In wenigen Tagen, am 1. September, wird sich zum 75. Mal der Tag jähren, an dem 61 Männer und 4 (!) Frauen im Naturkundlichen Museum Koenig in Bonn zusammenkamen, um in den folgenden Monaten zunächst für den westlichen Teilbereich des nach dem Krieg verbliebenen Deutschlands ein Grundgesetz zu erarbeiten. Was ist es den heutigen Deutschen noch wert?
Das Ergebnis dieses – heute würde man es wahrscheinlich «brainstorming» nennen – Versuchs eines demokratischen Neuanfangs wurde am 8. Mai 1949 (also exakt vier Jahre nach der Kapitulation des Hitler-Reiches) mit 53 gegen 12 Stimmen verabschiedet und trat am 23. Mai 1939 in Kraft. Die damals in der «Parlamentarischen Versammlung» vereinten Männer und Frauen wussten um die historische Bedeutung ihrer Aufgabe. Sie alle hatten die Gräuel der Nazi-Zeit erlebt, die sie nicht selten in Gefängnissen und Konzentrationslagern erlitten. Ihre Erfahrungen prägten deshalb das Grundgesetz. Es wurde, war und ist die freiheitlichste, liberalste, humanste und dem schöpferischen Geist Raum gebende Verfassung in der deutschen Geschichte und bis heute beispielgebend weit darüber hinaus.
Das sei doch alles selbstverständlich und allen bewusst, hört man jetzt häufig sagen. Selbstverständlich ja – die Gesellschaft lebt ihre Freiheiten schliesslich auch weidlich aus. Aber auch bewusst? Bewusst in dem Sinne, um was für ein kostbares Gut es sich bei der so geschaffenen Staats- und Demokratieform handelt? Nämlich – noch einmal – um die mit Abstand beste, die den Menschen hierzulande jemals an die Hand gegeben wurde. Um die Frage kurz zu beantworten: Es bestehen Zweifel, ob ein solches Bewusstsein wirklich besteht im Land zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz. Man möge mal einfach im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis nach Inhalt und Geist unserer Verfassung nachfragen. Es gehört nicht viel Phantasie zu der Vorhersage, dass man sein blaues Wunder erleben wird. Da wird mit Sicherheit eine Menge Unkenntnis zutage kommen; nicht selten wahrscheinlich auch noch gepaart mit Desinteresse.
Die offenen Absichten der AfD
Nun ist es sicherlich richtig und entspricht zudem jahrelanger Erfahrung, dass Meinungsumfragen und demoskopisch eingesammelte Stimmungen nicht unbedingt auch gleichzusetzen sind mit den Wählerstimmen, die letztendlich in den Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlurnen landen. Aber die keineswegs erst in jüngster Zeit rasant angestiegenen Sympathie- und Zustimmungswerte für die sich selbst als «Alternative» bezeichnende AfD machen schon besorgt. Und zwar umso mehr, als die Repräsentanten dieser Partei – wie erst wieder einmal unlängst auf dem Konvent in Magdeburg – mittlerweile überhaupt kein Hehl mehr aus ihrem Hass auf «dieses System» und ihrer Absicht machen, es zu zerstören. Und da sie gleichzeitig offen ihr Wohlgefallen an Russlands Diktator Wladimir Putin und dessen Krieg gegen die Ukraine erkennen lassen, kann es doch eigentlich überhaupt keine Frage sein, in welche Richtung sie Deutschland lenken möchten. Dazu noch die Forderung nach Abschaffung der Nato (immerhin Garant für die mit 75 Jahren ohne Krieg längste Friedensperiode in der Geschichte unseres Kontinents) sowie der EU, die – ungeachtet aller unbestreitbaren Probleme – das Beste ist, was Europas Politiker und Bürger in diesem von Kriegen, Zerstörung und Verwüstungen geschundenen Erdteil jemals zustande gebracht haben.
