Die No. 4, Rue de Tournon im 6. Pariser Arrondissement ist das 2. Haus auf der rechten Seite, einst das Stadtpalais der Fürsten von Montmorency, erbaut um das Jahr 1780. Zur Strasse hin sieht man von dem Gebäude vier Stockwerke mit gut drei Meter hohen Fenstern im ersten Stock, der Beletage. Hinter der Fassade und einem schweren hölzernen Eingangstor, durch das die schwarzen Limousinen der hier Beherbergten nur mit Müh und Not passen und folglich einige Schrammen hinterlassen haben, verbergen sich noch zwei wuchtige langgezogene Seitenflügel und ein gepflasterter Innenhof aus uralten Zeiten.
Café Le Tournon, ehemals Cafe de la Poste
Hier starb der ehemalige französische Staatspräsident Jacques Chirac am 26. September 2019. Nicht bei sich zu Hause.
Ganze 200 Meter weiter oben beherbergt das letzte Haus der Rue de Tournon mit der No. 18 auf derselben Strassenseite das „Cafe Tourrnon“, vor dem Zweiten Weltkrieg hiess es „Café de la Poste“. Über dem Café hat das Haus nur drei Etagen und nichts vom Prunk der Stadtpaläste aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert ringsum. Im Gegenteil. Es sieht aus, als würde es schrumpfen und von der Umgebung erdrückt werden.
Tod im Necker-Spital
Etwas mehr als 80 Jahre vor Jacques Chirac starb hier ein gewisser Roth, Vorname: Joseph. Genauer gesagt: Der Autor des „Radetzkymarsch“ hatte am 23. Mai – so heisst es – vom Selbstmord seines Freundes Ernst Toller in New York erfahren und war daraufhin zusammengebrochen. Die Bediensteten des Cafes und des „Hotel de la Poste“, das sich im Mai 1939 noch in den drei Stockwerken über dem Café befand, sorgten dafür, dass der etwas wunderliche Mann aus Österreich, den man hier schon seit anderthalb Jahrzehnten kannte, ins Necker-Spital gebracht wurde.
Dort diagnostizierte man eine doppelseitige Lungenentzündung, vier Tage später verstarb Roth mit nicht mal 45 Jahren. Es wurde spekuliert, dass der abrupte Alkoholentzug im Spital die Todesursache gewesen sein könnte.
Dieses von der Rue de Tournon rund 1500 Meter entfernte Krankenhaus hatte sich zur Zeit des Todes von Joseph Roth noch etwas von seiner ursprünglichen Fuktion bewahrt. Knapp zehn Jahre vor der Französischen Revolution war es von Suzanne Necker, der Gattin des Finanzministers unter Ludwig XVI. und Mutter der Schriftstellerin Madame de Staël, als Armenspital gegründet worden.
Ungeheure Mengen Alkohl
Und arm war Joseph Roth. Nicht nur in seinen letzten Tagen und Wochen im Frühjahr 1939, sondern schon in all seinen Pariser Jahren davor. Arm in jeder Hinsicht. Ständig hatte er, spätestens seit er 1933 sein Domizil in Deutschland verlassen und vor den Nazis fliehen musste, bei Verlegern in Frankreich und den Niederlanden sowie bei Freunden, vor allem bei Stefan Zweig, um Geld betteln müssen. Gleichzeitig verzweifelte er an der Geisteskrankheit seiner Frau Friedrike, die in dieser Zeit schon seit Jahren in einem Sanatorium bei Wien interniert war.
