Nicht erst sei der US-Ökonom Richard Thaler im Oktober 2017 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde, werden immer lauter neue Fragen zum herkömmlichen Modell der Ökonomie laut. Bereits 2002 wurde ja Daniel Kahneman mit diesem Preis geehrt und er trat damals buchstäblich, zusammen mit seinem Kollegen Amos Tversky, eine Lawine los. „Der Markt ist effizient und regelt alles von selbst“ oder „rationale Entscheide lenken das wirtschaftliche Geschehen“ – diese ökonomischen Dogmen verlieren an Glanz. Menschen entscheiden eben nicht immer rational. Ernst Fehr von der Universität Zürich, der sich ebenfalls seit Jahren auf dem Forschungsgebiet der Verhaltensökonomie betätigt, wurde im September 2017 zum vierten Mal in Folge auf Platz 1 gesetzt im „Ökonomen-Einfluss-Ranking“ (NZZ, FAZ, Die Presse), was bedeutet, dass er in den Bereichen Forschung, Medien und Politik am meisten wahrgenommen wird in der Schweiz.
Weniger Eigennutzen, mehr Empathie
Das bisher von der Ökonomie meist verwendete Menschenbild kommt immer mehr unter Druck. Seit Adam Smith gilt ja in der Lehre, dass zwei Impulse den Menschen antreiben: der Wunsch, das eigene Schicksal zu verbessern, und das Bedürfnis, von anderen Anerkennung zu erhalten. Demnach treiben diese Impulse die Menschen an, ihr Vermögen kontinuierlich zu vermehren und dabei rein vernunftsgesteuerten Strategien zu folgen. Seit 1970 setzt die Verhaltensökonomie Fragezeichen hinter dieses Konzept.
Auch die Neuroökonomie liefert laufend neue Erkenntnisse, die u. a. auf biologischer Datenauswertung basieren. Nicht mehr theoretisch oder mathematisch begründet, sondern abgeleitet von Untersuchen der Informationsverarbeitung im Hirn entstehen spannende Einsichten. Nicht nur rational, sondern eben auch emotional sind wir Menschen geleitet – menschliche Entscheide können sogar von Willensschwächen verursacht sein und damit wird bestätigt, dass unsere Informationsverarbeitungsfähigkeit auch suboptimal sein kann. Im Zürcher Labor zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme (SNS-Lab) des Universitätsspitals Zürich (USZ) dient u. a. die Magnetresonanztomographie (MRI) zur Thesenentwicklung. Wem das alles etwas zu kompliziert tönt, man kann es auch anders formulieren.
Markt und Gesellschaft
Den vielgerühmten Markt verbinden wir mit Eigenschaften wie Dynamik, Konkurrenz, Kampf. Dazu kommen auch weniger sympathisch empfundene Kriterien wie Egoismus, Gier, Sieg. Deshalb finden sich jene Manager, die diese Felder knallhart spielen, vielfach zuoberst in den Geschäftsleitungen. Und da kommen jetzt seit einigen Jahren diese Hirnforscher und behaupten etwas ganz anderes: Nicht der Markt, sondern die Gesellschaft ist entscheidend. Sie bestätigen mit ihren Forschungen, dass Gelassenheit, das Miteinander, Kooperation optimalere Resultate generieren und dass dazu Qualitäten wie Empathie, Verzicht und Dankbarkeit entwickelt werden.
Ein neuer Kapitalismus
Wenn sich die SP auch heute noch für die Abschaffung des Kapitalismus stark macht, vergessen diese beherzten Kämpferinnen und Kämpfer vielleicht, dass es stattdessen erfolgversprechendere Ansätze gäbe. Der Kapitalismus, dem wir in den letzten 60 Jahren viel zu verdanken haben, ist nicht nur schlecht. Dieses Klassendenken hat im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr. Denn wenn heute Forscher beweisen und Praktiker lernen, dass soziale Haltungen von der Gesellschaft, in der wir nun mal leben, gemacht werden, dann kommen Fakten ins Spiel, die weniger für eine radikale Abschaffung als eine subtile Neuausrichtung sprechen. Je besser wir verstehen, wie sich die Persönlichkeit entwickelt, desto konkreter werden die daraus gezogenen Folgerungen für die Ökonomie sein. „200 Jahre lang hat die Ökonomie die Frage gestellt: Wie produzieren und verteilen wir die Güter? Die neue Frage lautet: Welche Art von Menschen produziert eine Gesellschaft, sagt Ernst Fehr“ (DIE ZEIT).
