Entscheidende Parlamentswahlen in der Türkei stehen im Juni bevor. Ihr Resultat wird bestimmen, ob die AK-Partei von Präsident Erdogan die Zweidrittel Mehrheit erlangt, die für den Plan Erdogans notwendig ist, das parlamentarische System in der Türkei in ein präsidiales, zu seinen Gunsten wirkendes, umzuwandeln.
Hohe Hürde
Die AK-Partei verfügt zur Zeit über 58 Prozent der Parlamentssitze. Die Umfragen lassen nicht erwarten, dass sie in den kommenden Wahlen bedeutend mehr Stimmen erhalten wird. Ihre Hoffnung, dennoch die zwei Drittel Mehrheit zu erreichen, ruht auf den Kurden. Dies macht die kurdische HDP (Demokratische Volkspartei) unter Selahettin Demirtash zum Königsmacher.
Die HDP kann nach den Umfragen 7 bis 8 Prozent der türkischen Wähler (die Kurden sind) mobilisieren. Das türkische Wahlsystem hat eine hohe Hürde für Parteien. Nur solche, die über 10 Prozent der Stimmen erhalten, können ins Parlament einziehen. Jene Stimmen, die unter diese Hürde fallen, werden der jeweils erfolgreichsten Partei einer Provinz zugeteilt. In der Praxis wäre dies stets die AK-Partei Erdogans.
Die HDP zieht als Partei in die Wahlen
Um nicht mit der Hürde rechnen zu müssen, hatte die kurdische HDP bisher ihre Kandidaten als individuelle "Unabhängige" in die Wahlen entsandt. Doch diesmal hat die Partei beschlossen, als Partei in die Wahlen zu ziehen und damit das Risiko auf sich zu nehmen, dass sie unter die 10 Prozent Hürde fällt und dadurch der AK-Partei die Möglichkeit verschafft, die Zweidrittel Mehrheit zu erreichen.
Die Gründe für diesen gewagten Entschluss sind doppelter Natur. Zum ersten scheinen sich manche der HDP-Politiker, wohl einschliesslich des Parteiführers Demirtash, vorzustellen, diesmal könnten sie 10 Prozent der Stimmen erreichen und damit gegen 60 Abgeordnete ins Parlament senden. Demirtash war Gegenkandidat gegen Erdogan in den Präsidentschaftswahlen vom vergangenen August. Er hat dabei über Erwarten gut mit 9,7 Prozent der Stimmen abgeschnitten.
Hoffnung auf Wähler von links
Er und andere Optimisten der Partei sind der Ansicht, diese und sogar eine etwas höhere Zahl könnte auch die Partei als Partei erhalten. Sie setzen dabei auf die türkischen Linkskräfte, von denen einige in den Präsidentenwahlen für Demirtash gestimmt hatten. Dies sind kleinere Gruppen, vor allem an der Schwarzmeer- und Mittelmeerküste, die sich nicht durch die beiden grösseren Oppositionsparteien der Türkei vertreten fühlen, weder durch die eher bürgerliche Volkspartei aus der Zeit Atatürks, noch durch die ultranationalistische Nationale Partei. Manche ihrer Mitglieder und Sympathisanten hatten daher in den Präsidentenwahlen für Demirtash gestimmt.
Die HDP hat ein Programm vorgelegt, das die Linksgruppen ansprechen soll. Sie betont ihr Eintreten für mehr Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Ausdrucksfreiheit. Doch ob die türkische Linke auch in den Parlamentswahlen für sie stimmen wird, ist ungewiss. In den Parlamentswahlen haben die Splitterparteien die Möglichkeit, von der bisher auch die kurdische Partei Gebrauch gemacht hatte, ihre Anhänger als Unabhängige in die Wahl zu schicken.