Währernddessen trank Roth hier im Café de la Poste in der Rue de Tournon – wo er unter anderem noch „Die Kapuzinergruft“ geschrieben hatte – die Jahre über ungeheuere Mengen Alkohol. Wenn auf seinem Stammtisch mal ein Wasserglas anstatt des Pernod oder eines Weinglases vor ihm stand, wussten alle Eingeweihten, dass auch dieses Glas etwas anderes enthielt als Wasser, nämlich Schnaps. Am Ende war der Weltbürger und rastlos reisende Joseph Roth seelisch und physisch ein Wrack. Sein Freund Walter Mehring, ebenfalls im Pariser Exil, beschrieb Roth als jungen Greis. Mit knapp 45 soll er ausgesehen haben, als wäre er schon 60.
„Die Legende des heiligen Trinkers“
In „Die Legende des heiligen Trinkers“, erst nach seinem Tod veröffentlicht, fand Roths eigener Zustand posthum noch Eingang in die Weltliteratur. Germaine Alazard, die junge Besitzerin des „Café de la Poste“ (heute Café Tournon), hatte, wie schon seit Jahren, auch noch diese Manuskriptseiten des permanent schreibenden und trinkenden Emigranten gerettet.
2019 – es mag am 80. Todestag von Roth gelegen haben – wurde „Die Legende des Heiligen Trinkers“ in Frankreich gleich in zwei verschiedenen Bearbeitungen für das Theater inszeniert, unter anderem bei den Festspielen in Avignon.
In den Palästen der Republik und bei befreundeten Familen
Jacques Chirac war alles andere als arm, und doch wohnte er, seit er 2007 den Élyséepalast verlassen musste, bis zu seinem Tod – wie vorher schon seit fast 40 Jahren – nie in einer eigenen Wohnung oder in einem eigenen Haus, sondern während seiner aktiven Zeit als Politiker, Staatssekretär, Minister, Premierminister oder Präsident in den Palästen der Republik oder aber im Rathaus von Paris. Dort von 1977 bis 1995 als Bürgermeister in einer sage und schreibe 1000 Quadratmeter grossen Wohnung. Warum sollte sich daran auf seine alten Tage etwas ändern? Also logierte Chirac, als sei das für einen ehemaligen französischen Staatspräsidenten selbstverständlich und nicht ein wenig anrüchig, nach seiner Zeit im Élyséepalast seit 2007 in luxuriösen, grosszügigen Stadtwohnungen, die ihm „befreundete Familien“ zur Verfügung gestellt hatten.
Erst auf 350 Quadratmetern am Quai Voltaire in einer der Pariser Stadtwohnungen der libanesischen Milliardärsfamilie Harriri mit Blick auf den Louvre am anderen Ufer der Seine. Und die letzten vier Jahre seines Lebens im Stadtpalais eines anderen Freundes und Milliardärs und eines der reichsten Männer Frankreichs, François Pinault.
Des einst kleinen bretonischen Holzunternehmers, der innerhalb von nur 35 Jahren den zweitmächtigsten Konzern in der französischen Luxusgüterbranche geschaffen hat. Eine grosszügige Erdgeschosswohnung im Seitenflügel von Pinaults Stadtpalast an der Nummer 4 der Rue de Tournon, vor der heute noch ein mit Bändern abgesperrter Parkplatz reserviert ist, war dem Gesundheitszustand des ehemaligen Staatspräsidenten am Ende offensichtlich angemessener.
François Pinault, der Freund des Altpräsidenten, der mit zunehmendem Reichtum ein Faible für alte, feudale Gemäuer entwickelt hatte, benutzte diesen Palast ohnehin schon seit geraumer Zeit nicht mehr als persönlichen Wohnsitz. 1999 schon hatte er sich in der schicken Rue de Bourgogne das Hotel Choiseul-Praslin zugelegt und 2014, ebenfalls im noblen 7. Arrondissement, dann noch zusätzlich für 52 Millionen Euro das zu Beginn des 18. Jahrhunderts erbaute Hotel Clermont- Tonnerre in der Rue du Bac, unweit des Luxuskaufhauses mit dem irreführenden Namen „Bon Marché“.