Mehr Mitgefühl anstelle von Egoismus
Schon seit Jahren liefert die Forschung Erkenntnisse, wonach klassische Businessmeetings bessere Resultate generierten, würden die Teilnehmenden nicht jeder nur auf sich selbst schauen, auf seinen persönlichen Vorteil, die Auswirkungen auf seine Karriere. Da sind wir wieder beim Egoismus und Narzissmus (der sich ja nicht nur am Konferenztisch bemerkbar macht), einer Zeiterscheinung, die tief in die Gesellschaft hinein wirkt. Täglich bekommen wir davon ab, ob wir wollen, oder nicht, im Autoverkehr, in der Schule, bei der Wohnortsuche nach steueroptmierten Kriterien. Würden stattdessen mehr solidarische oder altruistische Nuancen mitgedacht, wenn nicht jeder sich selbst der Nächste wäre, es kämen – wie Experimente bestätigen – mehr Entscheide zustande, die längerfristig gewinnfördernd in jenem Sinne wären, als es mehr Gewinner gäbe – Win/win-Sitationen genannt.
Turbo-Kapitalismus und Nationalpopulismus
Nicht nur am Beispiel USA kann momentan beobachtet werden, wie die Ära Trump eine ungemütliche Entwicklung zeitigt: Sehr oft gehen Turbo-Kapitalismus und Egomane zusammen. Die Gesellschaft wäre herausgefordert, solche Brandherde zu bekämpfen. Doch während sich besonnene Kreise viel zu langsam dazu aufrappeln, sind Millionen von Kapitalismus-Verlierern ungerührt, ja, sie jubeln den immer dreister auftretenden Nationalpopulisten zu, weil diese Marktabschottung („America first!“) predigen, eines dieser populären, einfachen und grundfalschen Rezepte. Wo diese Brandstifter gegen „fremde“ Völker oder Volksgruppen wettern, steigen Hass, Egoismus und Kampfbereitschaft.
Da hätten wir sie dann wieder, die oben erwähnten überholten Eigenschaften „des Marktes“. Wer Gesellschaft mit Markt verwechselt, verliert sich im Tunnelblick des Egoisten.
Perspektivenwechsel als Zwischenschritt?
Wir machen uns keine Illusionen. Sind diese neuen Trends einer Forschung – die den Kapitalismus verändern könnte, fänden sie Eingang in den Top-Teppichetagen der Konzerne – sind sie nur Wunschträume jener, „die keine Ahnung“ haben? Oder zeichnet sich eine Morgendämmerung ab? Sind es die Studenten, die heute eine neue Perspektive einnehmen auf die Gesetze der Wirtschaft, des Kapitalismus? Die realisieren, dass Hilfsbereitschaft und Kooperationen Schlüsselelemente zu einer altruistischeren Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sind? Einer Gesellschaft, die letztlich einen anderen Kapitalismus bewirkte? Einen Perspektivenwechsel zu probieren, war schon oft der Beginn einer nachhaltigen Zielsetzung.
Nicht immer mehr Fusionen als Devise der global tätigen Konzerne, nicht immer mehr Steuervermeidung, nicht immer mehr kurzfristige Gewinne, nicht immer mehr Gier, nicht immer mehr „Markt“. Dafür einen ganzheitlichen Kapitalismus, mit gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl, langfristigem sozialen Engagement, auch einmal grosszügiger Verzicht, kurz: mehr Menschlichkeit. Neue Perspektiven einzunehmen öffnet die Sicht auf die Tragfähigkeit und Wichtigkeit aller drei Säulen unseres Wohlstands, jener der ökonomischen, sozialen und ökologischen Verantwortung. Das wünschen wir uns.
Christoph Zollinger: „Perspektivenwechsel“, Zürich: Conzett Verlag, 2017.