Es ist eine spannende Lektüre, die der einstige Weltwoche-Journalist Born vorlegt. Nicht eine für Historiker bestimmte Dissertation, wie der Autor festhält, sondern ein Sachbuch, „das sich an eine breitere Leserschaft richtet“. Man kann sein Werk auch als eine Art Drehbuch lesen; Born rekapituliert detailreich, was sich während des stürmischen Jahres 1940, als Pilet Bundespräsident war, ereignete. Der Autor hat unzählige Primärquellen durchforscht, eine Enkelin Pilets öffnete ihm auch das Familienarchiv. Gerade dieses liefert dem Verfasser willkommenes Material für die Wiedergabe unterhaltsamer Features, die den Privatmann Pilet zeigen: den „Bellettrien“, der sich in schöngeistigen Zirkeln wohl fühlt, den Dr. iur., dessen scharfer Verstand Respekt einflösst, den Landwirt, der sich über den Schlendrian seines Gutsverwalters ärgert oder über den Preis eines verkauften Kalbes freut.
Keine Sympathie für die Nazis
Aber darum geht es Born nicht. Sein Ziel ist, das unvorteilhafte Image, das die (linke) Historikerzunft dem Waadtländer nach Kriegsende verpasst hat, ins rechte Licht zu rücken.
Mit dem Begriff „Anpasser“ sollte man in der Tat vorsichtig umgehen. Die „Fröntler“ waren Anpasser, sie peilten, wenn nicht den direkten Anschluss, so doch ein Staatswesen an, das sich am Nationalsozialismus orientieren sollte. In diese Kategorie, da hat Born durchaus recht, lässt Pilet sich nicht einordnen. Er war zwar autoritär und elitär, aber er war Demokrat und Föderalist, der, von französischer Kultur geprägt, mit den teutonischen Vulgaritäten der Nazis nichts anzufangen wusste. Auch ist er nicht dem Kreis der Herren Wille, Bircher, Daeniker, C. J. Burckhardt & Cie. zuzurechnen, die gefährlich viel Sympathie gegenüber Hitler-Deutschland entwickelten.
„Den alten Menschen ablegen“
Den Grundstein für seinen schlechten Ruf legte sich der der freisinnige Bundesrat allerdings selber. Am 25. Juni 1940, nach dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich, versuchte er, die schockierte Schweizer Bevölkerung aufzurichten. Es sei eine grosse Erleichterung zu wissen, erklärte Pilet in seiner berühmt gewordenen Radioansprache, „dass unsere drei grossen Nachbarn nun den Weg des Friedens beschritten“ hätten, man dürfe jetzt nicht den ausgetretenen Pfaden nachtrauern, vielmehr müsse man vorwärts schauen und dem Bundesrat „als hingebendem Führer“ folgen. Pilet wörtlich: „Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen. Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.“
Noch ein Jahr zuvor, während der „Landi“, hatten unzählige Festredner der Schweizer Bevölkerung fast bis zum Überdruss eingebleut, was die unveräusserlichen Fundamente der Schweiz sind: Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie … Und jetzt, in der Rede des Bundespräsidenten, waren nicht einmal mehr Spurenelemente davon zu vernehmen. Innerhalb einer Viertelstunde war es Pilet mit seinen zweideutigen Formulierungen gelungen, in breitesten Schichten der Bevölkerung tiefes Misstrauen zu entfachen: Wohin, so die bange Frage, will uns dieser Monsieur Pilet führen?
Der Ölfleck, der nicht zu tilgen war
In den Berichten der rund 7000 Vertrauensleute, die für den Aufklärungsdienst von Heer & Haus regelmässig die Stimmung im Land beleuchteten, ist dieses Misstrauen ein ständiges Thema – und Pilet ein Unsicherheitsfaktor erster Güte. Der Leiter jenes Dienstzweigs, der spätere Spitzendiplomat August R. Lindt, bezeichnete in seinem Schlussbericht Pilets Rede als Ölfleck, der sich bis Kriegsende nie mehr tilgen liess.
Und was macht Born mit dieser Rede, die den Herren in Berlin entschieden besser gefiel als dem Publikum, an das sie gerichtet war? Born unterlässt es, ihre Rezeption in jener psychologisch ausgesprochen fragilen Phase vorurteilslos zu analysieren. Dafür unternimmt er semantische Interpretationen einzelner Sätze, zieht hiefür sogar jugendliche Liebesbriefe des Magistraten zu Rate, krittelt an der Übersetzung ins Deutsche herum (die Etter mit zuviel Pathos und Tremolo vortrug) und erklärt, als wäre er Pilets Pressesprecher, was der Chef eigentlich habe sagen wollen.
Pilet wollte das Volk auf die schwierige Zukunft vorbereiten – da ist Born nicht zu widersprechen. Dennoch war und bleibt die Rede eine Fehlleistung. Dem Intellektuellen Pilet, seit 1928 Bundesrat und vorher Nationalrat, waren auch die Mentalitäten der Deutschschweizer vertraut. Weshalb dieser Mann die konfliktreiche Situation nicht konziser und nüchterner darstellte, bleibt ein Rätsel. Doch Born lässt nichts, oder fast nichts, an Pilet heran – es geht ihm schliesslich um dessen Rehabilitierung.
