Mit nervtötendem, lautem Brummen zieht eine grosse Putzmaschine ihre Runden genau dort, wo wir uns zum Gespräch getroffen haben: im prächtigen Spiegelsaal des Foyers im Zürcher Opernhaus. Wir schauen uns an und lachen. Das ist nicht der passende Soundtrack, wenn man über Mozarts Oper «Idomeneo» sprechen will. Jetske Mijnssen ist Regisseurin, kommt aus Holland, ihre Wuschelfrisur hält auch stürmischen Meeres-Brisen stand. Mit grossen blauen Augen strahlt mich Jetske Mijnssen an und freut sich offensichtlich darauf, von ihrer Arbeit zu erzählen. Sie ist wunderbar, denkt man gleich, frisch und unkompliziert!
Und inzwischen ist auch die Putzmaschine ausser Hörweite.
Rund zehn Jahre ist es her, seit «Idomeneo» das letzte Mal an diesem Haus gespielt wurde. Damals war Nikolaus Harnoncourt der Dirigent und – zur allgemeinen Überraschung – gleichzeitig der Regisseur. «’Idomeneo’ ist eine wunderbare Oper», erklärte er mir damals ausführlich, «aber eigentlich ist sie nicht inszenierbar.» Jedenfalls habe er noch nie eine gute Inszenierung gesehen und sich deshalb entschlossen, selbst Regie zu führen, und zwar mit Hilfe seines Sohnes, der immerhin das Regiehandwerk erlernt habe. (So richtig gelungen ist Harnoncourt die Regie damals allerdings auch nicht. Es gab an der Premiere sogar ein paar «Buuhs» für den Regisseur und «Bravos» für den Dirigenten, also für die gleiche Person. Dies aber nur nebenbei ...)
Autistisch – und damit authentisch
Und nun probiert es also Jetske Mijssen. Wie fühlt sie sich in dieser Nachfolge? «Darf ich ganz ehrlich sein …?» fragt sie ein bisschen verschämt lächelnd. «Ich war mir dessen gar nicht bewusst, dass Nikolaus Harnoncourt und schon vorher Jean-Pierre Ponnelle – mit Harnoncourt als Dirigent – hier in Zürich mit ‘Idomeneo’ Operngeschichte geschrieben haben.»
Vielleicht war es ja ganz gut, dass sie es nicht wusste, so konnte sie sich unbelastet an die Arbeit machen. «Ich muss immer erst meine ganz persönliche Beziehung zu einem Stück finden», sagt sie über ihre Herangehensweise. «Ich schaue mir auch keine anderen Inszenierungen an und keine DVDs. Ich bin da ganz autistisch und damit vielleicht authentisch.»
In «Idomeneo» geht es – ganz kurz gesagt – um die Heimkehr des kretischen Königs Idomeneo aus dem trojanischen Krieg. Kurz vor der Landung seiner Flotte gerät er in Seenot und verspricht dem Meeresgott Neptun, ihm die erste Person zu opfern, der er an Land begegnet, sofern er die Reise heil übersteht. Neptun geht auf den Handel ein und Idomeneo geht unbeschadet an Land. Und der erste Mensch, den er sieht, ist sein Sohn Idamante. Entsetzt realisiert Idomeneo, dass er den Sohn nun dem Meeresgott opfern müsste … Mozart hat das Werk mit 24 Jahren geschrieben und seine Arbeit daran ist gut dokumentiert, auch durch die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn Mozart. Wie stark hat sich denn Jetske Mijnssen dadurch in ihrer Inszenierung beeinflussen lassen? «Also, ich habe einiges gelesen … aber das Magische an Mozart ist ja, dass ich ihn als so unfassbar modern und heutig empfinde, durch die Art, wie er die Figuren schildert. Wie er die Emotionen und die psychologischen Wege der Personen aufzeigt. Da schenkt mir seine Musik den besten und direktesten Zugang. Das erste, was ich mache, wenn ich eine Oper vorbereite, ist hören. Ich lese nicht, ich höre nur. Und was die Musik in mir hervorruft, halte ich in Stichworten fest und entdecke ganz faszinierende Dinge dabei. Ich nenne das ‘die kleinen goldenen Schlüssel’ zu einem dramatischen Moment oder zu einer Figur. Und das kommt aus der Musik.»
