Der klassische angelsächsische Journalismus trennt Fakten von Meinungen – gemäss dem Diktum von C. P Scott (1846-1932), dem legendären Chefredaktor des „Manchester Guardian“, der 1921 schrieb: „Comment is free, but facts are sacred“ – Kommentare sind beliebig, aber Fakten sind heilig. Das an sich löbliche Vorhaben führt mitunter zu seltsamen Verrenkungen, die ein gesunder Menschenverstand nicht immer nachvollziehen kann. Beobachten lässt sich das Phänomen bei Themen wie der Evolution, dem Klimawandel oder jüngst dem US-Wahlkampf.
Lügner ohne Wenn und Aber
Ein Journalist darf nicht über einen Aspekt der Evolutionstheorie berichten, ohne gleichzeitig Anhängern des Kreationismus Platz einzuräumen. Er darf nicht vor den Folgen des Klimawandels warnen, ohne die Konsequenzen von Leugnern der Erderwärmung verharmlosen zu lassen. Und er darf Donald Trump nicht einen ausgekochten Lügner nennen, ohne einzuräumen, dass der unter Umständen gute Gründe für den kreativen Umgang mit der Wahrheit hat.
Insofern kam es einer kleinen Revolution gleich, als sich die „New York Times“, Gralshüterin journalistischer Prinzipien, unlängst dazu durchrang, zuzulassen, den republikanischen Präsidentschaftskandidaten in ihren Spalten ohne Wenn und Aber als Lügner zu bezeichnen. Zu diesem Zeitpunkt waren andere Medien schon längst zum selben Schluss gelangt und hatten sich auch entsprechend geäussert.
Pinocchios und sechsstufige Wahrheitsmeter
An Indizien hatte es jedenfalls nicht gefehlt. In den USA gibt es mehrere Institutionen, die Aussagen von Politikern unter die Lupe nehmen und ihren Wahrheitsgehalt bewerten – wie Gastrokritiker ein Restaurant. The Fact Checker, ein Ressort der „Washington Post“ unter Leitung von Glen Kessler, verleiht „Pinocchios“. PolitiFact, eine Kreation der „Tampa Bay Times“ und Gewinner eines Pulitzer Preises, misst Äusserungen auf einem sechsstufigen „Wahrheitsmeter“, das von „wahr“ über „halbwahr“ bis zum schwer übersetzbaren „pants on fire!“ (rabenschwarze Lüge) reicht.
Indes begnügt sich FactCheck.org, ein Projekt des Annenberg Public Policy Center an der University of Pennsylvania, mit der nüchternen Einschätzung politischer Aussagen. Mögliches Leitmotiv der Fakt- Checker ist eine Äusserung des New Yorker Senators und Soziologen Daniel Patrick Moynihan (1927-2003), der zum Thema sagte: „Jedermann hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten.“
Dem Fact Checker zufolge hat Donald Trump mit seinen Aussagen bisher in 59 Fällen vier Pinocchios, d. h. die höchste und gleichzeitig übelste Auszeichnung verdient – mehr als alle anderen republikanischen (oder demokratischen) Kandidaten in den vergangenen drei Jahren zusammen. Sein durchschnittlicher Pinocchio-Wert lag bei 3,4, jener von Hillary Clinton bei 2,2, etwa gleich hoch wie jener von Barack Obama und Mitt Romney vor vier Jahren.
Trumps tanzendwe Muslime in New Jersey
Insgesamt gewann Clinton sieben Mal vier Pinocchios, meistens im Zusammenhang mit ihrer E-Mail-Affäre, in der sie sich alles andere als transparent zeigte und wiederholt Unwahrheiten äusserte, d. h. log. Sie gab etwa auch an, sie habe vor ihrer Heirat 1975 in der Marineinfanterie dienen wollen, sei aber als dienstunfähig zurückgewiesen worden. Belege dafür gibt es keine.
