Giorgio Morandi (1890–1964) hat praktisch sein ganzes Leben in Bologna verbracht. Ein grosser Teil seines schmalen, aber äusserst gewichtigen Œuvres ist heute im dortigen Museo Morandi untergebracht. Es bildet einen selbständigen Teil des Museo d’Arte Moderna di Bologna (MAMbo). Nicht weit vom MAMbo liegt die zur Gedenkstätte gewordene Casa Morandi, in der sich das Wohnatelier befindet, die Malklause, in der alle die Objekte vor sich hin schlummern, die Morandi gesammelt, zu immer neuen Stillleben zusammengestellt und in mönchisch anmutendem Exercitium gemalt hat.
Weg zur Reduktion
Erst nach dem sechzigsten Lebensjahr hat Morandi eine unverwechselbare Ausdrucksweise gefunden. Sie verleiht seinen Bildern jene introvertierte Intensität, die ihn zu einem Solitär der modernen Malerei macht. Es war, wie so oft in der Kunst, ein Weg der Reduktion: Morandi nimmt die Farbigkeit zurück, vereinfacht Komposition und Formen, konzentriert sich auf das Genre des Stilllebens und nimmt sich für jedes Bild viel, sehr viel Zeit. Die Arrangements beruhen auf einer Sammlung von Flaschen, Krügen, Dosen, Töpfen, Schalen, die er im kreidigen Licht seines engen Wohn- und Arbeitsraums jedes Mal minutiös gruppiert.
Oft sind die Objekte nicht „schön“ angeordnet. Da steht die Flasche so hinter der Dose, dass beider Umrisse ineinander übergehen – keine sehr geeignete Anordnung, um die Gegenstände zur Geltung zu bringen. Oder die Gefässe sind dicht zusammengepackt mit viel Leere drum herum. Auch stehen manche der kompakten Gruppen entweder stark exzentrisch oder aber provokativ mittig im Bild. Beides verstösst gegen gängige kompositorische Regeln.
Die Objekte selbst sind in gewollt flüchtiger Art ausgeführt. Unsaubere Konturen und Schatten sowie perspektivische Verzerrungen gehören zu Morandis malerischer Handschrift. Für kleine Auffälligkeiten wie die Ligatur eines geschwungenen Kannengriffs mit dem weit auskragenden Ausguss seines stets wieder benutzten Krugs scheint er eine Vorliebe zu haben.
Bei längerer Betrachtung drängt sich die Vermutung auf, die dargestellten Objekte seien im Grunde nicht die eigentlichen Bildinhalte. Sie sind einfach zur Hand, weil Morandi sie bei sich aufbewahrt hat. Als schlichte, einfach nur vorhandene Dinge malt er sie mit scheinbarer Nachlässigkeit. Auch macht es manchmal den Anschein, er inszeniere sie absichtlich unvorteilhaft.
Vorhandenes als Zufall, als Ausnahme
Die Objekte der Stilleben erscheinen als zufällige Momente der Wirklichkeit. Gerade als solche sind sie Belege des unbegreiflichen Umstands, dass nicht Nichts ist – alltägliche Beweisstücke für das Existieren der Welt gewissermassen. Morandi malt sie, wie ein Mönch die Texte des Breviers liest: als Medien der Versenkung, der Meditation über das Rätsel des Seins. Den Gegenständen Bedeutungen zu geben, sie mit Inhalten zu befrachten, würde von diesem grossen Hallraum seiner Bilder bloss ablenken.
Morandi geht es um die Spannungsfelder zwischen Formungen oder Verdichtungen von Wirklichem – sichtbar in Dingen des Alltags – und der amorphen Realität, wie sie sich in den „Nullformen“ von Tischplatte und Rückwand präsentiert. Nicht umsonst dominiert in Morandis Stillleben oft dieser formlose Raum, aus dem die Gegenstände nur eben als Akzidenzien, als das Nicht-Wesentliche, hervortreten. Das Vorhandene ist stets bloss die Ausnahme vom Nichts.
Jedes Denken stösst irgendwann auf diese ebenso unumgängliche wie unmögliche Vorstellung. Morandi hat sich ihr nicht auf akademisch-philosophischem, sondern auf ästhetisch-künstlerischem Weg genähert. Indem Bilder immer „Etwas“ zeigen, postulieren sie eine von diesen Dingen gefüllte Leere. Ein Seiendes verdrängt ein Nichts, wie das Schiff Wasser verdrängt, von dem es getragen wird. Morandi benützt seine Gegenstände, um „durch“ sie oder „hinter“ sie zu blicken – und damit auf die grösste und letzte aller Fragen.
Morandi hat in einer frühen Phase der von Giorgio de Chirico begründeten Schule der „Pittura metafisica“ angehört, deren Bilder stets eine hintergründig existenzielle Beunruhigung ausdrücken. Doch statt der traumartigen und surrealen Sujets sind es beim reifen Morandi nun die gewöhnlichen Dinge der Menschenwelt und damit die alltägliche Normalität, die dem Betrachter den festen Boden unter den Füssen wegziehen.
