Portugal hat drei Regierungen – die der Republik, in Lissabon, und die der Inselgruppen Azoren und Madeira, die Autonome Regionen bilden. Seit November sind alle drei Exekutiven gestürzt. Gross ist die Ungewissheit, verstärkt durch schwelende Korruptionsaffären, die vor allem den zwei grössten Parteien im Land zu schaffen machen.
In der Inselregion Madeira hat eine von Portugals kleinsten Parteien zum zweiten Mal innert weniger Monate ihre grosse Stunde als Zünglein an der Waage. Seit 1976 bildet Madeira, wie auch die Azoren, innerhalb der Republik eine Autonome Region. Noch nie hat in der Inselhauptstadt Funchal eine andere Partei den Regierungschef gestellt als der – auf nationaler Ebene seit 2015 oppositionelle – bürgerliche Partido Social Democrata (PSD). Im Regionalparlament verfügte diese Partei bis 2019 über die absolute Mehrheit. Sie regierte bis 2023 dann mit einem kleinen konservativen Partner. Als bei der letzten Wahl im September 2023 auch eine Allianz dieser zwei Parteien nur noch 23 der 47 Sitze errang und damit die absolute Mehrheit verlor, fand sich eine überraschende Lösung.
Tierschützer als Mehrheitsbeschaffer
Allzu gern hätte die xenophobe Partei Chega den Mehrheitsbeschaffer gespielt – wie zuvor schon auf den Azoren, wo sich eine PSD-geführte Minderheitsregierung ab 2020 durch insgesamt drei Abgeordnete von Chega und der ebenfalls rechten Iniciativa Liberal (IL) dulden liess. Aber eine solche Lösung auf Madeira wäre für den PSD, der auf Landesebene ohne Chega regieren will, problematisch gewesen. Auf Madeira – eine Region mit einer fest etablierten Oligarchie, in deren Wirtschaft sich fast alles um den Tourismus und den Bausektor dreht – sprang die junge Partei für Menschen-Tiere-Natur (Pessoas-Animais-Naruteza – PAN) ein. Ihre einzige Abgeordnete tolerierte die PSD-geführte Regierung – bis letzte Woche, als Portugals vorerst letzte Affäre um mutmassliche Korruption ans Licht kam.
Am Mittwoch berichteten die Medien über rund 60 polizeiliche Durchsuchungen, die meisten auf der als Ferienziel bekannten Insel Madeira – darunter im Amtssitz des Präsidenten der Regionalregierung, Miguel Albuquerque (PSD), und im ebenfalls PSD-regierten Rathaus von Funchal – und einige in anderen Landesteilen. Es gab drei Festnahmen, die des Bürgermeisters von Funchal sowie zwei Vertretern von Gruppen der Bau- und Immobilienwirtschaft. Es geht um den Verdacht der aktiven und passiven Korruption in einer zweistelligen Zahl von Geschäften oder Aufträgen und um einen Betrag in dreistelliger Euro-Millionenhöhe.
Widerwilliger Rücktritt
Der aktiven und passiven Korruption und anderer Delikte verdächtig ist auch Regional-Regierungschef Albuquerque. Er geniesst kraft seines Amtes aber Immunität und schloss einen Rücktritt zunächst aus – bis die Partei PAN ihre Macht ausspielte. Sie drohte mit dem Bruch des Abkommens über die Tolerierung der Minderheitsregierung, falls Albuquerque nicht zurücktrete – und diese Absicht gab er am Freitag bekannt. Seine Parteifreunde auf dem Festland dürften erleichtert gewesen sein. So kurz vor der Neuwahl des Lissabonner Parlaments am 10. März wäre es nicht klug, diese Affäre aussitzen zu wollen.
Damit haben in Portugal innert weniger als drei Monaten immerhin drei Regierungen ein vorzeitiges Ende gefunden. Erst fiel die der Republik, als der sozialistische Premierminister, António Costa, am 7. November seinen Rücktritt bekanntgab. Er reagierte damit auf die Information aus dem Amt der Generalanwältin, dass bei Ermittlungen um mutmassliche Delikte der Korruption auch sein Name gefallen sei (wobei er, anders als Albuquerque auf Madeira, nicht offiziell irgendwelcher Delikte verdächtigt war). Schon zwei Tage später kündigte Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa, nach der obligatorischen Anhörung des Staatsrates, die Ansetzung vorzeitiger Neuwahlen für den 10. März an.
Neuwahlen im ganzen Land auf den Azoren – und auf Madeira?
Schon am kommenden Sonntag wählt das Stimmvolk auf den Azoren das dortige Regionalparlament vorzeitig neu. Anlass für dessen Auflösung war die Tatsache, dass die PSD-geführte Regierung bei der Abstimmung über das regionale Budget 2024 den Rückhalt der Rechtspopulisten verlor. Nun hofft eine Allianz der etablierten Parteien des bürgerlichen Lagers auf einen erneuten Sieg, diesmal aber mit absoluter Mehrheit. Insbesondere so kurz vor der Neuwahl auf Landesebene wäre es für den PSD wichtig, auf den Azoren nicht wieder von der Tolerierung durch Chega abhängig zu sein.