Radikale Lösung
Zur Musik in «Idomeneo» gehört aber auch ein Ballett, das für viele Regisseure zum schier unlösbaren Problem geworden ist. Wie hat sich Mijssen da aus der Affäre gezogen? «Tja … da habe ich den Dirigenten gleich gebeten, es zu streichen.» Eine radikale Lösung und sie hatte Glück, denn Giovanni Antonini war einverstanden. «Nein, also das geht wirklich nicht», doppelt sie noch einmal nach, «bei diesem kräftigen, berührenden Ende kann einfach nicht getanzt werden!» Und sie hat den Rotstift auch noch an anderen Stellen angesetzt: «Bei den Rezitativen habe ich intensiv gestrichen. Ich habe ja Schauspiel studiert und spüre, wie eine Szene eine theatralische Wirkung bekommt. Die Accompagnato-Rezitative habe ich allerdings nicht angerührt, die sind genial. So ergibt sich ein kleines Gespräch zwischen zwei Menschen und daraus entsteht dann die Emotion. Ich glaube, das hilft auch, den Abend im Fluss zu halten.»
Die Geschichte mit dem Sohn, den Idomeneo Neptun als Opfer bringen soll, kann aussehen, als habe es mit uns heutigen Menschen nichts zu tun. Jetske Mijssen ist da ganz anderer Meinung. «Ich denke, das Kinderopfer ist ein altes Thema. Das gab es bei den Griechen, aber auch in der Bibel. Und wenn man sich damit beschäftigt, stellt sich die Frage, gibt es so einen Gott? Ich denke: nein. Neptun steckt in uns. Ich sehe es so, dass Idomeneo nach zehn Jahren aus dem trojanischen Krieg zurückkehrt, innerlich total verletzt ist und Narben auf der Seele hat. Während des Sturmes kommt ihm auf dem Schiff der Gedanke, den Meeresgott um Rettung anzuflehen und ihm als Gegenleistung etwas zu versprechen. Für mich ist das ein Wahn. Es ist eine innere Krankheit, die ihn belastet, und die am Schluss auch heilbar ist. Ich habe mich in die Problematik des Kindesopfers vertieft. Tiefenpsychologisch wird es als eine Art Ablegen des eigenen Egos gedeutet. Und das ist genau das, was Idomeneo am Schluss macht. Er sagt, ich bin jetzt ein anderer König, ‘un altro me stesso’, ein anderes Selbst. Also er legt etwas ab. Aber das sind psychologische Begründungen, die kann man nicht inszenieren.»
Man spürt, Jetske Mijssen hat sich viele Gedanken über die Problematik gemacht und auch darüber, dass sie uns alle irgendwie betrifft. «Es berührt mich zutiefst, weil wir alle, die wir erwachsen sind, Narben auf der Seele haben und verletzt sind. Bei ‘Idomeneo’ geht es um eine Kriegssituation, aber letzten Endes verletzen doch auch Eltern und Kinder einander immer wieder und wir müssen alle damit leben und mit uns selbst kämpfen.»
Vielleicht waren es auch diese Überlegungen, die sie dazu geführt haben, «Idomeneo» auf der Bühne nicht in grauer Vorzeit anzusiedeln, sondern in unserer Zeit. «Ich glaube, wir sollten uns bewusst sein, wie glücklich wir sein können, in Freiheit zu leben.» Zumindest hier. In unserem mitteleuropäischen Umfeld.
Berufswunsch: Sarastro
Dass Jetske Mijssen Opernregisseurin geworden ist, geht übrigens auf ihre Kindheit zurück. Als Zehnjährige durfte sie mit der Mama die «Zauberflöte» ansehen und dabei war ihr sofort klar, wie es mit ihr weitergehen sollte. «Ich wollte Sarastro werden!» strahlt sie noch heute, wenn sie davon erzählt. Die Mama machte ihr allerdings klar, dass Sarastro nichts für sie sei. «Naja, vielleicht die ‘Königin der Nacht’, habe ich mir dann überlegt, denn die Bösen haben mich seit jeher mehr interessiert als die Guten. Ohne der eine oder die andere geworden zu sein, ist sie heute dennoch bei Mozart gelandet. Und dass sie «Idomeneo» in Zürich machen kann, begeistert sie geradezu. «Das Opernhaus ist ausserordentlich gut, jede Abteilung. Man fühlt sich so getragen und unterstützt. Und dieser Chor! Er kann nicht nur singen und spielen, sondern er vermag sich völlig zu öffnen gegenüber dem, was stattfindet.»
Und was dieses Sich-Öffnen bedeutet, das weiss sie selbst nur zu gut. Alles, was sie inszeniert, kommt aus ihr selbst, aus ihrer eigenen Gefühlswelt. «Ich fühle mich da wie aus Glas. Meine Seele liegt offen da.» Und das Publikum kann auf der Bühne in ihrer Seele lesen, wie in einem offenen Buch. Das bringt sicher Risiken mit sich. Aber ohne diese Risiken würde Jetske Mijnssen wohl nichts inszenieren.
«Idomeneo»
von Wolfgang Amadeus Mozart
Regie: Jetske Mijnssen
Opernhaus Zürich
Premiere: 4. Februar 2018