Mitt Romney hat es unlängst schwer gehabt. Obwohl sich die Schatullen seiner Wahlkampforganisation dank üppiger Spenden seitens reicher Gönner stetig füllten, konnte er im Sommer im Rennen um den Einzug ins Weisse Haus nie richtig Tritt fassen. Da gab es zum Beispiel jene verunglückte Auslandsreise nach Grossbritannien, Israel und Polen, auf der es ihm gelang, sowohl die Briten wie die Palästinenser nachhaltig zu verärgern und negative Schlagzeilen zu kreieren.
Da waren auch die sinkenden Umfragewerte, die ihn und seine Wahlhelfer beunruhigten, weil sie in sogenannten Wackelstaaten („swing states“) und innerhalb wichtiger Wählerschichten wie der Unabhängigen zu registrieren waren. Offenbar war die Taktik nicht aufgegangen, Barack Obama in erster Linie aufgrund des schlechten Stands der Wirtschaft und der hohen Arbeitslosigkeit zu attackieren. Drei Monate vor der Wahl am 6. November schien Mitt Romney unerwartet zu lahmen, während der Präsident locker sein gewohntes Tempo ging.
Unbestrittener Chefideologe
Nun aber hat sich der republikanische Präsidentschaftskandidat ins Rennen zurückgemeldet – gerade rechtzeitig, bevor Ende Monat der viertägige Parteikongress der Republikaner in Tampa (Florida) über die Bühne geht. Mit Paul Ryan hat sich Mitt Romney am Wochenende einen Mann zur Seite geholt, der als unbestrittener Chefideologen seiner Partei gilt und dank seiner radikalen Ansichten sowohl im Establishment wie an der Basis grosses Ansehen geniesst. Romney, fast schon leger in Hemd und Krawatte, präsentierte Ryan in Norfolk (Virginia) an Bord des Kriegsschiffes U.S.S. Wisconsin: „Er hat sich nie damit zufrieden gegeben, lediglich die Dunkelheit zu verfluchen“, sagte er über Ryan, „lieber zündet er selbst die Kerzen an.“
Der 42-jährige Ryan, der aus Wisconsin stammt und den Staat, der für seine Milchprodukte bekannt ist, seit 1998 im Kongress vertritt, liess sich seinerseits rhetorisch nicht lumpen. „Mitt Romeny ist ein Führer mit den Fähigkeiten, dem Hintergrund und dem Charakter, den unser Land zu einem kritischen Zeitpunkt seiner Geschichte braucht“, lobte er seinen Gönner. „Nach vier Jahren verfehlter Führung trüben sich die Hoffnungen unseres Landes ein, die die Welt inspiriert haben, und sie brauchen jemanden, der sie wieder anfacht. Gouverneur Romney ist dieser Mann, und wir teilen ein Vermächtnis. Wir werden die Träume und die Grösse dieses Landes wiederherstellen.“ Romney und Ryan nannten sich in Norfolk „America’s Comeback Team“.
"Europäischen" Sozialstaat beschneiden
Noch ist Paul Ryan einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Umso vertrauter ist er jenen, die das politische Hickhack in Washington DC akribisch verfolgen. Seit er vor vier Jahren seine ersten Vorschläge zur Verringerung der Staatsschulden als „Roadmap for America’s Future“ vorgestellt hat, gilt der 42-Jährige als Chefdenker der Republikaner im Abgeordnetenhaus. Wobei sich seine kompromisslose Denkweise bereits 2004 abzuzeichnen begann, als er George W. Bush Pläne unterstützte, die amerikanische AHV („Social Security“) zu privatisieren, ein Plan, der damals in Washington DC aber noch keine Mehrheit fand. Noch galt die AHV als „dritte Schiene“ der nationalen Politik: Wer sie berührt, überlebt den Stromschlag nicht.
„Die Wegleitung für Amerikas Zukunft“ sah vor, den „europäischen“ Sozialstaat drastisch zu beschneiden und die Rolle der Bundesregierung zu stutzen. So sollte zum Beispiel „Medicare“ (ein staatliches Krankenkassenprogramm für Senioren) privatisiert und durch Direktzahlungen („vouchers“) ersetzt werden. Ebenso, meinte der junge Abgeordnete, wäre „Medicaid“ (ein Programm zur Gesundheitsversorgung armer Amerikaner) abzuschaffen und durch Zahlungen an die Bundesstaaten zu ersetzen.
