Noch immer suchen viele Portugiesen ihr Glück in der Ferne. Zugleich leben in ihrem Land mehr Zuwanderer als je zuvor, nicht nur aus Brasilien oder früheren afrikanischen Kolonien. Der neue Andrang stellt die portugiesische Willkommenskultur auf den Prüfstand.
In einer Parlamentsdebatte vor drei Monaten ging es eigentlich um den überfälligen Bau eines neuen Flughafens für Lissabon. Seit Jahren platzt der jetzige ans Stadtgebiet grenzende Flughafen aus allen Nähten. Nach vielen Studien und endlosem Hickhack um den Standort entschied sich die neue, Anfang April angetretene bürgerliche Minderheitsregierung für den Bau in Alcochete, rund fünfzig Kilometer östlich der Hauptstadt. In zehn Jahren soll der neue Flughafen fertig sein. André Ventura, Gründer und Führer der rechtspopulistisch-xenophoben Partei Chega, verlangte mehr Tempo – und löste einen Streit um die Verunglimpfung von Ausländern aus.
Die Türken, ein faules Volk?
Der neue Flughafen von Istanbul sei in nur fünf Jahren gebaut und für den Betrieb gerüstet worden, wandte Ventura ein, «und die Türken», fuhr er fort, «sind nicht gerade als das fleissigste Volk der Welt bekannt». Und das löste Empörung im Lager der linken Opposition aus. Ob ein Abgeordneter im Parlament einem anderen Volk solche Charakteristika unterstellen könne, wollte ein Vertreter des Linksblocks wissen. «Nach meinem Verständnis kann er das», konterte Parlamentspräsident José Pedro Aguiar-Branco vom bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD), dem Regierungschef Luís Montenegro vorsteht, unter Verweis auf das Recht auf freie Meinungsäusserung. Laut Verfassung seien faschistische und rassistische Organisationen verboten, nicht aber die Äusserung einschlägiger Meinungen.
Eigentlich verstand sich Portugal stets als offenes und tolerantes Land. Es solle Menschen anderer Völker und Kulturen ähnlich empfangen, wie es seine eigenen Emigranten in anderen Ländern gern empfangen sähe. Dies sagte gern der Staatspräsident der Jahre 1996–2006, Jorge Sampaio. Nun hält sich die Zahl der Türken, die sich in den fernen Westen von Europa verirren, zwar in Grenzen. Aber es kommen immer mehr Ausländer ins Land. Mit diesem Anstieg geht eine Diversifizierung der Herkunftsländer einher –, was hier und da für Befremden sorgt und eine neue Ausländerfeindlichkeit nährt.
Immer mehr Leute aus Asien
Dass es in Portugal keinen Rassismus und keine Xenophobie gibt, ist ein Irrglaube. Ungeachtet aller Vorurteile haben sich die Menschen im Land aber an schwarze Bauarbeiter oder Putzfrauen mit afrikanischen Wurzeln gewöhnt. In Cafés und Restaurants ebenso wie in den Callcenters von Telekom-Anbietern läuft zudem immer weniger ohne das Personal aus Brasilien, das mit seiner unverwechselbaren Variante der portugiesischen Sprache auffällt. Nicht zuletzt, weil Brasilien und mehrere afrikanische Länder einst zum portugiesischen Imperium gehörten, galt jede offene Feindseligkeit gegenüber Menschen von dort – trotz aller Vorurteile – bisher als politisch unkorrekt.
Vor allem im Grossraum Lissabon gilt das Augenmerk immer öfter aber Frauen in Saris und Männern mit asiatisch anmutenden Gewändern oder Turbanen. Aus Indien oder aus Pakistan, aus China, Nepal, Bangladesch oder gar den Philippinen mögen viele von ihnen kommen. Sie arbeiten nicht selten als Kellnerinnen und Kellner oder stehen hinter dem Tresen kleiner Krämerläden, von denen niemand weiss, wie sie überleben. Oder sie warten mit Motorrollern vor Restaurants, um Takeaway-Mahlzeiten auszuliefern. Vor allem im Südosten der Region Alentejo schaffen viele Leute aus Asien auch in Gewächshäusern. Vor allem in der Landwirtschaft kommen öfter Fälle der schamlosen Ausbeutung ans Licht.
Zeltlager nahe dem Zentrum von Lissabon
Ein besonderer Anblick bietet sich nahe dem Zentrum von Lissabon im Stadtteil Arroios, wo sich nicht nur ein mittlerweile ansehnliches Angebot von Restaurants mit asiatischer Kost findet. Von einer ausgeprägten Wohnungsnot zeugt ein Lager mit mittlerweile Hunderten von Zelten rings um eine Kirche unmittelbar gegenüber dem Nationalen Zentrum für die Unterstützung und Integration von Migranten (CNAIM) mit Zweigstellen diverser Behörden, die relevante Dienste anbieten. In den Zelten nächtigen vor allem Zuwanderer aus Asien. Sie kochen im Freien ihre Mahlzeiten, hängen ihre Wäsche zum Trocknen auf und machen es sich mit viel Improvisationstalent so wenig ungemütlich wie möglich.