Diese Absicht ist auch bei der Darstellung anderer Ereignisse spürbar. Etwa, als Pilet drei Monate nach der umstrittenen Rede einer Delegation der frontistischen NBS (Nationale Bewegung der Schweiz) eine Audienz gewährte, was in der Bevölkerung einen weiteren Misstrauensschub auslöste. Und nicht verborgen bleibt, dass der Autor bei Pilet eher die Stärken, bei seinen Kritikern eher die Schwächen herausschält. Der General, wie Pilet Waadtländer, schneidet in Borns Beurteilung eher mittelmässig ab, die Mitglieder des Offiziersbunds („Putschisten“) oder die Aktion Nationaler Widerstand behandelt der Autor mit Herablassung.
Als es dunkel wurde
Das Kapitel über die Verdunkelung sei im folgenden etwas näher betrachtet, weil es – ironischerweise – Borns Methodik besonders hell beleuchtet. Die Fakten in geraffter Form: Am 17. September 1940 wurden die Gesandten Deutschlands und Italiens bei Pilet vorstellig. Sie wünschten namens ihrer Regierungen, die Schweiz solle die Verdunkelung einführen, wie sie in den umliegenden Ländern praktiziert wurde. Grund: Die nächtlich beleuchtete Schweiz bevorteile die britischen Geschwader, die das Land damals häufig überflogen, was mit den Neutralitätspflichten nicht übereinstimme. Pilet forderte General Guisan umgehend auf, die Frage zu prüfen. Der zählte dem Aussenminister zwei Tage später die vielen Nachteile einer Verdunkelung auf, die militärisch jedenfalls keinen Sinn mache. Aber er zeigte sich bereit, die Massnahme zu befehlen, „wenn sie Ihnen aus politischen Gründen geboten erscheint“.
Bereits eine Woche nach der Intervention der beiden Gesandten ermächtigte der Bundesrat den General, die Verdunkelung anzuordnen. Doch der Oberbefehlshaber zauderte, die britischen Flieger, unerreichbar für die Flab, flogen weiter über die Schweiz, der deutsche Gesandte intervenierte ein zweites Mal, der Bundesrat gab den Druck an den General weiter, der schliesslich am 7. November den Befehl ausführte: Es wurde dunkel.
Wieder ein Kniefall
Jene Vorgänge entbehrten nicht einer gewissen Absurdität. Der Bundesrat beauftragte den General, eine politische Massnahme anzuordnen. Ihm war bewusst, dass das Volk die Verdunkelung, käme sie aus Etters oder Pilets Küche, als weiteren Kniefall empfinden würde – was es, wie die Berichte der Vertrauensleute bestätigten, so oder so tat. In seiner Rede – siehe oben – hatte Pilet noch versichert: „Der Bundesrat wird Euch die Wahrheit sagen.“ DenVersicherungen des Bundesrats, man habe die Verdunkelung aus eigenem Antrieb angeordnet, glaubte das Volk instinktmässig nicht – zu Recht.
Wie Born diese Episode behandelt, ist bemerkenswert. Der Autor, der sich in lobenswerter Weise durch immense Mengen von Archivakten gearbeitet hat, lässt gerade dieses Dossier links liegen. Kein Wort über die Forderungen der Deutschen, keines über die skeptische Haltung des Generals, den der Bundesrat vorschickte, weil „von Seiten des Politischen Departements versucht wird, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen“, wie es in einer Notiz von Major Barbey, Leiter von Guisans persönlichem Stab, heisst.
Born zitiert lediglich ein paar Protestnoten an die Briten und verweist auf die Neutralitätserklärung von 1815, die die Schweiz verpflichtet, keine kriegführende Partei zugunsten der anderen zu begünstigen. Auch der Bundesrat berief sich auf die Neutralitätspflichten. Doch so eindeutig war der Fall nicht. Bei den Akten liegt ein Aide-Mémoire, das festhält, eine Verpflichtung der Neutralen, die normalen Beleuchtungsverhältnisse ihres Gebietes zu ändern, lasse sich weder aus dem Völkerrecht noch aus dem Haager Abkommen ableiten.
Der „Staatsmann“ als Hypothek
So vielfältig und kenntnisreich Borns 500-seitiges Buch ist, in den Rang eines Referenzwerks über Pilet-Golaz wird es kaum aufsteigen. Zu sehr ist der Autor seiner These verpflichtet, der Waadtländer, beargwöhnt vom Volk, missdeutet von den Historikern, sei in Wahrheit der „Staatsmann“ der Stunde gewesen. Gewiss verteidigte Pilet konsequent die Neutralität, wie er auch einer ganzen Reihe von Zumutungen der deutschen Machthaber entgegentrat. Die Geschmeidigkeit aber, mit der er seine Aussenpolitik betrieb, verstanden viele schlicht nicht. Und gegen Ende des Kriegs war selbst seiner eigenen Partei klar, dass Pilet im Hinblick auf die Herausforderungen der Nachkriegszeit eine zu grosse Hypothek sein würde – weshalb er sich am 31. Dezember 1944 zurückzog.
Borns Buch bestätigt wieder einmal die Tatsache, dass Geschichtsschreibung (ähnlich wie Journalismus) nicht optimale Resultate zeitigt, wenn sie mit einer fixen These im Kopf oder einer Mission praktiziert wird. Bezogen auf den vorliegenden Fall: Der Versuch, Pilets Bild aufzuhellen, wäre vermutlich besser gelungen, wenn der Autor dessen Schwächen mit gleich offenem Visier nachgespürt hätte wie seinen Stärken.
Hanspeter Born: Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Basel: Münster Verlag, CHF 32.–