Olivenzweig ins Gesicht gehauen
Auch „Social Security“ tauchte in Paul Ryans „Roadmap“ erneut auf, allerdings in abgespeckter Form: Künftig sollten Pensionierte statt der Hälfte nur noch ein Drittel ihrer AHV-Zahlungen selber investieren. Der Sparplan zeichnete zudem den Weg zu tieferen Einkommenssteuern und einem einfacheren Steuersystem vor, ohne aber zu präzisieren, durch das Schliessen welcher Steuerschlupflöcher der Einnahmeausfall wettzumachen wäre. Und unter keinen Umständen, so Ryans Mantra, sollten je die Steuern erhöht werden.
Obama reagierte anfänglich verhalten auf Ryans Plan. Anlässlich einer Retraite republikanischer Abgeordneter Ende Januar 2009 in Baltimore lobte er dessen Ernsthaftigkeit, obwohl er in mehreren Punkten der Wegleitung mit ihm nicht einig gehe. Über die Differenzen könne man jedoch reden. Nur wenige Tage später verdammte Peter Orszag, der Budgetdirektor des Weissen Hauses, den Vorschlag des Republikaners in Bausch und Bogen. „Es war“, sagte Ryan später über Orszags Kritik, „als hätte er meinen Olivenzweig genommen und mir mitten ins Gesicht gehauen.“
Unangetastete Militärausgaben
Inzwischen hat Paul Ryan seine „Roadmap for America’s Future“ überarbeitet und im April 2011 unter dem Titel „The Path to Properity“ deren neuste Version vorgestellt. „Washington hat euch nicht die Wahrheit gesagt“, warnt er in einem Begleitvideo. „Wenn wir die Staatsausgaben bei der Gesundheits- und der Altersversorgung nicht überdenken, haben wir Null Hoffnung, unsere Ausgaben - und als Folge davon unsere Schuldenkrise – je in den Griff zu kriegen.“
Ryans jüngstes Programmpapier ist eine leichtgewichtigere Version der „Roadmap“. Zum einen beschneidet der Plan „Medicare“ nicht so stark wie zuerst geplant und zum andern tastet er „Social Security“ nicht an. Insgesamt sollen die neuen Vorschläge in den ersten zehn Jahren sechs Billionen Dollar an Staatsausgaben einsparen helfen – in erster Linie bei staatlichen Sozialprogrammen, die insgesamt rund 40 Prozent des Budgets ausmachen. Auf jeden Fall aber blieben die Militärausgaben, die sich auf einen Fünftel des US- Haushalts belaufen, unangetastet. Gleichzeitig würden wegen diverser Steuererleichterungen für Private und Firmen die Einnahmen um vier Billionen Dollar schrumpfen.
Steuererleichterungen für Milliardäre
Diesmal fiel Barack Obamas Reaktion nicht mehr so moderat aus wie zwei Jahre zuvor, In einer Rede an der George Washington University, zu der er Paul Ryan persönlich einlud, liess der Präsident kein gutes Haar mehr an dessen jüngstem Budgetvorschlag. „Ich glaube, er (der Plan) zeichnet eine Vision unserer Zukunft, die zutiefst pessimistisch ist“, sagte Oabma, „ein Plan, der vorgibt, das Haushaltsdefizit zu verringern, indem man Billionen von Dollar für Steuererleichterungen für Millionäre und Milliardäre ausgibt, ist guten Gewissens nicht ernst zu nehmen.“ Ryan zeigte sich schockiert und beleidigt. Er klagte, der Präsident habe ihn als „unamerikanisch“ kritisiert und ihm vorgeworfen, „Kinder, die unter Autismus oder am Down Syndrom leiden, gegen Millionäre und Milliardäre auszuspielen“.
Auf jeden Fall sind nun in den drei verbleibenden Monaten des amerikanischen Wahlkampfs die Positionen der Kontrahenten deutlich abgesteckt. Mitt Romney, dessen politisches Profil bisher eher verschwommen geblieben ist, kann nicht umhin, als sich hinter die Sparvorschläge seines Vizes zu stellen und sie zum Hauptthema seiner Kandidatur zu machen. Indes haben die Demokraten und Barack Obama mit dem Duo Romney/Ryan künftig eine Zielscheibe, die leichter zu treffen sein dürfte als die relativ kleinen Kreise, auf die sie bisher gezielt haben, etwa Romneys umstrittene Rolle als Chef der Finanzfirma Bain Capital oder dessen unpublizierte Steuererklärungen vor 2010.
