Es ist wenig wahrscheinlich, dass US-Präsident Joe Biden kommende Woche im Nahen Osten resolut für den Schutz der Pressefreiheit eintritt. Amerikas geopolitische Interessen im Falle Israels und Saudi-Arabiens sind wohl stärker.
Wenn Amerikas Präsident demnächst zu einem viertägigen Trip in den Nahen Osten aufbricht, hat er ein heikles Dossier im Gepäck – ein Dossier, das er wohl lieber im Weissen Haus liegen lassen würde. Es betrifft den Schutz der Pressefreiheit und diesbezüglich haben sich Joe Bidens Gesprächspartner in der Region – die Israelis, die Palästinenser und die Saudis – in der Vergangenheit nicht eben mit Ruhm bekleckert.
Ein Gesprächsthema in Israel dürfte der Fall der amerikanisch-palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh sein, die am 11. Mai in Jenin im besetzen Westjordanland während eines Einsatzes der israelischen Armee (IDF) von einer Kugel tödlich getroffen wurde. Alle Indizien deuten darauf hin, dass die Reporterin des TV-Senders Al Jazeera höchstwahrscheinlich von einem Scharfschützen der IDF getötet worden ist. Zu diesem Ergebnis sind zumindest die Associated Press (AP), CNN, die «Washington Post» und die «New York Times» nach akribischen Rekonstruktionen des Vorfalls gelangt.
Diese Woche nun ist eine Untersuchung des amerikanischen Aussenministeriums zum selben Schluss gekommen. Der Report räumt aber nach einer «extrem detaillierten forensischen Analyse» ein, dass die fragliche Kugel zu beschädigt sei, um deren Herkunft mit letzter Sicherheit feststellen zu können. Schon überraschender aber die weitere Folgerung des State Department, wonach es keinen Grund zur Annahme gebe, Shireen Abu Akleh sei absichtlich getötet worden, denn es habe sich wohl «um tragische Umstände» gehandelt.
Es ist eine Einschätzung, die Israels Verteidigungsminister Benny Gantz gefallen dürfte. Er sagte, «unglücklicherweise» sei es nicht möglich, die Herkunft der tödlichen Kugel zu eruieren. Auch heisst es seitens der IDF, falls der Schütze ein Israeli gewesen sei, müsse er gemeint haben, auf einen bewaffneten Palästinenser geschossen zu haben. Doch die Untersuchung gehe weiter. Weniger zufrieden ist die Familie der getöteten Fernsehjournalistin: «Die Erkenntnis, dass die amerikanischen Ermittler glauben, die Kugel sei ‘wahrscheinlich von einer israelischen Stellung gekommen’, ist ein schwacher Trost.»
Eine Strafuntersuchung durch die IDF scheint wenig wahrscheinlich. Gemäss der israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din, die das Geschehen im besetzten Westjordanland beobachtet, ist es 2019 und 2022 in lediglich zwei Prozent der Fälle der Klagen von Palästinensern gegen israelische Soldaten zu Prozessen gekommen. In diesem Zeitraum wurden Uno-Angaben zufolge im Westjordanlands 49 Palästinenser von Sicherheitskräften Israels getötet. Derweil will die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof weiterziehen.
Niemand weiss, wie eindringlich Joe Biden die Regierung in Jerusalem auffordern wird, den Fall Shireen Abu Akleh ein für alle Mal zu lösen und die Sicherheit von Medienschaffenden zu schützen, die über den israelisch-palästinensischen Konflikt berichten. Im Vorfeld seiner Nahost-Reise hat der amerikanische Präsident verlauten lassen, es gehe ihm darum, «das untrennbare Band» zwischen den USA und Israel zu kräftigen und sich zu bemühen, «Israels Integration in die Region zu vertiefen …, die sowohl für den Frieden als auch für die Sicherheit Israels Früchte bringt».
Noch herausfordernder als der Besuch in Israel und den Palästinensergebieten wird für Joe Biden wohl der Stopp in Riad sein. Denn dort ist unter anderem ein Treffen mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS) vorgesehen, der aller Wahrscheinlichkeit nach für den Mord am Journalisten Jamal Kashoggi verantwortlich ist. Der Kolumnist der «Washington Post» war am 2. Oktober 2018 unter falschem Vorwand ins saudische Konsulat in Istanbul gelockt und dort von einem Killerkommando ermordet und anschliessend zerstückelt worden.
Noch im Wahlkampf 2020 hatte Joe Biden versprochen, er werde Saudi-Arabien nach dem Mord an Jamal Kashoggi zu einem «Aussätzigenstaat» machen. Inzwischen tönt es aus Washington seitens Offizieller wesentlich versöhnlicher: «Beide Seiten haben beschlossen, dass wir dem Ziel zuliebe, im Nahen Osten Frieden und Stabilität zu erreichen, darüber (über den Mord) hinwegkommen müssen». Das amerikanisch-saudische Verhältnis, so heisst es, dürfe nicht zur Geisel des Mordes an einem Journalisten werden. Schwacher Trost auch hier, dass die Strasse vor der Botschaft Saudi-Arabiens in Washington DC inzwischen «Jamal Kashoggi Way» heisst.
Versäumt es Joe Biden, seine Gesprächspartner im Nahen Osten in Sachen Schutz der Pressefreiheit zur Rechenschaft zu ziehen, so ist der angestrebte Friede in der Region einer Kolumnistin der «Washington Post» zufolge lediglich jene Stille, die eintritt, wenn arabische Stimmen und Medienschaffende zum Schweigen gebracht werden: «Das ist keine Stabilität, das ist von Amerika beförderte Repression.» Ein solches Versäumnis würde die Botschaft an die Welt aussenden, dass es ok sei, arabische Journalistinnen und Journalisten und amerikanische Bürgerinnen und Bürger und im Lande Niedergelassene zu töten. Dies erstens, falls ein Land helfe, Amerikas geopolitischen Ziele zu erreichen, und zweitens, es schaffe, einen internationalen Aufschrei auszuhalten, bis er verstummt.
Sowohl im Fall von Shireen Abu Akleh als auch von Jamal Kashoggi steht mit grosser Wahrscheinlichkeit fest, wer die jeweiligen Täter waren. Das zeigen einerseits die forensischen Untersuchungen renommierter Medien und anderseits die Erkenntnisse amerikanischer Geheimdienste. Doch wirklich Klartext zu sprechen, wagen die am Ende Zuständigen in beiden Fällen nicht. Dem amerikanischen Komiker Groucho Marx wird eine Frage zugeschrieben, die keines Kommentars mehr bedarf: «Who you gonne believe – me or your own lying eyes?» Wenn im Zweifel, glaube dem Lügner.
(Wegen eines Fehlers bei der Übernahme des Textes fehlte zuerst der Anfang des Kommentars.)