Und für derart abenteuerliche Vorstellungen lassen sich in unserem Land in zunehmender Zahl denkende Menschen einspannen? Schlimm genug, dass «der Staat» beinahe tatenlos zuschaut, wenn – nicht selten begleitet von «Grössen» der AfD – grölende Horden mit Glatzköpfen, Springerstiefeln und kaum veränderten Nazi-Emblemen ungehindert durch Städte marschieren und «Kameradschaftstreffen» in Dörfern veranstalten. Nicht zu vergessen dann noch der spürbar wachsende Antisemitismus und die Anfeindung von Juden und «Andersartigen» – ausgerechnet in dem Volk, das vor gar nicht allzu langen Jahren massenhaft einem «Führer» und dessen Regime zujubelte, das für bis dahin unvorstellbare Verbrechen verantwortete und wo vielmillionenfacher Tod zum Kernprogramm seines Handelns gehörten. Als ein «Vogelschiss in unserer Geschichte», ist diese Epoche noch vor Kurzem von Alexander Gauland verniedlicht worden, einem Ehrenvorsitzenden der AfD.
Eine Menge faul im Staate Deutschland
Es ist ja keine Frage, dass tatsächlich eine Menge faul ist im Staate Deutschland. Das schafft natürlich Missmut, und daran trägt «die Politik» ein gerüttelt Mass Verantwortung. Das betrifft nicht so sehr die aktuelle aussen- und sicherheitspolitische Lage, auch nicht manche wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme. Banken- und Eurokrise, Corona-Pandemie und russischen Überfall auf die Ukraine wird wohl nicht einmal der übelst launige Zeitgenosse «denen in Berlin» in die Schuhe schieben wollen. Aus all dem Schlamassel ist Deutschland, im Vergleich zu vielen anderen Ländern, eigentlich ganz gut herausgekommen. Und vielleicht erinnert sich ja der eine oder die andere noch an die Panik, die vor einem Jahr nach der (leider Gottes viel zu späten) Kappung von russischem Gas wegen des bevorstehenden Winters und der drohenden kalten Wohnungen herrschte. Infolge politischer Kraftanstrengungen und – nicht zu vergessen – unglaublich hoher Staatshilfen (in simpler Übersetzung: Schulden) wurde diese Gefahr beseitigt; heute spricht kaum noch jemand davon. Bis vor einigen Monaten kam die Industrie mit dem Bau von Wärmepumpen nicht nach – heute sitzen die Händler auf den Geräten, weil die Nachfrage inzwischen drastisch abgenommen hat.
Dank für erhaltene Wohltaten ist bekanntlich keine politische Kategorie. Okay, schliesslich sind die Volksvertreter ja auch dafür gewählt und die obersten Repräsentanten sogar darauf eingeschworen worden, «das Wohl des Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden». Aber es gibt nun einmal kein verfassungsmässiges Grundrecht, dass die Wirtschaft – komme was da wolle – jährlich möglichst zweistellige Zuwachsraten einfährt. Es besteht auch kein Grundrecht auf mehrfache Urlaubsreisen jedes Jahr mit Billigflügen nach Mallorca oder sonst wohin. Dafür aber existieren, genau wie anderswo, auch hierzulande handfeste Probleme. Der Wirtschaft fehlen qualifizierte Arbeitskräfte. Es mangelt an Nachwuchs bei Handwerk und Industrie. Der öffentliche Dienst – von der Verwaltung bis zum Verkehrssektor – leidet an zu wenig Personal und maroder Infrastruktur. Der Begriff Digitalisierung (und, vor allem, dessen Umsetzung) ist in Deutschland nicht selten noch ein Fremdwort. Und es herrscht, nicht zu leugnen, auch in steigendem Masse Armut. In Familien, bei alleinlebenden Erwachsenen und Kindern.