Fit wie ein Turnschuh
Auf jeden Fall lecken sich in Chicago die Wahlkampfhelfer des Präsidenten ob Romneys Wahl dem Vernehmen nach die Finger: Unter allen potenziellen Vizepräsidentschaftskandidaten der Republikaner war Paul Ryan, der durch seine Sparpläne deutlich konturiert ist, ihr Lieblingsgegner. Zudem ist Mitt Romneys Selektion nicht ohne Risiken: Laut einer Umfrage von CNN, die dieses Jahr nach der Abstimmung über Ryans Budgetvorschläge im Kongress erhoben worden ist, geben 58 Prozent aller Amerikaner an, sie seien gegen solche Sparpläne. Lediglich 35 Prozent der Befragten stimmten den Vorschlägen zu. Einer Umfrage der „Washington Post“ zufolge antworten 58 Prozent aller Amerikaner, sie seien gegen eine Reform von „Medicare“.
Und wer ist am Ende der Mann aus Wisconsin, dessen Umrisse die Demokraten jetzt so eifrig auf ihre Zielscheiben pinseln? Er ist einer wie aus dem Bilderbuch, adrett, blauäugig, mit vollem, dunklem Haar (zumindest gelegentlich eine Voraussetzung für politischen Erfolg in den USA) und fit wie ein Turnschuh. Mit Gleichgesinnten absolviert der 42-Jährige im Kapitol jeden Morgen vor Arbeitsbeginn um halb Sieben ein anstrengendes Fitnessprogramm. Nachdem er, wie meistens, in seinem Büro genächtigt hat, um Zeit zu sparen.
"Nett und kalt"
Auch ist Paul Ryan ein begeisterter Skifahrer, Jäger (mit dem Bogen) und Fischer, der angeblich einst beim Fischen seiner Frau Janna den Heiratsantrag gemacht hat. Dabei dürfte der Naturbursche vor allem bei weissen Wählern mittleren Alters gut ankommen. Ryan, Vater von drei Kindern, ist konservativer Katholik und nennt den Glauben eine seiner Inspirationsquellen – neben der in rechten Kreisen hoch geschätzten Autorin Ayn Rand (“Atlas Shrugged“). Wobei Romeny und Ryan die beiden ersten republikanischen Kandidaten sind, die weder protestantisch sind noch in der Armee gedient haben.
Paul Davis Ryan stammt aus Janesville, einer 64'000 Einwohner zählenden Stadt am Ostufer des Rock River, wo sein Urgrossvater 1884 eine Strassenbaufirma gründete, die heute national tätig ist. „Ich repräsentiere einen Teil Amerikas, der Innenstädte, ländliche Gebiete, Vororte und Industriestädte einschliesst“, sagte er seiner ersten Rede als Vizepräsidentschaftskandidat auf der U.S. S. Wisconsin. Sein Grossvater und sein Vater, der starb, als Paul 16 war, stiegen nicht ins Familiengeschäft ein und wurden Anwälte. Der junge Ryan galt an der High School als äusserst ehrgeizig und wollte erst Mediziner werden, kam aber zur Einsicht, er sei in Naturwissenschaften zu wenig begabt.
Folglich studierte er an der Miami University in Ohio Ökonomie und politische Wissenschaften. Danach stieg er allmählich in die Politik ein, erst als Praktikant, Mitarbeiter und Redenschreiber in Washington DC. Als 28-Jähriger packte Ryan 1998 die Chance, als Abgeordneter für Wisconsins 1. Distrikt direkt politisieren und direkt für sein grösstes Anliegen werben zu können: die Staatsausgaben und die Steuern zu senken. Als Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Kongress seit 2010 ist er heute in einer idealen Position dafür.
Paul Ryan gilt, im Gegensatz zu anderen Washingtoner Politikern, als relativ zugänglich und erfreut sich in den Medien eines guten Image. „Der Schlüssel, um mich zu verstehen, ist wirklich einfach“, hat ihn der „New Yorker“ zitiert. „Ich versuche nicht, jemand anderer zu sein, als der, der ich bin.“ Dagegen sagt ein früherer demokratischer Kollege aus Wisconsin über Ryan: „Ich bin erstaunt, dass jemand, der persönlich so nett ist, eine so kalte, fast akademische Sicht der Auswirkungen hat, die seine Politik auf die Menschen haben würde.“
Quellen: „The Washington Post“; The New York Times“; „The Los Angeles Times“; „The Atlantic“; „The New Yorker“.