Besser, ich gebe meine Befangenheit zu: Auch ich erinnere mich gut an das Gefühl des Zehnjährigen mit italienischem Namen, wenn er in seinem Schreibpult einen Maiskolben vorfand; wenn er von seinen Mitschülern hören musste: “Der Schwarzenbach schickt dich und dein Pack aus dem Land“; oder wenn er, wie es bei mir der Fall war, drei Jahre lang von der Primarlehrerin nie mit dem eigenen Namen, sondern immer nur als “der Tschingg” angeredet wurde.
Ein Italiener bei den Emmentalern
Deshalb habe ich mich und meine Kinderängste in vielen Szenen wiedererkannt, die Francesco Micieli in der Erzählung “Schwazzenbach” sparsam, eindringlich und dicht aneinanderreiht. Viele Italoschweizer, die in den Siebziger Jahren heranwuchsen, und mehr als wenige “Jugos” oder Türken heute dürften die Erlebnisse, die Micielis Erzähler Angelo schildert, nicht fremd sein.
“Schwazzenbach” ist eine klassische Rückkehr-Erzählung: Angelo wird zu einem Vortrag über Jeremias Gotthelf nach Lützelflüh eingeladen. Welche Ironie: Ein Italiener soll den Emmentalern ihren Heimatdichter erklären. Der gut 50-jährige Dozent und Schriftsteller - wie weit identisch mit Micieli selbst, spielt keine Rolle - verbringt einige Tage im Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Erinnerungen und Träume suchen ihn heim, oft genug Alpträume.
Die Entfremdung der Kinder
Da ist seine Mutter, den der Krebs auffrisst: Überheblich und gefühllos wirft der seinen Arbeitereltern entfremdete “gschtudierte” junge Mann ihr vor, sie wolle mit ihren Krankheiten nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; die Mutter, die “die Führerscheinprüfung machte - die einzige Schule, die sie bis zum Schluss und mit einem Diplom besuchen durfte”: Die Entfremdung der Kinder mit höherem Bildungsniveau gegenüber den Eltern, die vielleicht nicht einmal die Primarschule zu Ende besucht haben, gehört auch zu den Leiden der Immigrantenfamilien; die Mutter, die nach der Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative, die den Anteil der Ausländer - vor allem Italiener - in jedem Kanton auf zehn Prozent herunterschrauben wollte, nicht mehr Bern-, sondern nur noch Hochdeutsch sprach.
Tatsächlich hätte eine Annahme der Initiative bedeutet, dass 300’000 Ausländer das Land hätten verlassen müssen. Eine grössere Rolle für die geschilderte Familie und die Sprachverweigerung der Mutter dürfte aber gespielt haben, dass die Initiative in der Gemeinde Lützelflüh angenommen wurde.
Italienerlachen und Schweizerlachen
Da ist der stolze Vater, den die Arbeitskollegen in der Fabrik im Geiste schon vor der Abstimmung nach Hause schicken und der sich schon einmal auf die “Resistenza” vorbereitet für den Fall der Ausweisung; der die Italiener verachtet, “die sich einkaufen”, sich zu Schweizern assimilieren und deren Kinder schon ganz gut darin sind, “haut d Schnurre, du Tschingg” zu sagen; der erlebt, wie man Italiener aus einer Beiz wirft, weil sie lachen - auf Nachfrage: weil ihr Lachen zu laut, lauter als ein Schweizerlachen ist.
Und da ist der in der Erzählung einmal kleinere, einmal grössere Angelo, der sich einmal duckt und einmal trotzt; der nicht verstehen kann, weshalb man die Italiener aus dem Land werfen will; den “häufig Schamgefühle und Schuldgefühle” plagen, weil er “einen Befehl oder eine Aufforderung” nicht gehört habe.
Keine Larmoyanz und Sentimentalität
Es sind aber nicht die Szenen oder die Figuren selbst, die Micielis Buch einzigartig machen, Tatsächlich hat man sie so ähnlich hier und dort schon verfilmt gesehen oder auch gelesen. Es ist die stilistische Souveränität, mit der er mit seinem Stoff umgeht, und die Prägnanz seiner Sprache. Da schwebt immer eine leise Ironie über allem - ein gutes Zeichen der Distanz zum Erzählten - und da ist nirgends Larmoyanz oder Sentimentalität. Dazu muss hier eine Passage - es gibt viele davon - reichen:
“Mutter wollte nicht auffallen. Sie wollte sich verstecken. Zur Arbeit gehen, ohne im Zug einen Sitzplatz zu besetzen. Nach Hause kommen und sich einschliessen. Die Schweiz sollte gar nicht merken, dass sie da war. Eine solche Frau kann nicht überfremden, dachte sie damals. Vor dem Tod wusste sie aber, dass man überfremden kann, auch wenn man nicht da ist. Es reicht die blosse Möglichkeit.”
Gottlob nicht mehrheitsfähig
Dieses Buch verdient es, Schullektüre zu werden. Ein solches Werk, das sich so einprägsam und konzentriert dem von der Schwarzenbach-Initiative ausgelösten Trauma nicht nur der Italiener, sondern auch der Spanier, Portugiesen und der damals noch wenigen Türken in der Schweiz widmet; den Alpträumen vieler ausländischer Kinder, die glaubten, man werde sie, kaum hätten sie die ersten Integrationsschritte getan, wieder ausweisen in ein Land, das ja niemals ihre Heimat gewesen ist; der Barbarei einer gottlob nicht mehrheitsfähigen Initiative, die eine regelrechte Deportation ausländischer Arbeiter bedeutet hätte, die den Wohlstand der Schweiz wesentlich miterarbeitet haben - ein solches literarisches Werk hat in der deutsch-schweizerischen Literatur der letzten Jahrzehnte gefehlt. Francesco Micieli hat die Lücke gefüllt.
Francesco Micieli, Schwazzenbach, Zytglogge Verlag, Bern. 101 Seiten, Fr. 29.-