Unten Chirac, oben Roth
Dazwischen, an der abweisenden Fassade des grössten der zahlreichen edlen Stadtpaläste, die in der Rue de Tournon und Umgebung ab dem 16. Jahrhundert auf ehemals kirchlichem Grund in der Vorstadt von Saint Germain des Prés ausserhalb von Paris gebaut worden waren, findet man nur eine kleine Tafel mit der Aufschrift: „Terrain Militaire – Défense d' entrer“. Aus dem riesigen Palais ist eine der Pariser Kasernen der Republikanischen Garde geworden, deren Mitglieder bei jedem Staatsbesuch im Élyséepalast, bei jedem Staatsbegräbnis im Invalidendom und an jedem Nationalfeiertag zu Fuss oder beritten, mit glänzenden Stiefeln und glitzernden Säbeln daherschreiten oder sich aufstellen, bei jeder Witterung bereitstehen und dies oft stundenlang.
Die Rue de Tournon ist heute eine Strasse, die von der politischen Macht und einer der Hochburgen des Pariser Katholizismus mit der Kirche Saint Sulpice im Mittelpunkt umgeben und gekennzeichnet ist.
Die Strasse öffnet sich wie ein V von unten nach oben, von Norden nach Süden, von der Seine und vom Boulevard Saint Germain her, um am Ende geradezu majestätisch breit zu enden. Dort oben, wo die leicht ansteigende Strasse in die Rue de Vaugirard mündet und der Blick auf gewaltige Hausmauern und Türme fällt, sitzt die Macht. Der Senat, den De Gaulle einst abschaffen wollte, mit seinem angestaubten Image.
Die zweite französische Kammer, in der das tiefe, ländliche Frankreich überrepräsentiert ist, mit dem Jardin du Luxembourg sozusagen als Vorgarten im Süden, wo ein paar Privilegierte sogar ihre Tennisplätze mieten können und brave, überwiegend dunkelblau gekleidete, meist blondhaarige Kinder unter Aufsicht des sie betreuenden Hauspersonals der betuchten Familien aus der Umgebung ihre Seegelschiffchen in den Wasserbassins treiben lassen.
Unter einer Kuppel am östlichen Ende des bombastischen Senatsgebäudes schlägt eine Glocke, die auch Joseph Roth schon gehört haben dürfte, jede Viertelstunde im Turm über dem dicht beflaggten Eingang, als müsse sie die überwiegend betagten und behäbigen Senatoren in den mit Goldstuck überladenen Innenräumen des Staatspalastes wachhalten. Jacques Chirac, der nur 200 Meter weiter unten Verstorbene, der in seinem Leben praktisch alle politischen Ämter bekleidet hatte, die es nur gibt, hatte es merkwürdigerweise nie zu den Senatoren ins Palais du Luxembourg am oberen Ende der Rue de Tournon verschlagen.
Besucher aus der Provinz
Ab und an schleppen sich heute kleinere Gruppen von Menschen die Strasse hinunter. Man sieht ihnen an, dass sie aus der Provinz kommen, sich für die Hauptstadt herausgeputzt und wohl gerade einen Senatsbesuch hinter sich haben, den ihnen der Senator ihres Departements organisiert hatte. Sie sind erschöpft vom langen Gang durch die heiligen Hallen der zweiten Kammer und scheinen nicht so recht zu wissen, ob sie sich ins Café Tournon trauen sollen.
Dort sitzt gerade der anrüchige Präsident des mächtigen französischen Rugbyverbandes FFR, Bernard Laporte, einst kurzfristig sogar erbärmlicher Sportminister unter Präsident Sarkozy. Mit ein paar Verbandsfunktionären steckt er die Köpfe zusammen. Wahrscheinlich haben sie kurz vorher Lobbying für ihren Sport im Senat betrieben, versucht Gelder locker zu machen oder einen Gesetzentwurf zu beeinflussen und sind auf Nachbesprechung hier.