Erdogan wirkt via Öcalan auf die Kurden
Der zweite Grund, der für Demirtash und seine Mitstreiter eine Rolle spielt, liegt in der kurdischen Politik und den Manipulationen derselben durch Erdogan. Erdogan hat seit 2006 einen "Dialog" mit dem gefangenen einstigen Chef des kurdischen gewaltsamen Widerstandes, der PKK, Abdullah Öcalan, geführt - genauer durch seine Geheimdienste führen lassen. Obwohl Öcalan seit 16 Jahren auf der Marmara Insel Imran im Gefängnis sitzt, bleibt er für die türkischen Kurden, besonders der PKK und ihrer Sympathisanten, die massgebende Führerpersönlichkeit. Er hat mehrmals aus dem Gefängnis heraus verlauten lassen, dass die Kurden den gewaltsamen Widerstand aufgeben und einen friedlichen Dialog für Autonomie mit der Regierung einleiten sollten.
Sein Einfluss erwies sich als dermassen gewichtig, dass dies tatsächlich geschah. Die PKK-Führung begann 2013 Friedensverhandlungen mit der Regierung und zeigte sich bereit, ihre Bewaffneten aus der Türkei abzuziehen sowie ihre Kämpfer aus den Berggebieten an der irakisch-türkischen Grenze heimzuführen. Als Gegenleistung erhofften sie kulturelle und möglicherweise auch politische Autonomie für die türkischen Kurden und die Freilassung Öcalans.
Gespräche hinter den Kulissen
Die Gespräche wurden durch die Geheimdienste geführt und blieben entsprechend geheim. Deshalb weiss man nicht, ob und wie weit die PKK Führung und Öcalan Zusagen in diesem Sinne erhielten. Doch deutlich ist, dass die Verhandlungen über die Jahre nicht zum Ziel führten und dass beide Seiten, jene der PKK und jene der Regierung, mit endgültigen Konzessionen an die Gegenseite zurückhielten.
Nun, im Vorfeld der Wahlen, gab es wieder Kontakte zwischen Öcalan und der Regierung, erneut via Geheimdienste. Ihr Resultat war eine erneuerte Aufforderung Öcalans an die PKK und an alle Kurden, auf Gewalt zu verzichten und politische Schritte zu unternehmen. Dass dies alles geheim vor sich geht, wird von der Regierung mit dem Umstand gerechtfertigt, dass es nach wie vor viele Türken gebe, vor allen in den Familien, die in den langjährigen Kämpfen Todesopfer zu beklagen hatten, die von einer Versöhnung mit den einst als "Terroristen" eingestuften PKK-Leuten nichts wissen wollen. Erdogan spricht jedoch öffentlich von einem "Friedensprozess" mit den Kurden, der im Gange sei.
Dezentralisierungsversprechen?
Zu den Hintergrundberichten und Gerüchten, die über die Verhandlungen mit Öcalan im Umlauf sind, gehört, dass die Erdogan Regierung der kurdischen HDP Demirtash's zugesagt habe, sie werde den Kurden eine "Dezentralisierung" erlauben, falls die HDP diesmal als Partei in die Wahlen ziehe. Die Vorteile, die sich Erdogan davon verspricht, sind klar: Wenn die HDP die 10-Prozent-Hürde nicht überwindet, fallen ihm die Stimmen der HDP zu und seine Aussichten auf eine Zweidrittel Mehrheit werden erheblich verbessert.
Das Risiko für die HDP Führung ist gross. Falls sie die Hürde nicht überspringt, verliert sie ihre4 Vertretung im Parlament und sie muss sich vorwerfen lassen, sie habe entscheidend zum Ausbau der absolutistischen Tendenzen Erdogans beigetragen. Man weiss es nicht, müsste jedoch der Sachlage nach schliessen, dass Demirtash sehr solide, oder mindestens als sehr solide erscheinende, Dezentralisierungszusagen von Erdogan erhalten hat, um sich zu entschliessen, dieses grosse Risiko einzugehen.
Was die Kämpfer der PKK angeht, ist zu erwarten, dass sie ihrerseits abwarten werden, wie die Wahlen ablaufen und ob es danach wirklich Schritte zur Dezentralisierung gibt. Wenn ja, könnten sie sich bereit zeigen, den Anweisungen Öcalans weiterhin Folge zu leisten, wenn nein, werden sie ihren Kampf in den gebirgigen Grenzregionen zwischen Türkei und Irak trotz Öcalan fortsetzen.