Von einer nicht regulierten Immigration, an der Mafias verdienten, warnt die Junta dieses Stadtbezirks. Ihre Vorsitzende, die aus dem bürgerlichen Lager stammende Madalena Natividade, zeigt mit dem Finger aber auch auf Aktivisten linker Organisationen, die Migranten dazu ermutigen, sich hier niederzulassen und zu verweilen. Anwohner, sagt sie, klagten derweil über Kakerlaken und Ratten in ihren Wohnungen. Manche Bewohner meinen aber auch, dass die öffentliche Hand zu wenig für die Strassenreinigung tue. Und Abfall auf der Strasse, so ist zu hören, gebe es ja nicht nur in Quartieren mit so vielen Ausländern.
Mehr als eine Million Ausländer im Land
Fest steht derweil, dass in Portugal so viele ausländische Frauen und Männer leben wie nie zuvor. Zu den herkömmlichen Arbeitsmigranten gesellen sich dabei Rentner aus anderen europäischen Ländern, die sich von Steuervorteilen nach Portugal locken liessen, ebenso wie «digitale Nomaden». Nach provisorischen Angaben der relativ jungen Agentur für Integration, Migration und Asyl (Agência para a Integração, as Migrações e o Asilo, AIMA, sie ging aus der frühreren Ausländer- und Grenzbehörde SEF hervor, übernahm aber nur ihre administrativen und nicht ihre polizeilichen Funktionen) lebten in Portugal 2023 rund 1,04 Millionen Ausländer bei 10,4 Millionen Einwohnern.
Am stärksten wog die Präsenz der Leute aus Brasilien (rund 35 Prozent), gefolgt von denen aus Angola (5,3 Prozent), Cabo Verde (4,6 Prozent), dem Vereinigten Königreich (4,5 Prozent), Indien (4,2 Prozent), Italien (3,4 Prozent), Guinea-Bissau (3,1 Prozent), Nepal (2,8 Prozent), China (2,6 Prozent) und Frankreich (2,6 Prozent).
Nicht mitgezählt sind 50’000 Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine, denen Portugal angesichts des Krieges in ihrem Land temporären Schutz bietet. Nicht gezählt wurden vor allem auch rund 400’000 Personen mit anhängigen Anträgen auf die Aufenthaltserlaubnis. Und da hat die neue Agentur AIMA an einem schweren Erbe der vorherigen, im April abgelösten sozialistischen Regierung zu knacken.
Zugeständnis an die Rechtspopulisten?
Die AIMA hatte, weil Arbeitskraft knapp war, die Einwanderung erleichtert. Ab 2017 konnten Ausländer, die legal, wenngleich nur mit Touristenvisum, eingereist waren, online die Aufenthaltserlaubnis beantragen. Sie mussten nur einen Arbeitsvertrag oder eine entsprechende Zusage nachweisen. Zudem erleichterte Portugal die Zuwanderung aus anderen Ländern der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder (CPLP). Aber der Andrang übertraf alle Erwartungen. Mit der Bearbeitung der vielen Anträge waren die Behörden überfordert. Für das Abtragen dieses Berges hat die neue Regierung einen Plan vorgelegt.
Vor allem hat sie aber vor einigen Wochen neue Regeln für die Einwanderung erlassen. Einfach nur online das Interesse an einer Aufenthaltserlaubnis bekunden, das war einmal. Was hat die Regierung dazu bewogen? Nur die Schaffung klarer Verhältnisse? Oder will sie der xenophoben Chega-Partei, die 50 der 250 Abgeordneten des Parlaments stellt, das Wasser abgraben? Im Kampf um Stimmen hatte sich Chega früher, trotz rassistischer Ausrichtung, mehr auf das Thema der Korruption konzentriert. Neuerdings nehmen die Zuwanderung und ein angeblicher – von Spezialisten aber abgestrittener – Zusammenhang zwischen der Einwanderung und der Kriminalität einen breiteren Raum ein.
Ohne Ausländer läuft nichts mehr
Am Arbeitsmarkt ist die Nachfrage nach Ausländern gross, vor allem für einfache Tätigkeiten. Laut einer Studie der nationalen Zentralbank (Banco de Portugal) stieg die Zahl der unselbständigen ausländischen Arbeitskräfte zwischen 2014 und 2023 von 55’600 (2,1 Prozent des gesamten Personals) auf 495‘200 (13,4 Prozent). Im Jahr 2023 beschäftigten gut 22 Prozent aller Unternehmen ausländisches Personal, gegenüber knapp 8 Prozent 2014.
Woher kommen diese Arbeitskräfte? Im Jahr 2023 stammten gut 42 Prozent aller ausländischen Frauen und Männer, die bei der Sozialversicherung gemeldet waren, aus Brasilien, im Schnitt 209’400. Weitere 22 Prozent kamen aus Indien (41‘000), Nepal (26‘900), Cabo Verde (22‘700) und Bangladesch (18'800). In Portugal sind diese Leute mittlerweile wohl ebenso wichtig wie Portugiesen in der Schweiz oder, noch mehr, in Luxemburg. Ohne sie läuft vielerorts nichts mehr.