Kaum bin ich in der Wohnung meiner Gastgeberin angekommen, kommt der Anruf von der Schweizer Botschaft: Die israelische Regierung hat ein Ausgehverbot für Reisende aus der Schweiz erlassen. Sie stellen ein Ansteckungsrisiko dar, genau wie Touristen aus China oder Pilger aus Italien.
Jerusalem, arabischer Teil
Es ist erst eine Woche her, seit die Fastenzeit begonnen hat, und ich belustige mich beim Gedanken, dass die vierzig Fastentage bis Ostern zumindest etymologisch genau der „Quarantaine“ entsprechen, auch wenn sie beim Coronavirus im Vorbeugefall nur vierzehn Tage betragen.
Es ist aber nicht nur die Wortverbindung, die mir die Assoziation von Quarantäne und Fastenzeit hervorruft. Und es ist auch nicht eine drohende Schmalhans-Kost, denn meine Gastgeber werden hier im arabischen Teil von Jerusalem weiterhin einkaufen können.
Fastenzeit und Passionsgeschichte
Es ist ebendieses Jerusalem, das in meinem Kopf Fasten und Quarantäne so eng verknüpft. Denn ist es nicht die Fastenzeit, welche die Passionsgeschichte von Leid, Tod und Auferstehung von Jesus vorbereitet? Und diese spielte sich nur zwei Kilometer von meinem temporären Zuhause ab – der Gethsemane-Taleinschnitt liegt gleich um die Ecke.
Ich stelle allerdings rasch fest, dass sich eine andere Passionsgeschichte, eine andere Via Dolorosa, mit Macht über die Erzählung aus dem kindlichen Religionsunterricht schiebt. Nur einige hundert Meter vor unserem Haus verläuft die Grüne Linie, die 1967 von der israelischen Armee im Sechstagekrieg überschritten worden war. Sie war der erste fatale Schritt in einer schleichenden, stetigen Annexion palästinensischen Bodens und einer politischen Quarantäne, die nun schon über fünfzig Jahre dauert.
Nicht nur die israelische Flagge über dem Ammunition Hill unweit der Grünen Linie macht diese Inbesitznahme deutlich. Noch drastischer tut es eine parallele semiotische Leerstelle: Nirgendwo im arabischen Teil der Stadt weht die Flagge Palästinas. Ihr Hissen hätte sofortige Konfiskation und eine Haftstrafe zur Folge.
Die Israel-Flagge und ihr Subtext
Diese Auskunft eines Silberschmieds im Arab Quarter gibt meinen Spaziergängen durch die Altstadt plötzlich eine andere Dimension. Die vielen Israelflaggen, die in ihrem fröhlichen Weiss/Blau aus Fenstersimsen hängen und über renovierten Gebäuden flattern, verlieren nun ihre Unschuld: Sie signalisieren eine Besatzung.
Genauso subtil heimtückisch, zumindest für die vielen tausend Pilgertouristen aus aller Welt, sind die ethnischen Markierungen der Altstadt: Das armenische, muslimische, christliche Quartier wird im Stadtplan explizit so ausgewiesen – nicht aber das jüdische rund um die Klagemauer. Es ist zwar blau eingefärbt – doch die Bezeichnung fehlt.
Der Subtext wird nun klar: Die Nicht-Benennung eines Quartiers soll ausdrücken, dass die ganze Stadt jüdisch ist. Und die blauweisse Sprenkelung der Nationalfahne in allen Quartieren macht dies überdeutlich – wenn nicht dem Pilger aus Milwaukee, so doch dem Palästinenser, der hier geboren ist.
Subtile Apartheid
Ebenso doppelbödig ist das neu asphaltierte Strässchen, das durch das armenische Quartier zum Parkplatz neben der Klagemauer führt: Nur Fahrzeuge mit den gelben israelischen Kennzeichen dürfen sie benützen, nicht jene mit den weissen Nummernschildern der Westbank.
Plötzlich fällt es wie Schuppen von den Augen: Es gibt nicht nur weisse und gelbe Nummernschilder; diese kennzeichnen auch israelische und arabische Taxis, israelische und arabische Busse. Selbst die Nummerierungen und Farbcodes an den Haltestellen sind unterschiedlich.
Fünfzig Jahre Besatzung haben eine subtile Apartheid geschaffen und perfektioniert, deren Zeichensprache nur der Lokalbevölkerung bewusst ist. Die ausländischen Touristen sind blind dafür, geblendet nur durch die goldene und die schwarze Kuppel von Felsentempel und Al Aqsa-Moschee, den christlichen Kirchentürmen und Klosterdächern. Sie alle suggerieren ein friedliches Nebeneinander der Religionsgemeinschaften.
Kontrolle und Filterung
Die Covid19-Quarantäne verunmöglichte meinen Besuch der besetzten Gebiete ausserhalb Jerusalems. Dafür räumte sie uns viel Zeit und räumliche Nähe für Gespräche ein. Die subtile Signalisierung von Apartheid-Grenzen in Jerusalem, so liess ich mir sagen, verschwindet, sobald man die Stadt verlässt. Ausserhalb der Touristenpfade wird die Trennung mit demonstrativer und gewaltbereiter Offenheit kommuniziert.
