Verschwindet die schiitische Geistlichkeit als gesellschaftliche Säule Irans, verkommt sie zur reinen Machtapparatur? Landesweite Attacken, Schmähungen und Mord bzw. Mordversuche an Mullahs häufen sich. Jeder Turbanträger wird als Vertreter und Symbol der verhassten Herrschaft angesehen.
«Die Wurzel war so tief, dass es Geistlicher bedurfte, um sie auszureissen» – dieser inzwischen geflügelte Satz stammt von Abdolkarim Soroush, einst Vorzeigeintellektueller und Philosoph der Islamischen Republik. Gemeint ist die schiitische Wurzel im Volksglauben der Iraner und Iranerinnen.
Über Soroushs Thesen und Tabubrüche schrieben Islamwissenschaftler rund um Welt einst Diplom-, Doktor- und Habilitationsarbeiten. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Seit fast zwei Dekaden weilt und lehrt Soroush im westlichen Ausland. Auch im Exil hat er spektakulär viele rote Linien überschritten. Er nahm sich sogar den Heiligsten der Heiligen aller Muslime vor und verkündete, der Koran sei kein Gotteswort, sondern Mohammeds stellenweise verworrene Träume.
Die Geschichte von Aufstieg und Fall dieses schiitischen Philosophen liest sich wie eine Chronik der Entstehung und Verwahrlosung jener «Republik», als deren Geburtshelfer er bestens fungierte. Er ist der «Neudenker» der schiitischen Religionsphilosophie, der eine lange Zeit auch jenseits Irans geachtet wurde.
Habermas: Du musst die Moderne wollen
Als 2005 Jürgen Habermas in Teheran weilte und von Soroushs Diskurs und seinem inneren Ringen mit der hässlichen Realität erfuhr, stellte er in der FAZ fest, Soroush wolle wie ein einheimischer Karl Popper erscheinen, ein iranischer Vater des «kritischen Rationalismus» sein. Aus dem Iran zurückgekehrt, riet Habermas Soroush und seinen Anhängern: Das «Reflexiv werden eines religiösen Bewusstseins», das sich im differenzierten Gehäuse der Moderne behaupten wolle, müsse sich wie ein Prozess von innen heraus vollziehen. Will heissen: Zunächst musst Du die Moderne begreifen und wollen und sie dann verinnerlichen. Eine wohlwollende Empfehlung, mehr nicht. Diesen Rat überhörte der Philosoph, damals wie heute, er hatte noch einen weiten Weg vor sich, wie wir sehen werden.
In seinem Reisebericht schrieb Habermas damals ausserdem: «Man müsste genauer wissen, was in den Köpfen der jungen, vor allem akademisch gebildeten Frauen vorgeht. Mehr als die Hälfte der Studenten sind heute schon Frauen. Wie viele von ihnen würden ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit ablegen, wenn sie dürften? Steckt in diesen Köpfen ein Sprengsatz, den das Regime der greisen Ayatollahs mehr zu fürchten hat als alles andere?»
Dies klang nicht nur, es war prophetisch. Achtzehn Jahre später hören wir die Antwort auf diese Fragen lauter denn je auf den Strassen Teherans und anderer Orte des Landes. Ja, unter dem Kopftuch war und ist ein Sprengsatz, von dessen Explosion mit Sicherheit inzwischen auch Habermas gehört hat. Die Lunte begann im vergangenen September, nach dem gewaltsamen Tod der kurdischen Studentin Jina Mahsa Amini, zu brennen – mal lichterloh, mal als kleine Flamme, doch entschärft ist dieser «Sprengsatz», wie manche glauben machen wollen, bisher keineswegs. Als die Schreie der Frauen nach «Frau, Leben, Freiheit» auch im Ausland zu vernehmen waren, outete sich auch Soroush und offenbarte, was er von der Moderne versteht, Karl Popper hin, Habermas her.
Der Neudenker und die Schauspielerin
Die Schauspielerin Golshifteh Farahani ist eine beliebte und international anerkannte Künstlerin. Die Vierzigjährige sass und sitzt in den Wettbewerbsjuries der Oscar-Verleihung und der Berlinale; seitdem sie 2009 den Iran verlassen musste, spielte sie in den USA und Europa in zahlreichen Filmen, die von der Kritik durchweg gelobt wurden. Sie ist eine sozial engagierte und politisch denkende Künstlerin und setzt sich zudem für Tuberkulosekranke ein.