Neuwahlen auf Landesebene, Neuwahlen auch auf den Azoren. Und auf Madeira, eine Region mit gut einer Viertelmillion Einwohnern? Am Dienstag war noch unklar, wie es weitergeht. Wenigstens vorerst kann der Staatspräsident das Parlament nicht vorzeitig auflösen, diese Handhabe hat er erst ab dem 24. März, sechs Monate nach der letzten Regionalwahl. Rebelo de Sousa könnte dem PSD die Chance geben, unter neuer Führung eine neue Regierung mit einem neuen Kopf zu bilden und zur Tagesordnung zurückzukehren. Oder er könnte, wie von den Parteien der Opposition gefordert, nach zwei Monaten das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen.
Zu Wochenbeginn schien der Präsident zu zögern. Im Raum stand prompt die Frage, ob er mit zweierlei Mass messe. Auf Landesebene wollten die Sozialisten eine neue Regierung bilden, sie schlugen konkret den früheren Finanzminister und jetzigen Zentralbankgouverneur, Mário Centeno, als Ministerpräsident vor. Nur zwei Tage, nachdem Costa seinen Rücktritt erklärt hatte, kündigte der Präsident aber Neuwahlen an. Er liess sich mit der formellen Auflösung des Parlaments allerdings noch zwei Monate Zeit, unter anderem um dem Parlament die Verabschiedung des Staatsbudgets 2024 zu ermöglichen. Sollte der Präsident in Madeira keine Neuwahlen ansetzen, käme er unter Rechtfertigungszwang.
Die Sozialisten mit einer Altlast
Vielleicht bereitet ihm aber die Angst vor erstarkenden Rechtspopulisten schlaflose Nächte. Nicht zuletzt wegen ihres absehbaren Zuwachses sieht es nicht so aus, als würden die landesweiten Wahlen am 10. März für klare Verhältnisse sorgen. In der letzten Umfrage genossen die Sozialisten einen Vorsprung von einigen Punkten gegenüber dem PSD, aber gewonnen ist noch nichts, verloren erscheint aber die absolute Mehrheit der 230 Sitze im Parlament, über die sie seit Anfang 2022 verfügten. Von der Affäre, die zum Rücktritt von Regierungschef Costa führte, hat der PSD nur begrenzt profitieren können – zumal der Verdacht der Korruption gegen zwei der am 7. November festgenommenen und wenige Tage später auf freien Fuss gesetzten Personen nicht mehr im Raum steht. Und nun plagt den PSD die Affäre auf Madeira.
Die Sozialisten haben derweil an einer Altlast um ihren Ex-Generalsekretär José Sócrates, Ministerpräsident der Jahre 2005-2011, zu knacken. Er war im November 2014 festgenommen worden, weil er der passiven Korruption, der Geldwäsche und anderer Delikte verdächtigt war, und verbrachte gut neun Monate in U-Haft. Er war längst wieder auf freiem Fuss, als die Staatsanwaltschaft 2017 endlich Anklage erhob – gegen ihn und weitere 18 Personen – unter ihnen ehemalige Spitzenkräfte des im Sommer 2014 kollabierten Banco Espírito Santo und der Portugal Telecom – sowie 9 Unternehmen. Gross war der Schock im Land, als ein Ermittlungsrichter im April 2021 die meisten Vorwürfe annullierte. Gegen diesen Entscheid aber zog die Staatsanwaltschaft vor Gericht. Und in der letzten Woche liess die aus drei Richterinnen bestehende Kammer die wichtigsten Vorwürfe wieder aufleben. Sócrates soll die Kleinigkeit von 34 Millionen Euro auf illegitime Weise angehäuft haben. Er hat seine frühere Partei längst verlassen, aber was ihm vorgeworfen wird, färbt in der öffentlichen Wahrnehmung letztlich doch auf die von ihm geführten Regierungen und die Partei ab.
50 Jahre nach der Nelkenrevolution, im Bann der Korruptionsaffären
So stellt sich die Frage, welche der zwei grössten Parteien am meisten unter dem wachsenden Misstrauen des Stimmvolkes zu leiden hat – und welches Kapital die Rechtspopulisten daraus schlagen können. Vielleicht haben die Vetternwirtschaft und die Korruption in Portugal nicht einmal ein viel grösseres Gewicht als früher. Aber die Öffentlichkeit ist gegenüber diesen Praktiken kritischer geworden – und wenigstens die zwei grössten Parteien im Lande tun sich schwer damit, dies zu verstehen und die gebotenen Konsequenzen zu ziehen.
50 Jahre nach der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 dürften sich viele der Aktivisten von damals fragen, was aus ihren Idealen geworden ist.