Politischer Zwerg, wirtschaftlicher Riese
Da ist in den vergangenen Jahren manches schief gelaufen in dem Land, das sich doch noch immer so gern als Vorbild für andere sieht. Und sich dessen leider auch oft noch rühmt. Jawohl – nicht nur in den so genannten Wirtschaftswunderjahren des Nachkriegsaufbaus, sondern bis zum Ende der deutschen Spaltung Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre konnte sich die Bundesrepublik ein hervorragendes Sozialsystem aufbauen. Aussen- und sicherheitspolitisch durften sich die Kriegsverlierer weitgehend aus allen Ungemütlichkeiten in der Welt heraushalten und unter dem amerikanischen Schutzschirm ökonomisch ordentlich profitieren. Das Wort vom «politischen Zwerg und wirtschaftlichen Riesen» hörte man nicht ungern. Tatsächlich glaubten in Germaniens Gauen – trotz der Ende der «90er» ausgebrochenen Balkan-Kriege, trotz Afghanistan und anderer Krisen – bis ins 21. Jahrhundert ganz viele Zeitgenossen, man könne ruhig weiter im gemütlichen Sessel des Wohnzimmers Bundesrepublik Deutschland sitzen bleiben und beobachten, wie «hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen» (Goethe, Faust I).
Schliesslich konnte man ja nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, des Kalten Krieges und der Sowjetunion 1989/90 genussvoll die «Friedensdividende» verzehren. Zudem dachte «die Politik» nicht im Traum daran, ihre zufriedenen Bürger in diesen wohligen Gefühlen zu stören. Sogar noch im vorigen Bundestagswahlkampf (2021) spielte die Aussen- und Sicherheitspolitik (im Gegensatz zur «sozialen Gerechtigkeit») so gut wie keine Rolle. In dieser Idylle wirkte der brutale Überfall Putins auf die Ukraine wie ein Paukenschlag. «Zeitenwende», 100-Milliarden-Euro-Sondermittel für die heruntergesparte und -gewirtschaftete Bundeswehr, Waffenhilfe und neue Flüchtlingswellen – plötzlich wachten auch die Deutschen auf in einer für sie erschreckend anderen, neuen, unschönen und wegen abnehmender Finanzmittel sozial ungerechter werdenden Welt. An so etwas waren besonders die seit etwa Mitte der 1950er Jahre geborenen Generationen nicht gewöhnt und somit auch nicht vorbereitet. Verzicht als reale Konsequenz einer innen- oder aussenpolitischen Situation existierte folglich nicht als Vorstellungskategorie.
Basis für Frieden und Wohlstand
Aber reicht das als Erklärung dafür aus, dass sich in den vergangenen Jahren so viele einer politischen Gruppierung zuwenden, die ganz offen faschistisches bis nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet? Die erklärtermassen jene Grundlagen ruinieren möchte, welche Deutschland nach dem von ihm ausgehenden verheerenden Weltkrieg wieder zurückgeführt haben ins Lager der zivilisierten Völker? Mit denen erst die Basis geschaffen wurde für jahrzehntelangen Frieden und Wohlstand? Ist die in dieser Zeit entstandene, demokratische Eisdecke bei uns wirklich nur so dünn, dass sie jetzt bei schwierigen Problemen sowie hitzigem politischen und gesellschaftlichen Streit gleich einzubrechen droht? Es ist ja wahr – das grösste Versäumnis (nein der grösste Fehler) der etablierten Parteien und deren führenden Repräsentanten ist, dass sie den Rechtsaussen seit Jahren vor allem das Thema überlassen haben, das viele Menschen im Lande zunehmend in Sorge versetzt: die scheinbar ungebremste und unkontrolliert zunehmende Migration mit ihren denkbaren und undenkbaren Folgen.
CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne meiden es wie der Teufel das Weihwasser, auf das Problem wenigstens einigermassen schlüssige Antworten zu geben. Wenn, zum Beispiel, rund 500 Kriegs- oder Armutsflüchtlinge irgendwo draussen auf dem Land – in einem Dorf mit ungefähr ebenso vielen Einwohnern – in Containern untergebracht werden sollen, kann das auf Dauer einfach nicht gut gehen. Das so zu benennen, ist nicht inhuman, sondern entspringt simpler Erfahrung. Und es ist auch nicht inhuman, zumindest die Frage zur Diskussion zu stellen, ob das – unter total anderen innen- wie aussenpolitischen und wirtschaftlichen Umständen entstandene – deutsche Asylrecht noch den aktuellen Gegebenheiten standhält. Dies zu diskutieren, entspräche bloss den realen Erfordernissen. Als 1949 die 65 Männer und Frauen in Bonn das Grundrecht auf politisches Asyl verfassungsmässig verankerten, geschah das nicht zuletzt noch unter den Eindrücken entweder selbst erlebter Torturen oder des Überlebendürfens in anderen Ländern. Aussserdem lag Deutschland total in Trümmern, und kaum jemand konnte sich auch nur ansatzweise vorstellen, dass es irgendwann einmal selbst Sehnsuchtsort von Millionen verfolgter, geschundener oder auch nur nach einem besseren Leben strebender Menschen werden würde.
