Die erste Fotografie der Geschichte ist eine Architekturaufnahme. Nicéphore Niépce machte sie mutmasslich im Frühherbst 1826 in Saint-Loup-de-Varennes, als er auf dem Gutshof Le Gras mit einer Camera obscura den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers festhielt.
Das Sonnenlicht, das die Gebäude auf beiden Seiten des Bildes trifft, legt nahe, dass die Belichtung der Fotoplatte, die mit lichtempfindlichem Asphalt beschichtet war, rund acht Stunden dauerte. Niépce, 61 Jahre alt, nannte sein Verfahren damals Heliografie. Heute ist die Aufnahme „Point de vue du Gras“ in der Hauptlobby des Harry Ransom Center der Universität Texas in Austin zu sehen.
Gebäude eigneten sich, wie Landschaften, als Sujets der frühen Fotografie, weil die ersten Kameras, gross und unhandlich, es nicht zuliessen, bewegliche Objekte einzufangen. Auch als sich die Fototechnik fortentwickelte, blieben Gebäude und Städte, neben Porträts und natürlicher Umwelt, beliebte Sujets des neuen Mediums.
„Die Geschichte der Fotografie verrät ein ständiges Interesse an der Wiedergabe städtischer Umgebung und der Erstellung architektonischer Typologien“, schreibt Pedro Gadanho, Direktor des Lissaboner Museums für Kunst, Architektur und Technik (MAAT), im Nachwort zu „Shooting Space“. Der 2014 erschienene Bildband beleuchtet die Rolle der Architektur in der zeitgenössischen Fotografie: „Unabhängig davon, und sobald die Technik es eher erlaubte, hat die Architektur die Fotografie rasch vereinnahmt.“
Im Gegensatz zur Malerei, die die Fotografie bei der Wiedergabe der Wirklichkeit als Widersacherin sah, hat die Architektur die Fotografie seit Ende des 19. Jahrhunderts als Werkzeug begrüsst, um Design der Wirklichkeit anzunähern. Als im 20. Jahrhundert der Wunsch wuchs, architektonisches Schaffen breiter publik zu machen, wurden Fotografien wichtiger als Pläne oder Beschreibungen, um das Schaffen eines Architekten zu präsentieren.
Ähnlich dem Autorenkino, sagt der Direktor des MAAT, hat sich in der Architekturfotografie eine Autorenszene etabliert: „Inmitten einer ständigen Flut von Bildern, die, wie es stets heisst, die Essenz der Architektur gefährdet, suchen wir den Bildermacher, der über den Durchschnitt hinausragt, jenen Architekturfotografen, dem es gelingt, eine eigenständige Sichtweise zu bewahren.“
Zu dieser Spezies gehört der 71-jährige Zürcher Marcel Chassot. Zwar hat der promovierte Ökonom, der am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich forschte und während Jahren in der Lehre tätig war, erst relativ spät begonnen, Architektur intensiv zu fotografieren – als engagierter und wissensdurstiger Autodidakt. Die Liebe zum Medium hatte er von seinem Vater geerbt.
Wie Marcel Chassot in einem Interview mit dem „baublatt“ sagt, war seinerzeit die Begegnung mit den Sakralbauten Mario Bottas für ihn prägend. Die Kirchen des Tessiners nennt er „Orte des Staunens und der Ergriffenheit“, wie alle Bauwerke, die ihn ansprechen. Solche attraktiven Bauten lösen in ihm den unwiderstehlichen Wunsch aus, sich fotografisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Das grenze, räumt er ein, an eine Sucht.
Als Architekturfotograf sieht Marcel Chassot Parallelen zwischen der früheren Tätigkeit und seiner heutigen Passion: „Hier wie dort geht es um systematisches Arbeiten.“ Wobei Standortwahl und Lichteinfall entscheidende Faktoren sind. Sie bedingen das systematische Begehen eines Objekts und das Abwarten des richtigen Lichteinfalls: „Dies erfordert, analog zur wissenschaftlichen Forschung, Geduld, Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen.“
Dank dieser Tugenden ist unter dem Titel „Marcel Chassot: Architektur und Fotografie – Staunen als visuelle Kultur“ ein grossformatiger Farbbildband entstanden, der im renommierten Münchner Kunst- und Architekturverlag Hirmer erscheint. (1)
Man täte dem opulenten Werk jedoch Unrecht, es in erster Linie als „coffee table book“ einzustufen, wie das prächtigen Fotobänden gern widerfährt. Marcel Chassot und Autor Wolfgang Meisenheimer nähern sich dem Thema sowohl vom fotografischen Bild als auch von der Geistesgeschichte her – kompetent, neugierig und mit Liebe zum Detail.