Die Strassensperren sind ihr offensichtlichster Ausdruck. Sie verbinden Kontrolle und Filterung mit physischer Erniedrigung: erzwungene Wartezeiten, Verlassen des Busses, Vorweisen von Identitätspapieren und Fahrbewilligung. Zudem sind die Öffnungszeiten oft begrenzt. Wer die Stadt abends zu spät verlässt, hat keine Chance, wieder nach Hause zu kommen; und wer dann nur einen Ein-Tages-Pass hat, muss mit Sanktionen rechnen.
Siedlerstrasse und alte Strassen
In der Buchhandlung des American Colony Hotel stosse ich auf das Buch des israelischen Autors Eyal Weizman mit dem Titel „Hollow Land“. Es ist eine Anspielung auf das Holy Land, eine Bezeichnung, die der israelischen Tourismusbehörde inzwischen wohl peinlich ist, da sie so offensichtlich zynisch klingt.
Im Fall von „Hollow Land“ ist aber auch die buchstäbliche Bedeutung gemeint. Es ist eine Studie über die Politik der Regierung, in den besetzten Gebieten systematisch ein zweites Strassennetz zu bauen, das die existierende Infrastruktur unter die Erde zwängt. Oben werden die vielen jüdischen Siedlergemeinschaften im besetzten Gebiet untereinander und mit dem israelischen Herzland verbunden, mit abgezäunten Schnellstrassen.
Sie zwingen die Dörfer und Kleinstädte zum Bau von Tunnels und Brücken, damit die Bauern auf ihre Felder kommen und Händler auf die lokalen Märkte. Es versteht sich von selbst, dass die „Siedlerstrassen“ vorbildlich ausgebaut sind, da sie vom israelischen Staat unterhalten werden. Die „alten“ Strassen hingegen sind oft nicht einmal asphaltiert, weil der Palestinian Authority die Mittel fehlen, die Beläge zu erneuern.
„Heisse“ Grenze zu Gaza
Dies gilt gerade dann, wenn eine „Siedlerstrasse“ ein Dorf von den Feldern abschneidet. Meine Gewährspersonen erzählten mir, dass die palästinensischen Bauern dabei Strassensperren passieren müssen, die nicht etwa frühmorgens öffnen und tagsüber offen bleiben. „Sie öffnen um zehn Uhr, und dies nur für fünfzehn Minuten. Vier Stunden später werden sie wiederum 15 Minuten geöffnet, damit die Bauern vom Feld zurückkehren können.“ Dass die Bewässerung frühmorgens oder spätabends stattfinden müsste, damit das Wasser nicht in der Mittagshitze verdunstet, scheint die Polizei nicht zu kümmern.
Und dann ist da noch Gaza, mit seiner „heissen“ Grenze, wo es zwischen März 2018 und Januar 2020 zu wöchentlichen Freitagsprotesten und Konfrontationen zwischen jungen Palästinensern und der Armee gekommen war. Laut UNO wurden in dieser Zeit 215 Menschen getötet und 7996 durch Schusswaffen verletzt.
Scharfschützen-Bericht in „Haaretz“
Am Tag meiner Abreise las ich im E-Paper der Tageszeitung Haaretz einen Bericht über die Scharfschützen der israelischen Armee, die an vorderster Front vor diesen Demonstranten postiert waren. Ihre Aufgabe: jungen Männern, die sich zu nahe an den Grenzzaun wagten oder in der hinteren Reihe die Demonstration orchestrierten, die Knie zu zertrümmern.
Für sie war es ein sportlicher Event, obwohl es ein denkbar ungleicher Wettkampf war, denn die Gegner hatten keine Schusswaffen ausser Steinen und selbstgebastelten Molotow-Flaschen. Für die jungen Soldaten war es auch gar kein Krieg, sondern, in den Worten eines Snipers „eine Freitagnachmittag-Ruhestörung“; der Grenzzaun war für sie wie „eine Sportarena, ein Event, für das man Billette verkaufen könnte“.
Kniescheiben-Trophäen
Die jungen Gegner wurden schliesslich nicht getötet; nur ihre Mobilität würde – für den Rest ihres Lebens – eliminiert, und damit ihr „nuisance value“. Wegen des ungleichen Wettkampfs wetteiferten die Snipers denn auch unter sich: Wer mehr Kniescheiben-Trophäen sammelte, war der Held (der Rekord lag bei 52). Die Kunst war, das Knie zu treffen, nicht die Hüfte, da sonst der Blutverlust zu hoch wäre.
Die moralische Rechtfertigung, neben dem eingedrillten Bild des Gegners als einem „Terroristen“, war rasch zur Hand: sie hätten ihn ja erschiessen können. Mit einem zerschossenen Knie würde der „Terrorist“ rasch in einem Spital landen, und nach einer Woche besässe er schon eine Invaliden-Pension.
Wettlauf auf Krücken
Mein letztes Bild vom Gelobten Land aus dem Flugzeug war nicht der Blick über Tel Aviv und die Brandung des Mittelmeers. Ich starrte auf ein Foto am Ende des Haaretz-Artikels. Das Bild zeigte einen Lauf-Wettkampf von jungen Männern, in Sportleibchen und mit angehefteten Startnummern. Sie rannten – auf zwei Krücken und einem gesunden Bein; vom anderen war nur ein Stummel zu sehen.
Es sah aus wie eine neue para-olympische Disziplin: Krückenrennen. Palästina hätte gute Chancen, dabei die ersten Podestplätze einzunehmen.