Weites Herz, aber begrenzte Möglichkeiten
Dabei hatte der seinerzeitige Bundespräsident Joachim Gauck bereits im September 2015 (angesichts der ersten grossen Welle vor allem von Kriegsflüchtlingen aus Syrien) bei einer Rede in Mainz eine absolut passende Formulierung zur Beschreibung der Situation und des Problems gefunden: «Unsere Herzen sind weit, aber unsere Möglichkeiten begrenzt.» Es ist doch für jedermann sichtbar, dass damals wie heute besonders die Menschen aus dem Süden – z. B. Nahost, Asien und Afrika – in überwiegender Zahl nach Deutschland streben. Dass das hiesige Sozial- und Versorgungssystem dafür eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, liegt natürlich auf der Hand. Und ist nicht der Wunsch nach einem besseren, vielleicht einfach nur menschenwürdigeren Leben ein Menschenrecht? Ausserdem: Wen könnte es, im Ernst, kalt lassen, wenn täglich in erheblicher Zahl Menschen im Mittelmeer ertrinken?
Indessen: Es herrscht ohnehin Wohnungsnot hierzulande. Nicht nur Zuwanderer warten seit Langem auf bezahlbares Wohnen. Sprachprobleme, dramatisch wachsende Schwierigkeiten in den Schulen, viel zu wenige Lehrer, Kulturunterschiede – sie müssen bewältigt werden, soll es ein friedliches und multikulturell gedeihliches wie befruchtendes Miteinander geben. Dass die Sozialkassen als Folge des Zustroms massiv belastet werden, braucht nicht auch noch betont zu werden. Darauf wenigstens einigermassen überzeugende (oder zumindest erkennbar bemühte) Antworten zu geben, lassen die demokratischen Politiker vermissen. Aus Angst. Sie möchten nicht «in die rechte Ecke» gestellt werden. Eine grandiose, geradezu unbezahlbare Vorlage für die AfD! Die braucht gar keine Problemlösungen anzubieten, sondern bedient mit ihrem einfachen «Ausländer raus» eine offensichtlich wachsende Stimmung im Land.
Jedermann kann es wissen!
Ja, man kann Politikerschelte betreiben. Aber deren Angst oder auch Versagen kann aufmerksame, das Geschehen rund um den Globus verfolgende Zeitgenossen doch nicht daran hindern, den demokratischen Staat und sein im Grundgesetz niedergelegtes Freiheitssystem zu verteidigen. Die demoskopisch immer wieder ermittelte 80-Prozent-Mehrheit darf doch nicht weiterhin einfach nur stumm zuschauen beim Versuch der Rechtsaussen-Partei, diesen so vorbildlich rechtlich verfassten Staat zurückzuführen in unselige Zeiten! Es kann doch einfach nicht sein, dass wir – die heute Lebenden – nichts gelernt haben aus der Geschichte. Nur weil die Generation derer immer kleiner wird, der sich aus eigenem Erleben oder auch nur im Angesicht der Trümmer einst ein «Nie-wieder-Schwur» in ihrem Leben eingebrannt hatte. Jeder, der Augen und Ohren zum Sehen und Hören besitzt, kann (und muss) wissen, wohin die Rechtsaussenpartei Deutschland führen will. Komme später niemand mehr mit dem Spruch: «Das habe ich nicht gewusst und auch nicht gewollt!».