Eine Tafel für den Dichter
Von Joseph Roth wissen heute im „Café Tournon“ weder die Senatsbesucher aus der Provinz noch die Rugbyfunktionäre etwas. Zwar ist an der Fassade des Hauses mit der No. 18, auf Höhe des zweiten Stocks eine Tafel angebracht, die daran erinnert, dass der Schriftsteller hier von November 1937 bis Mai 1939 gewohnt hat. Gestiftet wurde das verblichene Schild von österreichischen Freunden, wie zu lesen ist. Um die Aufschrift aber entziffern zu können, muss man den Kopf ungewöhnlich weit in den Nacken legen, was so gut wie niemand tut.
Im Erdgeschoss des Hauses, im heute geschmacklos renovierten, mit naiven Gemälden des nahe liegenden Jardin du Luxembourg überhäuften Café Tournon, sass der melancholische, im fernen Galizien geborene Autor in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts fast täglich, sofern er nicht auf Reisen war oder zwischendurch einige Monate in Nizza lebte oder im Emigrantenzentrum deutschsprachiger Intelektueller, in Sanary sur Mer an der Côte d’Azur.
„Alles restlos versoffen“
An seinem Stammtisch im Café de la Poste oder im gegenüberliegenden Hotel und Restaurant Foyot, war Roth häufig, begleitet von seiner damaligen Lebensgefährtin Andrea Manga Bell. Offiziell war sie seine Begleiterin und Sekretärin, die über Jahre hinweg seine Manuskripte abtippte. Manga Bell war Tochter einer Hamburgerin und eines kubanischen Pianisten und immer noch verheiratet mit einem Prinzen aus Kamerun, der sie vor Jahren schon hatte sitzen lassen und in sein Land zurückgekehrt war. Er war der Sohn des ehemaligen Königs von Douala, den die deutschen Kolonialherren 1914 hingerichtet hatten. Roth hatte die selbstbewusste, exotische Frau im Ullstein-Verlag in Berlin getroffen und wenig später mit ihr eine gemeinsame Wohnung bezogen.
Als Roth 1933 vor den Nazis ins Exil nach Paris flüchten musste, folgte sie ihm mit ihren zwei Kindern. Bis 1936 sollte diese Beziehung halten, an deren Ende Andrea Manga Bell einem Freund schrieb: „Mein Bruder hatte mir aus Hamburg unter Lebensgefahr Geld aus meinem Erbe über die Niederlande zukommen. Roth hat alles restlos versoffen.“
Ab Sommer 1936 trat die Schriftstellerin Irmgard Keun an Manga Bells Stelle. Joseph Roth hatte die Keun während eines Aufenthalts bei Stefan Zweig in Ostende kennengelernt. Sie folgte ihm nach Paris und wurde dort unmittelbar ebenfalls Stammgast im Café ganz oben in der Rue de Tournon, zumal sie dem Alkohol ebenso verfallen war wie Roth.
Roth hält Hof im Café
„Die beiden saufen wie Löcher“, schrieb Egon Erwin Kisch damals. Und Irmgard Keun, nachdem sie 1938 vor Roth nach Nizza geflohen war, hielt fest: „Da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram.“
Roth hielt in diesem Café, sofern er nicht schrieb, regelrecht Hof. Zu seinen Freunden zählten auch zahlreiche österreichische Monarchisten und Katholiken im Exil. Roth wollte in seiner verzweifelten Lage reichlich naiv daran glauben, dass die Wiederbelebung der Monarchie ein Mittel sein könnte, um in Österreich Hitler und den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland zu verhindern. Was den Autor nicht daran hinderte, gleichzeitig bei antifaschistischen Veranstaltungen und Kongressen des linken „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller“ als Redner aufzutreten. Auf Vermittlung seines Freundes, des grossen Germanisten und Hölderlinspezialisten Pierre Bertaux, sprach Roth im März 1938 nach dem Einzug von Hitlers Truppen in Österreich sogar noch im französischen Rundfunk zu dem Thema.