Als sich im vergangenen Herbst, auf dem Höhepunkt der iranischen Frauenproteste, sechs oppositionelle Gruppen und Persönlichkeiten im Ausland zusammenschlossen, um effektiver gegen die Teheraner Macht zu opponieren, erschien auch Golshifteh und erklärte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Ihr Auftreten und ihre Kleidung, die nicht dem Hijab, sondern den Gepflogenheiten des westlichen Showbusiness folgt, lieferten Soroush den Anlass, sich politisch zu positionieren und gegen diesen oppositionellen Zusammenschluss zu polemisieren. Wortmächtig wie er ist und ohne die Schauspielerin beim Namen zu nennen, schrieb der Philosoph, ihre «Entblössung» sei ihre Prüfung gewesen: Erst nachdem sie sich «entblösst» habe, sei sie von der internationalen Kunstfamilie akzeptiert worden.
Diese beleidigenden und frauenfeindlichen Worte, bar jeglicher Ahnung, wie die Kunst im Westen funktioniert, kamen nicht von einem reaktionären Mullah aus den schiitischen Seminaren, sondern aus dem Munde eines exilierten Islamtheoretikers, der als Mentor der schiitischen «Neudenker» gilt. Und sie sorgten für eine Welle der Empörung aus unterschiedlichen Richtungen. Selbst seine Ex-Schüler und treueste Anhänger stimmten in den Chor der Aufregung mit ein.
«Ihr lebt auf einem anderen Planeten»
Über die Art, wie sich diese schiitischen Vor- und Neudenker gegenseitig Exegesen der heiligen Texte und Interpretationen der Überlieferungen über den Hijab an den Kopf warfen, schrieb eine Studentin aus Teheran in ihrem Instagram-Account lakonisch: «Ihr lebt auf einem anderen Planeten.» Auch an dieser Auseinandersetzung lässt sich wieder einmal feststellen, dass im Iran längst ein Generationenkonflikt, eine Kulturrevolution ausgebrochen ist, die alle schiitischen Theologen, Fundamentalisten ebenso wie Reformisten, rat- und orientierungslos zurücklässt. Zwischen Oben und Unten ist ein beängstigender Graben entstanden, unüberwindbar tief und breit.
«Diesen Graben zwischen uns und dem Volk müssen wir so schnell wie möglich schliessen, unser bisheriger Weg war ein Irrweg», sagte in einer Videobotschaft Ayatollah Alavi Boroujerdi am 1. Mai dieses Jahres in Qom. Die Stadt gilt als heilig, hier pulsiert das Herz der Geistlichkeit schlechthin. Boroujerdis Grossvater war der Gründer der حوزه , Howzeh, des Zentrums der schiitischen Gelehrsamkeit Irans. «So etwas hat es in der Geschichte der Geistlichkeit noch nicht gegeben: Man überfährt in dieser Stadt, in Qom, absichtlich einen Turban tragenden Mullah, dann steigt der Fahrer aus und versucht sicherheitshalber noch, den Geistlichen mit einem Messer zu töten. Aus den fernen Städten bekomme ich Botschaften von manchen Geistlichen: Sie fürchten sich, ihre Häuser zu verlassen», beschreibt der Ayatollah die Situation seiner Zunft.
Alavi Boroujerdi ist ein Ostad, jemand, der in schiitischen Seminaren Rechtsfindung und Wege zur Fatwa lehrt, vereinfacht gesagt: Er bildet Grossayatollahs, die «Quellen der Nachahmung», aus.
Ende April 2023 erschoss ein Wachmann in einer Bankfiliale am Kaspischen Meer den Grossayatollah Soleimani. Der Geistliche gehörte dem مجلس خبرگان , dem iranischen Expertenrat, an, jenem mächtigen 86-köpfigen Gremium, das über Khameneis Nachfolger entscheidet. Die Hintergründe der Tat blieben im Dunklen, politische Motive hätte es nicht gegeben, wiederholen unisono die offiziellen Medien. Es würde zu weit führen, wollte man alle Attacken, Schmähungen, Morde und Mordversuche im Einzelnen aufzählen und beschreiben, die die schiitischen Geistlichkeit derzeit über sich ergehen lassen muss.
