Russland tut sich schwer mit seinem Revolutionsjubiläum. Da geht das Tandem der grossen Berner Kunstmuseen – Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee – die Sache denn doch etwas entspannter an. Unter dem Titel „Die Revolution ist tot, lang lebe die Revolution!“ präsentieren die beiden organisatorisch verbundenen Häuser eine Doppelausstellung über die Kunst der Revolution und ihre Nachbeben bis zur Jetztzeit.
Kunst für neue Menschen
Das Paul Klee gewidmete Haus am Stadtrand verfolgt dabei die Linie, auf der auch sein Namensgeber in Erscheinung tritt. Sie nimmt ihren Ausgang beim Big Bang der abstrakten Kunst, der 1915 in St. Petersburg abgehaltenen Ausstellung „0,10“ mit dem ikonischen Schwarzen Quadrat von Kasimir Malewitsch. Der russische Suprematismus und Konstruktivismus ist nach der Einführung der Zentralperspektive die wohl radikalste Erneuerung in der abendländischen Kunst. Sie hat mit dem Prinzip der Nachahmung gebrochen. Ihre abstrakten Bildgegenstände sind keine Repräsentationen mehr, sondern freie Konstruktionen. Die Ursprünge der Bilder liegen nicht in gesehenen Objekten, sondern in gedachten Ideen.
Diese Kunst ist wahrhaftig revolutionär, und nicht anders verstand sie sich von Anfang an. Dabei ging es ihr nicht nur um eine Revolutionierung der Kunst, sondern sie erhob den Anspruch auf eine Führungsrolle bei der Umformung der Gesellschaft und der Schaffung des Neuen Menschen. Wladimir Tatlin, El Lissitzky und weitere Pioniere der Abstraktion waren gleichzeitig kühne Designer. Ihre Visionen vor allem für Architektur weisen weit in die Zukunft und haben sich ihre Modernität bewahrt. Erst mit mehrjähriger Verzögerung bekamen die Russen Kenntnis von parallelen Entwicklungen im Westen Europas. Die holländische „De Stijl“-Bewegung hatte gleichzeitig ganz ähnliche künstlerische Prinzipien entwickelt.
Vitale Strömung bis heute
Die Strömung des Gestaltens rein aus Ideen und in elementaren geometrischen Formen ist in der bildenden Kunst seither nie versiegt. Durch das Bauhaus gewinnt sie einen bestimmenden Einfluss auf Architektur und Design des 20. und 21. Jahrhunderts. Produkte und Stadtbilder sind in grossem Ausmass von Bauhaus-Ästhetik geprägt, weil es zu den Grundsätzen des Bauhauses gehörte, die Gestaltung auf industrielle Fertigungsprozesse auszurichten. Die oft gehörten Klagen über angeblich durch das Bauhaus uniformierte moderne Stadt- und Produktlandschaften sind deshalb falsch adressiert. Wer sich über Uniformität beklagen wollte, müsste die Industrialisierung anprangern.
Bis in die Gegenwartskunst ist die konstruktivistische Abstraktion vital geblieben. Von Piet Mondrian zu Sophie Taeuber-Arp, von den Zürcher Konstruktiven zur amerikanischen Minimal Art, von Radical Art bis zu neuen konstruktiven Positionen zieht sich ein breiter Strom von Bildauffassungen, die in reinen Ideen wurzeln und keinen direkten Bezug haben zu unmittelbar sichtbaren Gegebenheiten. Diese Kunst bewegt sich bis heute in produktiver Nähe zur Welt des Design und der Architektur. Das meiste, was hier an Neuem entsteht, ist von im weitesten Sinn konstruktivistischen Formensprachen inspiriert, die jeweils vorher von der bildenden Kunst hervorgebracht wurden.
Kunst im Dienst der Partei
Einer zweiten Linie sich revolutionär verstehender Kunst versucht der andere Teil der Ausstellung im Kunstmuseum Bern nachzuspüren. Mit der aus der Revolution hervorgegangenen Vielfalt künstlerischer Stile war es ab etwa 1930 in Russland vorbei. Der Sozialistische Realismus wurde unter Stalin als einzige zugelassene Richtung für alle Kunstgattungen strikte in den Dienst der Propaganda gestellt. Abweichende Positionen waren, da man nur als Mitglied der staatlichen Künstlerorganisationen beruflich Kunst machen konnte, faktisch unmöglich.
Für die bildende Kunst schrieb der Sozialistische Realismus vor, es sei die verwirklichte kommunistische Gesellschaft und der heroische Kampf auf dem Weg zu diesem gemäss marxistischer Ideologie feststehenden Ziel der Geschichte vor Augen zu stellen. Der verordnete „Realismus“ war also eine dialektische Angelegenheit: Es ging um die realistische Darstellung des noch nicht Realen – und damit um die Einreihung der Kunst in den Kampf der Massen zur Realisierung der kommunistischen Utopie.