„Böse, besoffen, aber intelligent“
Dabei bewegte sich Joseph Roth in den letzten 18 Monaten seines Lebens so gut wie gar nicht mehr aus dem Café de la Poste und aus seinem Hotelzimmer in der Rue de Tournon weg. Sein Radius reichte gelegentlich noch bis zum Boulevard Saint Germain, weiter nicht.
Aus dem November 1938, sechs Monate vor seinem Tod, ist eine Tuschezeichnung von Roth erhalten, die ihn stehend neben einem runden Bistrotisch mit Weinglas zeigt. Darunter stehen die von ihm geschriebenen Zeilen: „So bin ich wirklich! Böse, besoffen, aber intelligent“.
Zwei Jahre auf Bewährung für Chirac
Unten an der Nummer 4 der Rue de Tournon hatten sich nach Chiracs Tod Ende September tagelang Menschentrauben gebildet, der Blumenhändler neben Francois Pinaults Stadtpalais machte das Geschäft seines Lebens. Es waren überwiegend Vertreter der älteren Generation, die vom ehemaligen Präsidenten und mit ihm auch von einer Epoche Abschied nahmen, die inzwischen gründlich der Vergangenheit angehört.
Chirac, der Machtmensch, der Bulldozer, der Charmeur und geborene Wahlkämpfer, der in seinem Leben Abermillionen Hände geschüttelt hatte, war ihnen von Mitte der 60er Jahre bis zur Jahrtausendwende als Vollblutpolitiker der alten Sorte fast 40 Jahre lang ein ständiger Begleiter gewesen, einer, von dem sich viele sagten, er war einfach immer schon da. Dementsprechend trug Frankreich diesen fünften Präsidenten der Fünften französischen Republik geschlagene fünf Tage lang zu Grabe – von einem Donnerstag bis zum darauf folgenden Montag.
Es war als hätte man dem skrupellosen Opportunisten Jacques Chirac sämtliche Gemeinheiten, Skandale und Verrätereien schlicht und einfach verziehen oder als hätten die Franzosen ein sehr kurzes oder überhaupt kein Gedächtnis. Denn immerhin: Chirac wurde, nachdem schon andere für Finanz- und Korruptionsskandale während seiner politischen Laufbahn an seiner Stelle hatten bezahlen müssen, am Ende, 2011, vier Jahre nachdem er den Élyséepalast verlassen hatte, als erster ehemaliger Präsident Frankreichs selbst wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Vertrauensmissbrauch zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Ein persönliches Erscheinen vor Gericht blieb ihm auf Grund seines Gesundheitszustands erspart. Nur Nicolas Sarkozy könnte ihn in dieser Hinsicht in den nächsten Jahren noch übertreffen.
Büros der Immobilienmakler
Bezeichnenderweise beherbergen das erste Haus auf der rechten und das letzte Haus auf der linken Seite der Rue de Tournon im Erdgeschoss jeweils Büros von Immobilienmaklern. Jedermann kann in den Vitrinen direkt nachprüfen, dass er sich hier in einer der mittlerweile teuersten Gegenden von Paris befindet und ehrfürchtig oder empört wieder davonschleichen. Eine 150-Quadratmeterwohnung ist für 6’500 Euro pro Monat zu mieten, was mehr als fünf französische Mindestlöhne ausmacht. Und wer kaufen möchte, kann hier unter anderem 178 Quadratmeter auf fünf Räume verteilt für 3,65 Millionen Euro erwerben .
Der eine Immobilienmakler logiert im herrschaftlichen, denkmalgeschützten Haus mit der Nummer 31, heute das letzte Gebäude auf der linken oberen Seite der Rue de Tournon. Joseph Roth hatte eben dieses Haus, in dem die Schriftstellerin Katherine Mansfield einst eine Wohnung hatte, vom Café Tournon aus stets im Blick gehabt.