Marcel Chassot, zu 95 Prozent ohne Stativ unterwegs, fotografiert relativ selten in der Totale. Er sucht sich gerne charakteristische Strukturen, aus Beton, Stahl und Glas, die er in der Regel mit einem Weitwinkelobjektiv aus der Nähe oder der Halbdistanz einfängt und die in der Folge zu abstrakten, intensiv leuchtenden Mustern mutieren. Losgelöst von den Bauwerken, zu denen sie gehören, beginnen diese Muster ein visuelles Eigenleben zu führen, das ihren eigentlichen Zweck vergessen lässt und die Daseinsberechtigung allein aus der Bildqualität bezieht. Und die Farbfotografien lassen den Betrachter staunen, wie das der Untertitel des Bildbandes verspricht.
Als Architekturfotograf will Marcel Chassot, wie er selbst sagt, „abstrahieren, geometrisieren und ästhetisieren“. Als taugliche Objekte dienen ihm aussergewöhnliche Bauten zeitgenössischer Architekten. Da ist, wie erwähnt, Mario Botta. Da sind Santiago Calatrava, Frank Gehry, Zaha Hadid, Herzog & de Meuron, Daniel Libeskind oder Peter Zumthor – ein veritables „Who’s who“ ihrer Zunft. Doch auch dem breiten Publikum weniger geläufige Namen wie Enrique de Teresa, Rolf Gnädinger oder Andreas Meck sind vertreten.
Marcel Chassot versteht sich nicht als Jäger und Sammler von Stararchitekten. Als Fotograf wählt er seine Sujets, unabhängig vom Namen, in erster Linie mit Blick auf den Gestaltungsspielraum aus, den er aufgrund des ersten visuellen Eindrucks seiner Vorrecherchen erwartet: „Das resultierende Licht- und Schattenspiel sowie die zahllosen Möglichkeiten, die vielgestaltigen Elemente der Konstruktion durch entsprechende Wahl der Perspektive neu und in veränderter Gewichtung zu kombinieren, machen diese Form von Architektur (…) besonders attraktiv.“ Zum Beispiel Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao.
Marcel Chassots Sujets ist denn eines gemeinsam: Sie sind alle eigenständig, sie sind oft unkonventionell und sie sind alle, populär ausgedrückt, Hingucker – gemäss jenem Double Entendre der blonden Filmschauspielerin Mae West (1893–1980), die einmal bemerkte: „It’s better to be looked over than to be overlooked.“
Im Text geht Professor Wolfgang Meisenheimer aus wissenschaftlicher Sicht der Frage nach, weshalb der Architekturfotograf Marcel Chassot nach Strukturen sucht, die er als schön empfindet. Der Autor, selbst Architekt und Architektur-Theoretiker, nennt drei Schichten, die für den Fotografen eine wesentliche Rolle spielen: „die euklidischen Ordnungen, in der Antike wurzelnd, die Orientierung an der modernen Leib-Philosophie und das Erbe des Kubismus aus den Anfängen der Malerei“. Seine anspruchsvollen Erklärungen versteht Wolfgang Meisenheimer als „gedankliche Netze, die helfen, Ideenhintergründe mitzulesen“.
Marcel Chassot, folgert der Autor, bilde die mathematischen Elemente und Systeme nicht ab, wie sie etwa den gebauten Dingen anhafteten, sondern liefere vielmehr bedeutungsvolle Ausschnitte, die vom Betrachter zu ergänzen und zu verstehen sind: „Er setzt der gelenkten Betrachtung einen Rahmen, in dem das gestalthafte Material sich vor den Augen des Betrachters ordnet.“ Wolfgang Meisenheimer zufolge ist Marcel Chassots fotografische Darstellung „zunächst und vor jeder Interpretation Augentraining sowie Erinnerung an die Geschichte der Malerei und in diesem Sinne philosophische Belehrung“.
Noch ist die Architekturfotografie, 198 Jahre nach der ersten Aufnahme von Nicéphore Niépce, nicht am Ende ihres Weges angelangt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Zeit, da Digitaltechnik exakt abbilden kann, wie Gebäude aussehen werden. Und da Drohnen es erlauben, neue, bisher unbekannte Sichtweisen bei beliebigem Abbildungsradius der Umgebung zu erschliessen.
Die Gattung, fordert deshalb Pedro Gadanho, müsse in Zukunft ihren herkömmlichen Status als blosses Werkzeug bei der neutralen, realistischen Wiedergabe von Architektur überwinden: „Während die bebaute Umgebung nach wie vor ihr Sujet ist, nährt sich die künstlerische Autonomie (der Architekturfotografie) zunehmend von der Fähigkeit, einen Dialog mit zeitgenössischer Architektur und Städtelandschaften aufzunehmen (…). So verliert das Genre seine Abhängigkeit von der Architektur oder deren urbanen Thematik und wird wieder mehr reine Fotografie.“ Wie Marcel Chassot sie bereits heute praktiziert.
(1) Marcel Chassot: Architektur und Fotografie – Staunen als visuelle Kultur, Texte Wolfgang Meisenheimer, 374 Seiten, 256 Seiten in Farbe, Hirmer Verlag 2018, CHF 85.00