Die ikonographischen und stilistischen Mittel zur Erreichung des von der Partei verordneten Kunstzwecks waren ebenfalls vorgegeben. Die ideologische Disziplinierung war rigoros, künstlerische Freiräume gab es kaum. Im Unterschied zu Jahrhunderten der höfischen und kirchlichen Kunst, die ja auch nicht frei war, herrschte im Sozialistischen Realismus die absolute Forderung nach Linientreue. Kein Wunder, geniesst die Produktion der Sowjetkunst insbesondere in Malerei und Plastik einen äusserst zweifelhaften Ruf. Die Bilder und Skulpturen sind theatralisch, unerträglich heroisch und oft ganz einfach Kitsch.
Steile These zum Sozrealismus
Dies zu dokumentieren, ist aus historischem Interesse verdienstvoll. Nun versucht es aber das Kunstmuseum Bern mit einer steilen These. Sie konstruiert in der neuesten Kunstgeschichte eine Strömung im Sinne derjenigen, wie sie unzweifelhaft vom Suprematismus ausgeht. Als Positionen, die sich auf den Sozialistischen Realismus beziehen sollen, führt das Kunstmuseum Bern ganz unterschiedliche Malweisen und vor allem unterschiedlich überzeugende Bezüge zum – wie er auch heisst – Sozrealismus ins Feld.
Einigermassen zwanglos geht die These auf mit den DDR-Künstlern Willi Sitte und Wolfgang Mattheuer. Ihre Spielart von Sozrealismus ist differenzierter und künstlerisch relevanter als das sowjetische Vorbild. Hier kann man tatsächlich von einer Weiterentwicklung sprechen. Bei den ebenfalls in den Kontext der sowjetischen Parteikunst gestellten westdeutschen Künstlern Jörg Immendorff und Martin Kippenberger wie auch bei grossen Namen aus der Zeit der späten Sowjetunion wie Erik Bulatov und Ilya Kabakov werden die Bezüge zum Sozrealismus jedoch dünn. Zwar kann man hier wie dort auf den Realismus und teilweise verbindende Themen verweisen, doch beides erscheint zumeist in einer beissend ironischen Brechung, die diese Künstler weit von der sowjetischen Parteikunst wegrückt.
Wenn in Bildern von Georg Baselitz mal Lenin oder andere Ikonen der Revolution vorkommen – natürlich auf den Kopf gestellt –, so ist bei ihm so viel an Distanzierung und Dekonstruktion im Spiel, dass der Bezug zum Sozrealismus trotz biographischer Anknüpfungen kaum mehr wesentlich ist. Bei Norbert Biskys hoch ironischen Bezügen zur alten Partei-Ikonographie wird augenscheinlich eher ein Schlussstrich gezogen als etwas weiter entwickelt. Nicht anders die gespenstischen Produktionen mancher postsowjetischer Künstler. Das Malerduo Vladimir Dubossarsky und Alexander Vinogradov (Bild eingangs des Artikels) treibt die Distanzierung bis zur Groteske. Von künstlerischer Kontinuität wollen sie bestimmt nichts wissen.
Revolutionäre und „revolutionäre“ Kunst
Die These eines kunsthistorischen Entwicklungsstroms vom Sozrealismus zu aktuellen Realismen, der jenem vom Suprematismus zu aktuellen Konstruktivismen parallel wäre – sie entspringt wohl dem Versuch, zwei verschiedene Arten revolutionärer Kunst nicht nur als Historien, sondern als Quellen aktueller Malerei zu sehen. Dass dieses Ausstellungskonzept nicht in beiden Teilen der Schau aufgeht, hat etwas mit unterschiedlichen Bezügen zur Revolution zu tun: Bei dem im Zentrum Paul Klee gezeigten Komplex kann man von revolutionärer Kunst im vollen Wortsinn sprechen; für die im Kunstmuseum Bern als Ausgangspunkt dienende ist eher die Bezeichnung „revolutionäre“ Kunst am Platz. Sie offenbart eine Praxis der revolutionären Phrasen ohne nachhaltige Substanz.
War der Titel „Die Revolution ist tot, lang lebe die Revolution!“ eine gute Wahl? Die Formel „Le roi est mort, vive le roi!“, mit der Herolde einst das Ableben des Monarchen auszurufen hatten, ist ja bis zum Gehtnichtmehr abgewandelt worden. Selbst unter Berücksichtigung aller Ironiesignale dieser erneuten Verwendung der Heroldformel wirkt sie für die russische Revolution doch angesichts von deren Blutzoll von etwa zwanzig Millionen Menschen und der geistigen Verheerungen ziemlich deplatziert. Der Titel könnte suggerieren, man nehme es mit dem Thema Revolution etwas sehr locker. Erst wer sich in die Ausstellung vertieft und den Katalog konsultiert, wird sehen, dass dem nicht so ist.
Sehenswert ist die Doppelausstellung in Bern nämlich unbedingt. Es sei empfohlen, mit dem Zentrum Paul Klee anzufangen und anschliessend die Schau im Kunstmuseum zu besuchen. Neben dem reichhaltigen und instruktiven Katalog verdient auch das ehrgeizige Begleitprogramm Aufmerksamkeit.
„Die Revolution ist tot, lang lebe die Revolution!“ Zentrum Paul Klee und Kunstmuseum Bern, 13. April bis 9. Juli 2017