Die zweitstärkste Armee der Welt, die in den letzten Wochen eklatante Unzulänglichkeiten offenbarte, könnte nun ihren ersten grossen Sieg in der Ukraine erringen. Der Fall der südukrainischen Stadt Mariupol wäre ein wichtiger Meilenstein in diesem Krieg.
Noch ist es nicht so weit. Die eingekesselten, übriggebliebenen ukrainischen Truppen weigern sich, zu kapitulieren, und geloben, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Doch ihr unerschrockenes Beharren scheint aussichtslos.
Mariupol war zum Symbol für die Grausamkeiten dieses Krieges geworden. Sieben Wochen lang wurde die Stadt bombardiert. Wer flüchtete, riskierte, erschossen zu werden. Spitäler, ein Theater, Wohnhäuser und selbst Friedhöfe wurden beschossen. Keine andere Stadt hatte derart zu leiden. Neunzig Prozent von Mariupol sind beschädigt oder zerstört. «Die Stadt existiert nicht mehr», sagte am Sonntag der ukrainische Aussenminister.
Katastrophe «apokalyptischen Ausmasses»
Pro-russische Kräfte aus den sezessionistischen Gebieten im Osten des Landes hinderten internationale Helfer daran, Hilfsgüter in die Stadt zu transportieren. Versuche des IKRK scheiterten immer wieder. Russland ist verantwortlich für eine humanitäre Katastrophe «apokalyptischen Ausmasses», wie Hilfsorganisationen erklären. In der Stadt fehlen frisches Wasser, Strom, Lebensmittel und Medikamente. Überall lagen Leichen herum. Je nach Quelle starben zwischen 10’000 und 20’000 Menschen.
Die letzten ukrainischen Kämpfer, vermutlich etwa 3’000, haben sich im Stahlwerk der Stadt verschanzt. Ihre Lage scheint hoffnungslos. Das weiss auch Präsident Wolodimir Selenskyj. Den Ukrainern gehen die Munition und die Nahrungsmittel aus. Ein Soldat hatte in den sozialen Medien erklärt: «Jetzt werden wir getötet oder gefangen genommen.»
Der Fall von Mariupol wäre für Russland ein strategischer, moralischer und wirtschaftlicher Sieg.
Landbrücke von Russland bis zur Krim
Mariupol liegt zwischen der Halbinsel Krim, welche die Russen 2014 völkerrechtswidrig annektiert hatten, und den ostukrainischen Gebieten des Donbass. Mit der Eroberung der Stadt erhielte Russland einen Landkorridor von der Krim bis in die Ostukraine – und damit eine Landbrücke von Russland bis zur Krim.
Damit würde Russland über die vollständige Kontrolle über mehr als 80% der ukrainischen Schwarzmeerküste verfügen. Die einzige Verbindung zwischen Russland und der Krim hatte bisher übers Meer geführt: über die 2018 eröffnete Krim-Brücke bei der Hafenstadt Kertsch. Jetzt also könnten die Russen die Krim über Land erreichen.
Frei werdende russische Truppen
Der Kampf um Mariupol hat Tausende russische und pro-russische Truppen gebunden. Man schätzt, dass 6’000 russische Soldaten und pro-russische Kämpfer aus den sezessionistischen Gebieten im Osten in und rund um Mariupol im Einsatz sind. Dazu kommen vermutlich einige tschetschenische und syrische Kombattanten. Nach der Niederlage der Ukrainer würden diese Truppen nun frei und könnten an anderen Fronten eingesetzt werden: zum Beispiel in der östlichen Donbass-Region oder bei der etwas nördlich gelegenen Millionenstadt Dnipro.
Nicht ausgeschlossen ist, dass die Russen mit den Truppen, die in Mariupol kämpften, einen Angriff auf die Millionenstadt Odessa am Schwarzen Meer vorbereiten. Ein Fall der Millionenstadt Odessa, der wichtigsten Hafenstadt des Landes, würde die Ukraine vollständig vom Schwarzen Meer abschneiden und die «Rest-Ukraine» zum Binnenland machen.
Wirtschaftlicher Schaden
Mariupol ist der grösste Hafen am Asowschen Meer, einem Nebenmeer des Schwarzen Meers. Exportiert wurden hier Eisen, Stahl, Kohle und Getreide aus der «Kornkammer Ukraine». Mariupol gehörte mit seiner metallverarbeitenden Industrie zu den wichtigsten Wirtschaftszentren der Ukraine. «Asowstal» und «Illich Iron & Steel Works» beschäftigten Zehntausende Angestellte und stellten wichtige Exportgüter her. All das würde jetzt in russische Hände fallen.
Die Nazis des Asow-Bataillons
Zum ukrainischen Widerstand in Mariupol gehören Kämpfer des «Asow»-Bataillons. Dabei handelt es sich um eine ultranationalistische, paramilitärische Organisation, der viele Rechtsextreme und Nazis angehören. Sie würden nun von den Russen propagandistisch ausgeschlachtet. Zwar kämpfen in Mariupol nur wenige hundert Asow-Milizionäre, doch sie liefern Moskau «den Beweis», dass es sich bei den Ukrainern um Nazis handelt, die entfernt werden müssen. Gefangene Asow-Kämpfer würden sicher von den Russen in den russischen und internationalen Medien als «Nazis» vorgeführt werden.
Psychologischer Sieg
Die Einnahme von Mariupol wäre ein Sieg, den Putin dringend brauchte. Sieben Wochen lang gelang es der zweitstärksten Armee der Welt nicht, die kleine Ukraine in die Knie zu zwingen. Die russische Armee, desorganisiert, mit Führungs- und Nachschubproblemen belastet, gab der Welt ein ziemlich klägliches Bild ab. Tausende russische Soldaten, sogar acht Generäle, starben.
Jetzt könnte Russland zeigen, dass man doch siegen kann. Für Putin wäre der Fall von Mariupol ein wichtiger Schritt, «die Russen von der Tyrannei der prowestlichen Regierung in Kiew zu retten». Der Kreml-Chef will alle angeblich russischen Gebiete den Russen zurückgeben. Für ihn gehört die ukrainische Schwarzmeerküste bis an die rumänische Grenze zu «Neurussland» – zu jenen russischen Gebieten, die dem Russischen Kaiserreich des 18. Jahrhunderts gehörten und bis zum Osmanischen Reich reichten.
Wegen des schleppenden Krieges, der vielen toten russischen Soldaten und der fehlenden Erfolgsmeldungen befindet sich die Moral der russischen Truppen gemäss westlichen Geheimdienstkreisen in einem erbärmlichen Zustand. Ob sie sich nach einer Eroberung von Mariupol verbessert, muss sich zeigen.
Schlag für die Ukraine
Die Taktik der Russen bestand darin, Mariupol zu umzingeln, zu beschiessen und auszuhungern. So vermieden sie direkte Kämpfe und eigene Verluste. Das könnte sich jetzt anderswo wiederholen.
Für die Ukraine wäre die russische Eroberung von Mariupol ein schwerer militärischer, wirtschaftlicher und psychologischer Schlag. Die Stadt liegt in Schutt und Asche. Tausende Tote hat die Belagerung und der Beschuss gekostet. Der Preis, den die Ukrainer für ihre heldenhafte Verteidigung bezahlt haben, ist enorm.
Die Botschaft der Russen ist klar: «Seht her, was passiert, wenn ihr nicht kapituliert!» Welcher Stadt droht als nächstes dieses Schicksal?