Karl Lagerfeld und Yves Saint-Laurent
Gut 15 Jahre nach Roths Tod sollte dort für wenige Jahre ein exzentrischer, Monokel tragender junger Mann aus Norddeutschland einziehen, damals noch mit schwarzen Haaren und durchtrainiertem Körper, einer, der sich gelegentlich auch als Schwede oder Däne ausgab. Vor dem Haus parkte sein Mercedes Coupé, spendiert von den Eltern, die ihm auch seine exorbitanten Schneiderrechnungen grosszügig bezahlten, bevor ihr Sohn seine fulminante Karriere als Modezar starten sollte. Das war Karl Lagerfeld.
Mitte der 60er Jahre sorgte, nur fünf Häuser weiter unten in der Rue de Tournon, Lagerfelds Intimfeind und jahrzehntelanger Konkurrent, Yves Saint-Laurent, für eine kleine Revolution in der Modebranche. Als erster aus der Haute-Couture-Riege eröffnete er gerade dort, als wolle er Revanche üben und sich an seinem Gegenspieler rächen, seine erste Boutique für Prêt-à-porter, die Jahre lang für Furore sorgen sollte. „Yves Saint-Laurent Rive Gauche“ ist heute noch ein Begriff.
Joseph Roth blickte die letzten 15 Monate seines Lebens exakt neben dem Haus mit der No. 31, in dem Lagerfeld Mitte der 50er Jahre rauschende Feste feiern sollte, auf die Abbruchstelle des Hotels Foyot, eines einst vornehmen Eckgebäudes aus dem 18. Jahrhundert, das baufällig geworden war und Ende 1937 der Abrissglocke zum Opfer fiel. Roth, der dem Abriss traurig, ja fast verzweifelt beiwohnen musste, hatte bis dahin während all seiner Paris-Aufenthalte in diesem Hotel, in dem einst auch Rilke und Kokoschka abgestiegen waren, gewohnt – zuletzt sogar unentgeltlich in einer unbeheizten Dachkammer, die er erst verliess, als man ihm buchstäblich das Dach über dem Kopf abzubauen begann.
Der letzte Hafen
Dieses Hotel war seine Pariser Heimat geworden, mit seinem Abriss verlor der gesundheitlich bereits schwer angeschlagene und der Trunksucht verfallene Roth so etwas wie seinen letzten sicheren Hafen.
„Gegenüber dem Bistro, in dem ich den ganzen Tag sitze, wird jetzt ein altes Haus abgerissen, ein Hotel, in dem ich sechzehn Jahre lang gewohnt habe – die Zeit meiner Reisen ausgenommen. Vorgestern Abend stand noch eine Mauer da, die rückwärtige, und erwartete ihre letzte Nacht (...). Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füsse sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und grösser, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und das ist eben das Trostlose.“
Hotel Helvetia
Heute stehen auf dem damals mit Schutt überhäuften Platz anstatt des Hotels mit der Hausnummer 33 ein recht ansehnlicher und drei eher armselige Bäume neben einem auch in diesen Zeiten noch gut besuchten Zeitungskiosk. Nichts erinnert mehr daran, dass hier und fünf Häuser weiter unten, damals das „Hotel Helvetia“, von 1933 an ein Zentrum der deutschen und österreichischen Emigration war. Auch der Philosoph Ernst Bloch und seine Frau Karola hatten hier 1935 einige Wochen verbracht, Alfred Kantorowicz hatte hier 1934 begonnen, die Exilbliothek der verbrannten Bücher zusammenzustellen, unterstützt von André Gide und Romain Rolland. Ist es Zufall, dass exakt hinter dem Platz, auf dem einst das Hotel Foyot stand, in der Rue Condé seit Jahrzehnten ein Ableger des deutschen Goethe-Instituts untergebracht ist?
