Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei seinem jüngsten Sizilien-Besuch im September eine «ehrlichere Debatte» über das Thema Migration gefordert. Als im Jahr 2018 in kürzester Zeit mehr als 700 Migranten ertrunken waren, reiste Steinmeier nach Lampedusa, um zu verkünden, dass sich solches nicht wiederholen dürfe.
Mittlerweile bezeichnen Kritiker das Mittelmeer als eines der grössten Massengräber der Welt. Deswegen sind die Worte des Bundespräsidenten aber nicht wertlos. Denn sie markieren das grosse moralische Dilemma unserer Zeit.
Klammheimlich werden nicht wenige Europäer im Mittelmeer ein nicht unwillkommenes Bollwerk sehen. Keiner würde das offen sagen. Und darin besteht im Grunde die stillschweigende Verabredung im Zusammenhang mit der Migration: Man möchte auch nicht allzu genau wissen, wie «Herkunftsländer» die «Migration eindämmen» und wie «der Schutz der Aussengrenzen» in der Praxis aussieht. Denn allzu offensichtlich ist, dass es dabei äusserst schmutzig zugeht.
Zwei Klassen
Als Sündenböcke dienen in den Reden der Politiker und in der Berichterstattung der Medien die «Schleuserbanden», denen «das Handwerk» gelegt werden soll. Ohne Zweifel handelt es sich bei vielen von denen um skrupellose Verbrecher, aber sie könnten ihre menschenverachtenden Praktiken nicht anwenden und daran prächtig verdienen, wenn es nicht die globalen Migrationsströme gäbe, die sie ebenso leicht abfischen können wie einstmals Fischer üppige Bestände in reichen Fischgründen.
Nun ist Europa an einer «Belastungsgrenze». Das sagen inzwischen auch gemässigte Politiker. Was bedeutet das aber in der Praxis? Der Bundespräsident liefert das wohlklingende Stichwort der «ehrlicheren Debatte». Was meint er mit «ehrlich»? Könnte er damit meinen, dass die europäischen Ideale der Menschenrechte und die damit verbundenen Ansprüche aller Menschen auf bedingungslosen Schutz und die damit verbundene soziale Unterstützung nicht mehr absolut gelten sollen? Die rechten Populisten insinuieren das schon seit Langem. Allerdings vermeiden auch sie es, die damit verbundene Einteilung der Menschen in zwei Klassen – die mit Menschenrechten versehenen Europäer und die weit darunter liegenden Nobodys bar jeder Rechte und Ansprüche – offen zu propagieren.
Behörden
Faktisch aber geschieht das – nicht nur in den Grenzgebieten am Rande Europas und auf den wahnwitzigen Überfahrten. Auch im Inland häufen sich die Berichte von unendlichen, teilweise nächtelang andauernden Warteschlangen vor den Ausländerbehörden, über Monate nicht beantwortete E-Mails und nicht bearbeitete Anträge. Auch das ist praktizierte Menschenverachtung, begangen vom deutschen Staat, aber die Situation in der Schweiz ist damit durchaus vergleichbar. Natürlich steckt dahinter keine Absicht. Denn es ist nun leider so, dass die Behörden den Anforderungen einfach nicht nachkommen. Darüber regt sich keiner auf, der nicht unmittelbar betroffen ist. Aber es handelt sich um Menschenverachtung im eigenen Stadtteil. Darüber sollte niemand hinweggehen, der nicht zynisch kommentieren möchte: Wenn es ein Flüchtling schon über das Mittelmeer geschafft hat, wird er doch noch ein paar Monate Stau vor einer Behörde verkraften.
Wenn man einen gemeinsamen Nenner sucht für die Vermeidung der «ehrlicheren Debatte», dann besteht er in der gemeinsamen Verabredung zum Wegsehen. Man will es einfach nicht wissen. Man will keine Einzelheiten von Lagern in Afrika, von Vertreibungen in Wüsten, von Willkür und Morden untergeordneter Schergen von Gewaltunternehmern im Auftrag kaum funktionierender Staaten wissen. Man möchte alles hinnehmen wie schreckliche, aber letztlich unbeeinflussbar verhängte Schicksale an aussereuropäischen Orten.
Eine «ehrlichere Debatte» würde das Eingeständnis enthalten, dass wir Europäer das Ideal der universellen Menschenrechte nicht durchhalten können. Solange dieses Ideal in der Dunkelheit des Nicht-zur-Kenntnis-Nehmens verletzt wird, stellt es keine explizite Herausforderung dar. Aber wehe, wenn es zum Konzept wird. Denn dann ist der Abgrund nahe. Wenn man erst einmal explizit angefangen hat, die Würde aller Menschen in Frage zu stellen, gibt es kein Halten mehr. Dann ist das eine Leben schützenswert, das andere nicht, das eine hat eine unantastbare Würde, das andere ist Verfügungsmasse.
Es ist nicht lange her, dass so gedacht wurde. Mit Recht erfüllt uns diese Vergangenheit mit einem heiligen Schrecken. Aber sie befreit uns nicht von der Notwendigkeit, über die Grenzen unserer Möglichkeiten nachzudenken. Es gibt wohl nur Mittelwege, die in aller Demut und Mühe begangen werden müssen. Da ergibt sich einmal diese Lösung, einmal jene. Keine ist perfekt. Wer anderes verspricht, trägt ganz sicher nichts zu einer «ehrlicheren Debatte» bei.