Die Ausstellung von Andreas Mühe ist ein kühnes Experiment. Seine Bilder sollen den Betrachter zugleich berühren und auf Distanz halten. Warum besteht Pathos in der Distanz, und worin liegt das Pathetische in den ausgewählten Bildern?
Das Wagnis
Das Wagnis in der Präsentation der Bilder liegt darin, dass diese Bilder trotz dieses zunächst einmal ungelösten Rätsels den Betrachter einnehmen und faszinieren müssen. Denn wenn sie ihn kalt liessen, würde er sich auch nicht für das Rätsel interessieren, das ihm Andreas Mühe aufgibt. Das Ganze fiele bedeutungslos in sich zusammen.
Und so blättert man, ist immer wieder befremdet, schaut nach den sparsamen Bildlegenden am Schluss des mit zahllosen Verweisen und Danksagungen versehenen Bandes und wird mehr und mehr in eine innere Logik eingesponnen, ohne deren Geheimnisse ganz erschliessen zu können.
Da wirken merkwürdige Kräfte. Sind sie mit dem Pathos gemeint? Dem Bildband wurden Texte von Florian Illies aus seinem Bestseller über das Jahr 1913, „Sommer des Jahrhunderts“, beigefügt. Andreas Mühe hat diese Texte zu seinen Bildern ausgesucht, aber sie lesen sich gleichwohl nicht wie direkte Erläuterungen. Es handelt sich eher um Assoziationen, die die Rätsel vertiefen.
Die wahre und die falsche Merkel
Es gibt ganz wenige Bilder, die keiner Erklärung bedürfen. So ist Andreas Mühes Porträt von Angela Merkel schlicht und einfach ein Porträt von Angela Merkel. In einer zweiten Aufnahme sieht man die Kanzlerin nahezu unscheinbar unter einem Baum stehen. Und dann erkennt man sie mehrfach von hinten, wie sie auf einer Rundreise durch ein Autofenster hindurch deutsche Sehenswürdigkeiten betrachtet.
Aber aufgepasst: Das ist nicht Angela Merkel. Andreas Mühe hat ein Model wie Angela Merkel zurechtmachen lassen. Eine nahezu perfekte Illusion. Die beiden authentischen Merkel-Bilder konnte Andreas Mühe aufnehmen, weil er als Porträtfotograf einen herausragenden Ruf geniesst. Er ist noch relativ jung, Jahrgang 1979, ein Shooting Star. Auf hohem Niveau spielt er nun seine Spiele oder folgt seinen fotografischen Grübeleien – wie man es nimmt.
Breites Themenspektrum
Florian Illies schreibt in seinem kurzen Vorwort, dass die Bilder von Andreas Mühe so wirken, als schaute dieser aus der Zukunft rückblickend auf die Gegenwart. Darin liege die Distanz, die gleichzeitig sein Pathos ausmache. Das sei eine ähnliche Struktur wie in seinem eigenen Roman über 1913: Er schaue darin ebenfalls rückblickend auf die Ereignisse und Gestalten dieses Jahres unmittelbar vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Aus dieser Perspektive bekommt alles etwas Surreales und gleichzeitig berührt es uns besonders, weil wir wissen, wie bald dies alles in der weiteren Geschichte gebrochen werden sollte.
Das Themenspektrum des Bandes ist weit. Andreas Mühe zeigt Tiere, die von Jägern erlegt wurden, er zeigt häusliche Szenen oder auch Dienstzimmer und Schreibtische von Diplomaten und Politikern. Auf einem Bild steht Thilo Sarrazin in seinem behaglichen Arbeitszimmer und blickt versonnen in seinen verschneiten Garten.
Das Bild, das darauf folgt, ist ebenso surreal wie grauenhaft. In einem Wohnzimmer mit absurden überdimensionierten Bildern an den Wänden sitzt ein Paar in eiskalter Beleuchtung an einem mit einem Adventskranz und Krippenfiguren dekorierten Tisch und feiert Weihnachten, wie es in der Bildlegende heisst. Die Blicke, die sich das zutiefst einsame Paar zuwirft, lassen nichts Gutes ahnen.
Wandlitz
Man ist gut beraten, den Band mehrfach durchzublättern, denn dann erschliesst sich die Zusammenstellung der Bilder besser. Der Besucher der Ausstellung in Hamburg hat es leichter, denn da sind die Bilder zumeist in Gruppen gehängt. Entsprechende Abbildungen am Ende des Bildbandes vermitteln einen Eindruck davon.
Aber auch in dem vorliegenden Band gibt es Bildgruppen. Neben den erlegten Tieren in der Serie „Kreatur“, Bildern unter dem Titel „Obersalzberg“ und „A. M. – Eine Deutschlandreise“, fallen zahlreiche Weihnachtsbäume auf und die Serie „Wandlitz“. Wandlitz liegt etwas nördlich von Berlin und diente zu DDR-Zeiten den Mitgliedern des Politbüros als Wohnsitz. Andreas Mühe hat in 20 Bildern die Fassaden dieser Häuser mit einer Akribie fotografiert wie vor ihm Bert und Hilla Becher Bergwerke und industrielle Anlagen des Ruhrgebiets. Dadurch sind Bilder von erschütternder Komik entstanden. Hinter diesen zerbrechlichen Fassaden wohnte einst die geballte Staatsmacht der DDR!
Die Weihnachtsbaumserie
Ebenfalls im Stil nüchterner Sachfotografie sind diverse Weihnachtsbäume, eher: Weihnachtsbäumchen, fotografiert. Der grau-blaue Boden und der Hintergrund gehen ineinander über, von rechts oben kommt scharf gebündeltes Licht, so dass die Zweige konturierte Schatten werfen. Die Kerzen an den Bäumen sind angezündet, aber noch nicht im Mindesten heruntergebrannt. An einigen Bäumen befinden sich auch elektrische Kerzen.
Die 38 Fotos bilden die längste Serie in dem Band und sie stehen fast am Schluss. Sie wirken wie Präparate: Präparate des Pathos, fotografiert aus grösstmöglicher sachlicher Distanz. Aber wie steht es mit der emotionalen Distanz? Warum muss Andreas Mühe über Jahre hinweg immer wieder Weihnachtsbäume schmücken und fotografieren? Hat er einmal zu grosse Nähe erlebt und muss sich ihrer durch Distanz entledigen?
Blättert man von diesen Bildern noch einmal zurück, so bemerkt man, wie sich auch die Wahrnehmung der anderen Arbeiten von Andreas Mühe verändert. Die erlegten Tiere aus der Serie „Kreatur“ wirken jetzt noch bedrängender, zumal es ein doppelseitiges Bild mit mehreren aufgehängten Tierkadavern gibt, das Mühe mit „Honeckers Jagdkammer 2016“ überschrieben hat. Titel und Jahreszahl geben Rätsel auf. Und wie hängen sie mit der Serie „Wandlitz“ zusammen?
Und so kommt man den Bildern näher, ohne sie doch ganz zu erreichen. Der Fotograf Andreas Mühe ist ein kluger Spurenleger.
Andreas Mühe, Pathos als Distanz, herausgegeben von Ingo Taubhorn, Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg, 260 Seiten, 150 Farbabbildungen, Kehrer Verlag, Heidelberg 2017.
Die Ausstellung im Haus der Photographie wird bis zum 20. August 2017 gezeigt.