Ehefrau Bernadette Chirac
Unten bei der Hausnummer 4 der Rue de Tournon ist seit Jacques Chiracs Tod inzwischen wieder Normalität eingekehrt. Ab und an verlässt eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben das Anwesen des Milliardärs François Pinault, wahrscheinlich mit der Witwe des verstorbenen Altpräsidenten auf dem Rücksitz. Bernadette Chirac, eine geborene Chodron de Courcel, die während der tagelang dauernden Trauerzeremonien für ihren Ehemann nie in der Öffentlichkeit gesehen wurde.
Böse Zungen wollten nicht so recht glauben, dass die 86-Jährige schlicht und einfach selbst zu schwach war, um nach dem Tod ihres Gatten das Licht der Öffentlichkeit zu ertragen. Sie sahen in ihrer Abwesenheit vielmehr so etwas wie eine späte Rache an ihrem Mann, der sie ein Leben lang betrogen hatte, doch um eine Scheidung stets herumgekommen war, weil man sich in gewissen Kreisen, wie denen der Chodron de Courcel, ebenso gut wie nie scheiden liess.
Legendär in Chiracs Eheleben bleibt die Nacht, in der Lady Diana und ihr Liebhaber am 13. Betonpfosten der Unterführung unter der „Place d’Alma“ den Tod fanden. Niemand war damals in der Lage, Frankreichs Staatspräsidenten bis in die späten Vormittagsstunden des folgenden Tages aufzutreiben. Seine Ehegattin musste mitten in der Nacht an seiner Stelle in das Krankenhaus eilen, in dem die Prinzessin ihren Verletzungen erlag.
Die Adresse hier unten in der Rue de Tournon war Bernadette Chirac und ihrem Mann schon seit Anfang der 90er Jahre bestens vertraut. Am Abend von Jacques Chiracs Wahlsieg zum Präsidenten der Republik im Mai 1995 wurde sie dann auch einer grösseren Öffentlichkeit bekannt. Der Wahlsieger hatte nach seinem Triumph in einer bequemen Limousine, erstmals von einer Motorradkamera begleitet und live im Fernsehen übertragen, mit heruntergelassenen Fenstern und eifrig winkend eine Art Siegesfahrt durch halb Paris inszeniert. Irgendwann setzte er dann Ehefrau Bernadette, die genug von dem Schauspiel hatte, an eben dieser Adresse in der Rue de Tournon ab, wo die frischgebackene Präsidentengattin mit den Pinaults den Wahlsieg feierte, während der neu gewählte Präsident erst mal wieder in seine bisherige Machtzentrale, ins Pariser Rathaus weiterfuhr, wo er bis dahin 18 Jahre lang Bürgermeister gewesen war.
Die Zeit der Kohabitation
Dass das Stadtpalais des Grossunternehmers Pinault in der Rue de Tournon für die Chiracs ein Haus der offenen Tür war, hat Gründe, die nicht nur mit Freundschaft, sondern auch viel mit Interessen und einer gewissen Schuld zu tun haben, die der eine beim anderen hatte.
Man schrieb das Jahr 1986, und Jacques Chirac war nach dem Sieg der Konservativen bei den Parlamentswahlen bereits zum zweiten Mal in seinem Leben zum Premierminister ernannt worden. Nach zwei Jahren unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing ab 1974, diesmal unter Präsident Francois Mitterrand – die Zeit der berühmten ersten Kohabitation hatte begonnen. Francois Pinault, der im Alter von 16 als Sohn eines Holzhändlers in der Bretagne die Schule verlassen hatte, begann in jener Zeit gerade, sich auf die Übernahme von schwächelnden Unternehmen in ganz Frankreich zu spezialisieren. Und Jacques Chirac sorgte damals als neu ernannter Premierminister dafür, dass der Staat respektive die staatliche Bank Crédit Lyonnais seinem Freund Pinault ungewöhnlich kräftig unter die Arme griff.