Künstlerdialog in Bologna
Das Museo Morandi hat immer wieder Künstler beauftragt, sich mit seiner Sammlung vor Ort eingehend zu beschäftigen und eigene Antworten auf Morandis Bildwelt zu suchen. Alexandre Hollan, Wayne Thiebaud, Tacita Dean, Rachel Whiteread und Brigitte March Niedermair waren nacheinander Gäste des Hauses. Das jüngste Projekt eines solchen visuellen Dialogs lag in den Händen der amerikanischen Konzeptkünstlerin und Fotografin Catherine Wagner. Das Museo Morandi hat sie als „Artist in Residence“ eingeladen, so dass sie während zweier Jahre bei mehreren Aufenthalten in Bolgona und an Morandis Sommersitz in Grizzana (das Dorf auf dem Apennin nennt sich heute „Grizzana Morandi“) ihre eigenständige Dialogversion entwickeln konnte. Der so entstandene Werkzyklus ist gegenwärtig in der Morandi-Sammlung im MAMbo ausgestellt.
Catherine Wagner hat die irreale Hintergründigkeit der „realistischen“ Morandi-Stillleben zum Thema gemacht, und zwar auf geradezu schlagende Weise. Sie arbeitet fotografisch mit Morandis Objekten, zeigt sie aber nicht. Nur die Schatten der wohlbekannten Gefässe erscheinen auf ihren grossen Bildtafeln. Es ist tatsächlich ein Erscheinen, als ob die Schemen sich auch gleich wieder verflüchtigen könnten.
Ihre Fotografien druckt Catherine Wagner im Pigmentprint-Verfahren, das satte, tiefe Farben hervorbringt. Die Palette der monochromen Kompositionen reicht von delikatem Grau bis zu wuchtigem Dunkelrot, erzeugt durch eigens präparierte Farbfilter für die Studioleuchten. Die Nummern der für die Filter verwendeten Gels finden sich in den technisch-sachlichen Bildtiteln wieder.
Bei der Farbgebung hat sich Catherine Wagner die Regel auferlegt, ausschliesslich Farbtöne zu verwenden, die in Morandis Gemälden vorkommen. So sind ihre Fotografien doppelt – in Formen und Farben – an die Bilderwelt ihres Gegenübers und Vorgängers gebunden. Eine Beengung? Im Gegenteil! Regeln würgen Kunst nicht ab, sondern setzen den Rahmen, an dem kreative Kräfte den nötigen Widerstand finden.
Maps und Wrapped Objects
Im Sinn von „Objets trouvés“ hat Catherine Wagner auch die Kartonunterlagen fotografiert, auf denen Morandi die nach langen Versuchen festgelegten Positionen der Gegenstände seiner Stillleben eingezeichnet hat. Sie nennt diese Bilder „Maps“; es sind in der Tat Karten im Massstab eins zu eins, Zeugen der ingeniösen Prozesse des Arrangierens. Für Bewunderer des Meisters könnten die Kartons Reliquien sein. Doch Catherine Wagner betreibt keinen Morandi-Kult. Durch die fotografische Objektivierung macht sie die abgenutzten Kartons zu Bildern, die mit ihrer Materialität und ihren Konstruktionszeichnungen Geschichten erzählen und eine ganz eigene Schönheit erlangen.
Mit einer weiteren fotografischen Annäherung zeigt sich Catherine Wagner als Konzeptkünstlerin. Sie wickelt einzelne Gegenstände aus Morandis Sammlung in Alufolie und stellt sie im Atelier genau so vor die Kamera, wie auch der Maler sie einst plaziert hatte: auf der leeren Tischplatte vor nackter Wand, also in einem unspezifischen Raum. Auch diese Fotografien sind monochrom eingefärbt und als Pigmentprints ausgeführt.
Anders als bei den Schattenbildern sind die vertrauten Objekte in dieser Serie im Bild vorhanden, aber sie sind verhüllt, verfremdet, ihrer Aura beraubt. Die Gefässe sind da und doch nicht da. „Wrapped Objects“ nennt Catherine Wagner diese kleine Serie, mit der sie die grössere und ästhetisch schlüssigere „Shadows“-Serie variiert.
Hommage an einen Grossen
Ein halbes Jahrhundert nach Morandis Tod antwortet eine Künstlerin mit fotografischen Arbeiten auf seine Stillleben. Wohl ohne es zu wissen, schliesst sie damit an eine Bemerkung an, die Morandi einst anlässlich einer Begegnung mit dem Fotografen Henri Cartier-Bresson gemacht hatte: „Wenn ich heute mein Werk von vorn beginnen müsste, würde ich dies als Fotograf tun.“
„In Situ – Traces of Morandi“ – so betitelt Catherine Wagner ihr Bologneser Projekt (Vor Ort – Spuren Morandis). Es ist eine wunderbare Hommage der zwei Generationen jüngeren Amerikanerin an den noch immer etwas verborgenen Grossen der italienischen Moderne.
Catherine Wagner als Artist in Residence beim Museo Morandi, Bologna: „In Situ – Traces of Morandi“. Noch bis 3. September 2017 im Museo d’Arte Moderna Bologna (MAMbo)