Vor dem grossen Erdbeben vom 11. März 2011 waren weniger als fünf Prozent der japanischen Bevölkerung gegen Atomenergie, vier Wochen nach dem Beben waren es schon elf Prozent, heute sind es 75 Prozent. Am 11. September 2011 demonstrierten in Tokio nach Angaben der Veranstalter etwa 10'000 Menschen gegen Atomenergie.
40 von 54 Reaktoren ausser Betrieb
Seit den aufeinander folgenden drei Katastrophen des Erdbebens, der drei aufeinander folgenden Tsunami-Wellen und der dadurch ausgelösten Havarie des Kernkraftwerks Fukushima I lassen sich atomare Katastrophen nicht mehr einfach als Ergebnisse zwar bedauerlicher, aber eben vermeidbarer Schlamperei abtun. Es ist jetzt klar: Atomare Katastrophen entstehen, weil die Atomenergie nicht unter allen Umständen - auch bei menschlichem Versagen - vollständig beherrschbar ist.
Von den 54 Atomreaktoren in Japan sind derzeit 40 ausser Betrieb. Sie sind zerstört, werden gerade gewartet oder wurden vorsorglich abgeschaltet, da die Sicherheit ihres Betriebs nicht gewährleistet werden konnte. Das Gebiet um Tokio mit ungefähr 30 Millionen Einwohnern, die die Betreiberfirma Tepco als Monopolist mit Strom versorgt, hat kein Kernkraftwerk mehr in seinem Netz. Mindestens 15 Prozent Strom müssen seit Ende Juni, das heißt in der heissesten Jahreszeit, eingespart werden, soll es nicht zu unkontrollierten, teuren Blackouts kommen.
Seither gibt Tepco allmorgendlich die maximale Megawattstundenzahl bekannt, die für den Tag geliefert werden kann. Von dem Maximalwert zieht Tepco noch einmal zwischen 15 und 20 Prozent ab, die als Sicherheitsreserve ungenutzt bleiben sollen.
Stromsparen funktioniert
Nicht nur die Blackouts, sondern das gesamte befürchtete Chaos blieb aus. Die Bahnen fuhren zu den Spitzenverkehrszeiten seltener als gewöhnlich; die Kühlung in den vollen Wagons war auf höhere Temperaturen eingestellt als zuvor üblich im Sommer. Einige Betriebe mit hohem Stromverbrauch drosselten die Produktion, andere verlegten Arbeitstage auf die stromverbrauchsärmeren Wochenenden. Die meisten Klimaanlagen kühlten weniger stark als früher, wenn sie nicht ganz abgeschaltet und durch die guten alten Ventilatoren bei geöffneten Fenstern ersetzt wurden.
Tepco produzierte derweil mehr Strom, als sie in ihrem Liefergebiet absetzen konnte und verkaufte, was nicht gebraucht wurde, in das Erdbebengebiet in Nordjapan. Die allgegenwärtige Werbung fürs Stromsparen erregte praktisch keinen Widerwillen und entfaltete starke Wirkung.
Im Sommer ging dennoch die Angst um, auf die drei Krisen würden zwei weitere folgen – die wirtschaftliche und die politische. Das ist aber bislang nicht geschehen. Durch Aufnahme neuer öffentlicher Schulden in bisher zwei Nachtragshaushalten (der dritte soll demnächst verabschiedet werden), und durch ein massives Aufkommen privater Spenden wurde ein starker Einbruch der Produktion über längere Frist als Folge der ersten drei Krisen bisher vermieden.
Neue Regierung will Steuerern erhöhen
Gleichwohl ist die gerade am 2. September 2011 ins Amt gekommene neue Regierung von Ministerpräsident Yoshihiko Noda offenbar entschlossen, Steuern zu erhöhen, da der Berg öffentlicher Schulden nicht weiter wachsen soll und darf (er umfasst schon jetzt 200 Prozent der Bruttoinlandsprodukts). Dennoch bereiten im Augenblick die Folgen des Rekordhochs des Wechselkurses des Yen gegenüber dem US-Dollar und dem Euro mehr Kopfzerbrechen als die wirtschaftlchen Folgen der drei Katastrophen.
Nicht zuletzt die Frage nach der Finanzierung der Wiederaufbauleistung nach Erdbeben und Tsunamiwellen schien Anfang Juni eine politische Krise auszulösen, deren Kern die Spaltung der Demokratischen Partei als Regierungspartei hätte sein können. Das hätte zu Neuwahlen führen müssen, die unter dem Eindruck der drei ersten Krisen unkalkulierbar gewesen wären.
