit freundlicher Genehmigung vom Iran Journal