Trump log rabenschwarz, als er behauptete, die Arbeitslosenrate in den USA liege bei 42 Prozent. In Tat und Wahrheit beträgt sie fünf Prozent. Er behauptete ferner, es gebe landesweit 92 Millionen Arbeitslose, eine Zahl, die all jene beinhaltet, die wie Rentner oder Studenten keine Arbeit suchen. Der Kandidat prophezeite sogar, er könne bei der Krankenversicherung für Ältere („Medicare“) beim Posten rezeptpflichtige Medikamente 300 Milliarden Dollar einsparen. Das fragliche Programm kostet aber lediglich 78 Milliarden pro Jahr.
Donald Trump behauptete auch, er habe nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center in New Jersey Tausende von Muslimen auf den Dächern tanzen gesehen. Stimmt nicht. Er wiederholte zudem mehrmals, Hillary Clinton habe die „Birther“-Bewegung gestartet, jene sektiererische Gruppierung, die zweifelt, ob Präsident Barack Obama in den USA geboren worden ist. Falsch.
Kein Novum in der Geschichte
Trump erzählte weiter, Präsident Wladimir Putin habe ihn „ein Genie“ genannt. Der Russe nannte ihn „schillernd“. Der Kandidat mutmasste, der Vater von Senator Ted Cruz, einem republikanischen Konkurrenten im Vorwahlkampf, sei in die Ermordung von John F. Kennedy 1963 in Dallas verstrickt gewesen. Auch stimmt nicht, dass sich Donald Trump seinerzeit gegen Krieg im Irak ausgesprochen hat. Die Aufzeichnung eines Radiointerviews beweist das Gegenteil.
Nun ist der kreative Umgang mit der Wahrheit in Amerikas Politik kein neues Phänomen. Ronald Reagan zum Beispiel war bekannt dafür, Phantasie und Realität nicht immer scharf zu trennen. Als er 1980 ins Weisse Haus einzog, begann die „Washington Post“, seine Pressekonferenzen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, musste aber feststellen, dass sich ihre Leserschaft nicht dafür interessierte. Das Projekt wurde eingestellt. 2012 dann schrieb der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman erstmals über eine „Post Wahrheit“-Ära der Politik.
Die eigene Realität kreieren
Unvergessen ist eine Äusserung von Karl Rove, einem Berater von George W. Bush, der 2004 einem Reporter arrogant beschied, es täte ihm leid, dass er (der Journalist, Anm. d. Red.) nach wie vor Mitglied einer „auf Realität basierten Gemeinschaft“ sei: „Wir sind jetzt ein Imperium und wenn wir agieren, so kreieren wir unsere eigene Realität Und während Sie diese Realität studieren – so sorgfältig wie immer Sie wollen – agieren wir von Neuem und kreieren andere neue Realitäten, die Sie erneut studieren können. So wird das ablaufen. Wir sind jetzt die Akteure der Geschichte … und Ihnen, Euch allen, wird nichts anderes übrig bleiben, als zu studieren, was wir tun.“
Derselbe Karl Rove sollte sich in der Wahlnacht am 6. November 2012 unsterblich blamieren, als er sich als Experte von Fox News kurz nach Elf schlicht weigerte, eine Prognose des Senders zu akzeptieren, wonach Barack Obama den Staat Ohio und damit die Präsidentschaft gewonnen hatte. Stratege Rove, dessen Politisches Aktionskomitee (PAC) 300 Millionen Dollar für Mitt Romney in den Wahlkampf gepumpt hatte, erläuterte am Bildschirm, warum die Voraussage nicht stimmen konnte. Doch sie war richtig. Die Realität hatte den besserwisserischen Akteur der Geschichte eingeholt.
Quellen: Lucas Graves: „Deciding What’s True – The Rise of Politcal Fact-Checking in American Journalism“ (324 Seiten; Columbia 2016), „The Washington Post“