Hinzu kommt, dass keine der beiden großen Parteien mehr als 25 Prozent Zustimmung in der aktuellen Wählerbewertung bekommt, beide also Neuwahlen scheuen. Doch der große Knall blieb aus. Ministerpräsident Kan überstand am 2. Juni 2011 ein Misstrauensvotum der Opposition und hinterliess bei seinem Rücktritt Ende August eine auf Einigkeit gepolte Regierungspartei.
Was geschieht mit dem atomar verseuchten Abfall?
Es blieb also bisher bei den drei ursprünglichen Krisen. Unter ihnen hat sich im Verlauf der vergangenen sechs Monate die zu erwartende Umgewichtung vollzogen. Während der ersten sechs Wochen nach dem 11. März 2011 beherrschten die direkten Zerstörungen durch das Erdbeben und die Tsunamiwellen das öffentliche Bewusstein. In dieser Phase war das havarierte Kernkraftwerk Fukushima I zwar in den Nachrichten stark präsent, aber auch bei dieser Krise standen zunächst die unmittelbaren Folgen für die umwohnende Bevölkerung wie etwa Zwangsumsiedlung aus der Zone von 30 Kilometer um die zerstörten Reaktoren sowie die Verseuchung von Luft, Wasser und Böden im Vordergrund der Berichterstattung.
Inzwischen figuriert das Schicksal der Evakuierten immer noch in den Nachrichten, aber weniger im öffentlichen Bewusstsein. Dorthin drängt mit zunehmender Stärke die Frage nach dem Umgang mit dem atomar verseuchten Müll. Die Entsorgung atomaren Müllls spitzt sich in Japan auf die weit über den Umgang mit abgebrannten Brennstäben hinaus gehende Frage zu, wohin die verseuchten Bruchstücke der zerstörten Reaktoren, die verseuchten Böden, Gebäude und deren Inhalt gebracht werden sollen.
Zwei Konzepte
Auf der einen Seite stehen die "Zentristen", die allen Schrott am Ort des Kernkraftwerks Fukushima I sammeln und dort direkt am Meer in einer großen Betonkiste einmauern wollen. Der Plan wirft das Problem auf, dass eine solche Kiste kaum wirksam gegen Erdbeben und Tsunamiwellen geschützt werden kann. Fukushima wäre demnach die Stadt des Todes in Japan. Auf der anderen Seite wollen die "Distributionisten" den Schrott überall im Land verteilen. Dieser Plan stösst auf die Schwierigkeit, dass niemand Atomschrott aus Fukushima haben will. Auf der anderen Seite sollen die Folgen der atomaren Krise auf das ganze Land verteilt werden. Fukushima wäre demnach überall in Japan.
Der Slogan „Nie wieder Fukushima!“ ist daher im Verlauf von sechs Monaten mehrdeutig geworden. Auf der einen Seite verortet er das Grauen der atomaren Katastrophe am Ausgangsort. Anderswo im Land soll man auf Kernkraftwerke besser aufpassen, damit sie weiter betrieben werden können. Auf der anderen Seite wird der Slogan als eine Gesamtverantwortung für das Land als ganzes interpretiert. Da Fukushima überall ist, sollen alle Kernkraftwerke ausser Betrieb gestellt werden.
Fukushimas Bürger wehren sich gegen Stigmatisierung
In Fukushima selbst aber hat der Slogan noch eine andere Bedeutung. Hier steht er nicht nur für ein Kernkraftwerk, sondern auch für eine Stadt und eine Präfektur mit gut zwei Millionen Einwohnern (eine Art Kanton, auch wenn Japan keine föderale Verfassung hat). Dort gilt, dass Fukushima weder Stadt des Todes, noch dass Fukushima überall in Japan sein kann, sondern dass Fukushima eben Fukushima ist. Dessen Bewohner haben am 11. September 2011 das Gedenken an die drei nationalen Krisen zum Anlass genommen, auf ihre eigene regionale Krise hinzuweisen. Diese ist, wenn man so will, kultureller Art. Sie resultiert aus der Stigmatisierung des Namens Fukushima, auch und gerade durch den erwähnten Slogan.
Am 11. September verkündeten Stadt und Präfektur Fukushima die Botschaft, dass Fukushima mehr ist als ein havariertes Kernkraftwerk und dass nicht jeder und alles dort verstrahlt sind. Für die Landwirte der Präfektur mit der viertgrössten Anbaufläche im Land ist diese Botschaft überlebenswichtig.