Pinault kaufte in jener Zeit ein Holzunternehmen und eine Papierfabrik auf, die er dank staatlicher Millionenhilfen beide nur vier Jahre später mit rund 500 Millionen Franc Gewinn weiterverkaufen konnte. Dies war der Anfang einer Unternehmerkarriere, an deren vorläufigem Ende ein Vermögen von zur Zeit rund 30 Milliarden Euro steht.
Von daher war es dann auch wie selbstverständlich, dass Jacques Chirac noch als Staatspräsident und in den Jahren danach, so lange es ihm seine Gesundheit erlaubte, seine Urlaube in Pinaults Villa in Saint Tropez oder in dessem herrschaftlichen Haus an der nordbretonischen Küste in Dinan verbrachte, sofern er sich nicht in wärmeren Gefilden auf eines der Anwesen des marokkanischen Königs einladen liess.
An Joseph Roths Grab
Als der Bewohner im Haus mit der Nummer 18 in der Rue de Tournon starb, mussten die Trauergäste zur Beerdigung in den südlichen Pariser Vorort nach Thiais wandern. An Roths Grab fanden sich damals Vertreter aus drei sehr unterschiedlichen Welten ein. Da standen Österreichs Monarchisten im Exil neben den linken und neben den jüdischen Emigranten. Der Sekretär des österreichischen Thronfolgers, Otto von Habsburg, soll die Worte gesprochen haben: „Für den treuen Kämpfer der österreichischen Monarchie im Namen seiner Majestät, Otto von Österreich“.
Woraufhin der rasende Reporter, Egon Erwisch Kisch, ans Grab trat und sagte: „Im Namen deiner Genossen des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller“. Der eigentlich vorgesehene Kaddish wurde in der allgemeinen Verwirrung dann nicht mehr gesprochen.
Heute liegt unweit von Joseph Roth in der Bannmeile vor der Hauptstadt noch ein anderer Schriftsteller begraben, der Jahre nach Roth ebenfalls im fernen Galizien geboren worden war und in Paris 1970 Selbstmord begangen hatte. Paul Celan wurde nur vier Jahre älter als Joseph Roth.
Chirac, der Bewohner der Hausnummer 4 der Rue de Tournon erhielt nur 100 Meter von seiner letzten Wohnstätte entfernt in der Kirche Saint Sulpice ein Staatsbegräbnis. Barenboim sass am Klavier, den deutschen Ex-Kanzler Schröder hatte man vergessen einzuladen und draussen verfolgten letztlich nur knapp tausend Personen die Zeremonie auf Bildschirmen, während in der Kirche reihenweise alte politische Gegner Chiracs gute Miene machten zum feierlichen Spiel.
„Ist sonst nichts passiert auf der Welt?“
Allein Chiracs politischer Erzfeind fehlte. Der heute 92-jährige Ex- Präsident Valéry Giscard d’Estaing war auch im hohen Alter und nach fast 40 Jahren nicht bereit, dem Mann zu verzeihen, der ihn 1981 verraten hatte. Chirac, damals selbst als Kandidat der Rechten angetreten gegen den Zentristen und bisherigen Präsidenten Giscard d’Estaing und gegen den zu den Sozialisten konvertierten François Mitterrand, war im ersten Wahlgang nur an dritter Stelle und deutlich hinter Giscard d’Estaing gelandet und damit ausgeschieden. Als Unterlegener hatte er vor der entscheidenden Stichwahl dann diskret dazu aufgerufen, für François Mitterrand und nicht für Giscard d’Estaing zu stimmen. Am Morgen nach Chiracs Ableben, so ist überliefert, soll Giscard d’Estaing die Tageszeitungen, die natürlich mit Chiracs Tod aufmachten, allesamt ungelesen in den Papierkorb geworfen haben mit der Bemerkung: „Ist sonst nichts passiert auf der Welt?“