Kurz vor Viertel nach elf Lokalzeit war es vorbei. Die Wahlnacht war schneller und reibungsloser verlaufen als befürchtet. Ray Suarez interviewte auf PBS Chicagos demokratischen Bürgermeister Rahm Emanuel, als im McCormick Center im Hintergrund plötzlich lauter Jubel aufbrandete.
Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und einem Blick zur Seite riss auch Emanuel die Arme in die Höhe: CNN hatte soeben, früher als erwartet, angesagt, Barack Obama werde der nächste Präsident der USA sein. Und die Party begann, in Obamas Heimatstadt und auf den Strassen von DC, auf der U-Street und vor dem Weissen Haus.
Die Republikaner waren es, die blufften
Der Prognose des Senders zufolge hatte der Präsident mehr als jene 270 Elektorenstimmen gewonnen, die er brauchte, um eine zweite Amtszeit im Weissen Haus zu bleiben. Die Strategie der Demokraten war aufgegangen, ihr Feuerschutzwall im Mittleren Westen hatte gehalten.
Den Republikanern indes war es nicht gelungen, genügend unentschiedene Wähler auf ihre Seite zu ziehen – aller lauthals und öffentlich bekundeten Überzeugung zum Trotz. Am Ende waren sie es, die geblufft hatten. Die Umfragen hatten Recht und waren nicht, wie sie klagten, manipuliert.
Die Republikaner sind selbst zur Minderheit geworden
Zwar waren die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit und die Staatsschulden im Wahlkampf zweifellos wichtige Themen gewesen. Doch Mitt Romneys Strategen unterschätzten Amerikas veränderte Demografie: Das Land wird zunehmend weniger weiss, die Zahl der Latinos wächst, und damit schrumpft die Basis der republikanischen Partei, die unter dem Druck der Tea Party zudem noch spürbar nach rechts gerückt ist. Die Republikaner sind selbst zur Minderheit geworden.
Ausgerechnet die Latinos, die 17 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachen, hatte der Herausforderer im Wahlkampf verärgert, als er, seine Konkurrenten rechts überholend, forderte, Amerikas elf Millionen illegale Einwanderer sollten sich „selbst-deportieren“. Und weisse Wähler, in erster Linie Fabrikarbeiter, hatte Mitt Romney im Schlüsselstaat Ohio gegen sich aufgebracht, als er sich gegen die Rettung der amerikanischen Autoindustrie durch das Weisse Haus aussprach.
Kein „enthusiasm gap“
„Lassen wir die Autoindustrie bankrott gehen“, lautete der Titel seines umstrittenen Meinungsbeitrags in der „New York Times“, ein Titel, den nicht der Autor, sondern die Redaktion gesetzt hatte. Doch diese Schlagzeile, mutmasste ein Experte auf ABC, könnte Romney den Sieg in Ohio gekostet haben. Andere Stimmen dürften als Erklärung anführen, dass Hurrikan „Sandy“ Mitt Romneys Momentum gestoppt habe, jenen Rückenwind, der ihn nach der ersten gewonnen Fernsehdebatte in Denver (Colorado) anzutreiben begann und den Enthusiasmus seiner Anhänger stärkte.
Die Republikaner verspekulierten sich auch, als sie annahmen, die Demokraten seien in den einzelnen Staaten weniger gut organisiert als vor vier Jahren, d.h. ihr „ground game“ sei schwächer als 2008, weil es ihnen nicht ein zweites Mal gelingen würde, ihre Freiwilligen und vor allem junge Leute in genügender Zahl zu mobilisieren. Die Rede war von einem „enthusiasm gap“. Doch die Stimmbeteiligung auf Seiten der Demokraten sank nicht im erhofften Ausmass – anscheinend im Gegenteil. Barack Obamas Feststellung, er brauche eine zweite Amtszeit, um seine Ziele umzusetzen, ist unter Wählerinnen und Wählern offenbar besser angekommen als Mitt Romneys düstere Prognose, Amerika gehe unter einem demokratischen Präsidenten vor die Hunde. Der Slogan „Vorwärts!“ erwies sich als stärker als „Wirklicher Wechsel“, falls denn solche Slogans überhaupt noch verfangen.
Bei den Republikanern beginnt das grosse Messerwetzen
Auch die Wahl des republikanischen Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte hinterfragt werden. Auf jeden Fall hat Paul Ryan, der Abgeordnete aus Wisconsin, Mitt Romney nicht helfen können, seinen Heimatstaat zu gewinnen. Wisconsin wählte Obama. Unter Umständen hätte Rob Portman, der Senator aus Ohio mit Schweizer Wurzeln, mehr Erfolg versprochen und Romney dank ihm Ohio gewonnen, was ihm aber im Nachhinein angesichts des klaren Rückstands bei den Elektorenstimmen auch nichts mehr genützt hätte. Auf jeden Fall dürfte nun in der republikanischen Partei das grosse Messerwetzen beginnen und die gegenseitigen Schuldzuweisungen nach einer zweiten Niederlage dürften sich intensivieren.
Der Sieg des Präsidenten hatte sich abzuzeichnen begonnen, als im Verlauf des Abends bekannt wurde, dass die Demokraten einige Senatssitze hatten gewinnen können, die noch unlängst als sicher für das republikanische Lager gegolten hatten. Unter anderem in Indiana und Missouri jene zwei Sitze, deren republikanische Bewerber sich entweder stupid oder primitiv zum Thema Abtreibung geäussert hatten. Und damit eine weitere Wählerschicht, die Frauen, verärgerten, unter der die Republikaner Gewinne zu erzielen gehofft hatten. Offenbar waren Wählerinnen und Wähler weniger willig als früher, ihre Loyalität zu teilen, d.h. zum Beispiel im Fall der Präsidentenwahl demokratisch und bei den Kongresswahlen republikanisch zu stimmen.
Eine Rede für die Niederlage sah Romney nicht vor
Kurz vor ein Uhr wurde bekannt, dass Mitt Romney Barack Obama angerufen habe, um ihm zu gratulieren und seine Niederlage einzugestehen. Das dürfte dem 65-Jährigen nach seinen siebenjährigen Bemühungen, ins Weisse Haus einzuziehen, nicht leicht gefallen sein. Auf jeden Fall hatte sich Romney nur auf einen Sieg vorbereitet und auf seinem iPad eine entsprechende Rede geschrieben. Eine Rede im Falle des Gegenteils verfasste er nicht.
Barack Obama dagegen hatte zwei Reden vorbereitet, eine für den Fall eines Sieges und eine zweite für den Fall einer Niederlage. Der Präsident hatte untertags in Chicago noch kurz Basketball gespielt, wie er es, abergläubisch, in der Vergangenheit vor wichtigen Wahlen stets getan hat.
"Amerika stehen die besten Zeiten noch bevor"
Als Basketballer weiss Obama, wie nahe Sieg und Niederlage oft beieinanderliegen. Und dass ein Spiel erst mit dem Abpfiff zu Ende ist. Noch muss der Präsident auch das dritte und das letzte Viertel seiner Amtszeit gewinnen. Das wird angesichts der unveränderten Machtverhältnisse in Washington und der Spaltung im Lande draussen kein leichtes Unterfangen werden. So versöhnlich und optimistisch sich Amerikas alter und neuer Präsident in seiner Siegesrede auf der Bühne des McCormick Center in Chicago auch gab: „Den Vereinigten Staaten von Amerika stehen die besten Zeiten noch bevor.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.