Armut als Ehre, das war einmal
Nicht alle Mullahs gehörten zur Machtelite, viele von ihnen seien selbst unzufrieden und arm, warnen einige Journalisten, die die Gemüter besänftigen wollen. Armut war für die schiitische Geistlichkeit einst ein Markenzeichen, beinahe eine Ehre, mit ihr ging man regelrecht hausieren. Mit Stolz erzählt Ali Khamenei von seiner Kindheit voller Entbehrungen und davon, wie seine mehrköpfige Familie in einer Einzimmerwohnung im Armenviertel der Stadt Mashhad hausen musste. Heute unterstehen Khamenei Stiftungen und Holdings, deren Wert auf mehrere Hundert Milliarden Dollar geschätzt wird. Der Revolution sei gedankt.
Welche Sprengkraft die Kombination von Schiitentum, Geistlichkeit und politischer Opposition in sich birgt, wusste niemand besser als Ruhollah Khomeini, der Gründer der islamischen Republik selbst.
Der Mullahs eigene Justiz
Einer seiner ersten Befehle nach der Machtübernahme war deshalb die Gründung von دادگاه روحانیت , dem «Sondergericht für Geistlichkeit». Denn ein Mullah ist in der Islamischen Republik ein in jeder Hinsicht privilegiertes Wesen. Als offizieller Mittler zu Gott ist es undenkbar, dass er je vor einem «normalen» Richter und einem weltlichen Gericht steht. Nur Kleriker richten über Kleriker.
Diese sonderbare Justiz, die von niemandem kontrolliert werden darf, kennt keine Verteidiger. Die Sondergerichte haben eine eigene Polizei und eine eigene Prozessordnung, verfügen über eigene Gefängnisse und urteilen nach eigenem Strafkatalog. Zu diesem gehören die Verbote, Seminare abzuhalten oder die Kleriker-Robe in der Öffentlichkeit zu tragen, ebenso Verbannung, Haftstrafen und sogar Todesurteile.
Die Straftaten, mit denen sich diese Sondergerichte befassen, sind keine übliche Kriminalität. Es geht ausschliesslich um Irrlehre, Abweichung und Propaganda. Mit diesen und ähnlichen Vergehen beschäftigen sich die Zweigstellen dieses Sondergerichts in zehn Provinzen des Landes. Die oberste Instanz befindet sich in der Pilgerstadt Qom, untergebracht in einem imposanten Gebäude, das mit modernster Technik ausgestattet ist. Alle bekannten schiitischen «Neudenker» wie Modjtahed Shabetri, Mohssen Kadiver oder Yussefi Eshkewari wurden hier zur «Entkleidung», zu langjähriger Haft und schliesslich zur Verbannung verurteilt.
Das Verschwinden der letzten Säule
Geistlichkeit und Monarchie waren in der Historie des Iran zwei Säulen der Gesellschaft, sie hatten durch Jahrhunderte hindurch einen Machtmodus gefunden. Mal gut, mal schlecht, wie auch immer. Seit 44 Jahren gehört die eine Säule, die Monarchie, bekanntlich der Geschichte an. Und die zweite Säule, die Geistlichkeit, geht in Scham und Schande in der Gegenwart nieder. Was in der Zukunft geschieht, ist ungewiss.
Momentan sind wir Zeugen und Zeuginnen eines Jahrtausend-Ereignisses: des Verschwindens der letzten gesellschaftlichen Säule als moralische Stütze für die Gegenwart und mit ziemlicher Sicherheit auch für die Zukunft des Landes. Die islamische Revolution war nicht nur gegen die Monarchie gerichtet. Von Grund auf revolutioniert wurden auch Organisation, Finanzierung, Hierarchie, Bildung und Lehre sowie Gerichtsbarkeit der Geistlichkeit im Iran.
Wie gross ein Grossayatollah war, bis er sich als «Quelle der Nachahmung» präsentieren konnte, das bestimmte vor der Revolution eine besondere, durch die Jahrhunderte bewährte Tradition innerhalb der Geistlichkeit. Das war einmal. Heute führt in Qom, dem Zentrum der Gelehrsamkeit, der Geheimdienst der Revolutionsgarden das Wort und das Regiment, wer Grossayatollah sein darf.
Auch hier sind nicht die «normalen» Garden bestimmend, sondern die sogenannten «Quds-Brigaden», jene mächtige Einheit der Revolutionsgarde, die die regionalen Bürgerkriege für den Iran managt. Am 4. Mai sammelte Ismail Ghaani, der Kommandant dieser Brigaden, die regimetreuen Ayatollahs um sich, erzählte von seinen Siegen in der Region und beschwor den Widerstandsgeist gegen den Feind, der von Beirut über Damaskus bis nach Qom herrschen müsse.♦
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