Auf Einladung des Bundespräsidenten absolviert Emmanuel Macron seit Sonntag einen dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland. Anlass ist der 75. Jahrestag der Unterzeichnung des Grundgesetzes. Bei seinem Besuch setzt Macron Akzente, die den Deutschen zu denken geben sollten.
So wird er in Dresden vor der Frauenkirche eine speziell an die Jugend gerichtete Ansprache halten. Die entscheidenden Passagen wird er auf Deutsch vortragen. In seiner Schulzeit in Amiens hat Macron Deutsch gelernt und es in den vergangenen Jahren stetig verbessert. Zu seiner Lektüre gehörten in jungen Jahren Rilke und Goethe, aber auch Grass. Seine Diplomarbeit schrieb er über Hegel. Auf dem Klavier spielt er Bach und Beethoven, wobei er eine besondere Vorliebe für Robert Schumann hat. In freien Stunden besucht er in Paris Anselm Kiefer in einem seiner Ateliers, und hin und wieder trinkt er mit Peter Sloterdijk einen Whisky.
Friedenssicherung an erster Stelle
Als Station für seinen Staatsbesuch hat er deswegen Dresden ausgesucht, weil ihm klar ist, dass Ostdeutschland zu Frankreich einen grösseren mentalen Abstand hat als Westdeutschland. Er fühlt sich aufgerufen, daran etwas zu ändern, wie er überhaupt mit seinen beiden Reden über Europa an der Sorbonne sein grosses Engagement zum Ausdruck gebracht hat. In Deutschland sieht er den wichtigsten Partner innerhalb der EU. Aber ist diese Beziehung auch gleichgewichtig?
Sie war es einmal. Als im Jahr 1951 die Montanunion zwischen Frankreich und Deutschland als Vorläufer der heutigen EU gegründet wurde, stand vor den wirtschaftlichen Vorteilen die Friedenssicherung an erster Stelle. Das war das grosse Anliegen des französischen Aussenministers Robert Schuman, dem sich der deutsche Kanzler Konrad Adenauer anschloss. In der Folge versöhnte sich auch Charles de Gaulle mit Deutschland. Im Zeichen des Friedenswunsches kam es zu einem regen kulturellen Austausch, an dem gerade die Jugend einen lebhaften Anteil hatte. Als Vorbild für Macrons Auftritt dient die «Rede an die deutsche Jugend», die Charles de Gaulle 1962 unter grossem Jubel in Ludwigsburg gehalten hat.
Man kann durchaus von einem gemeinsamen Spirit sprechen, der auch noch wirkte, als sich Helmut Kohl und François Mitterrand auf dem Soldatenfriedhof in Verdun im Jahr 1984 die Hände hielten. Seitdem ist dieser gemeinsame Spirit komplett verwelkt. Angela Merkel liess Emmanuel Macron nach seiner ersten Sorbonne-Rede im Jahr 2017 komplett im Regen stehen, indem sie sich damit gar nicht erst auseinandersetzte. Als Ostdeutsche hatte sie auch zur französischen Kultur kein Verhältnis, und Olaf Scholz gilt kulturell auch nicht als frankophil. Sein tiefes Verständnis der französischen Esskultur brachte er dadurch zum Ausdruck, dass er 2013 Brigitte und Emmanuel Macron in Hamburg zum Verzehr von Fischbrötchen an einem Stand am Fischmarkt einlud. Die Bilder von diesem Fauxpas wurden wiederum von französischen Nutzern der Social Media oft und gern angeklickt.
Grossmacht ohne Staatsidee
Das Verhältnis von Macron und Scholz gilt als notorisch schlecht, das zwischen Macron und Merkel war Schwankungen unterworfen. Hoch rechnete er ihr an, dass sie 2020 seinem Vorschlag für einen schuldenfinanzierten EU-Wiederaufbaufonds zustimmte. Ihr abrupter Ausstieg aus der Atomkraft gefiel ihm schon weniger. Und dass sie alle Warnungen und Mahnungen in Bezug auf Nord Stream 2 in den Wind schlug, war eine ernste Belastung. Die Konfliktpunkte mit Scholz liegen auf dem Feld gemeinsamer Schulden und der Frage, ob die Nato notfalls auch eigene Truppen in die Ukraine schicken könnte oder sollte.
Die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland wird hin und wieder mit einem Ehepaar verglichen. Bei einem Ehepaar macht es einen grossen Unterschied, ob es einen Grundkonsens und ein Zusammengehörigkeitsgefühl hat, auf deren Basis Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden, oder ob jede Diskussion in einem resignierten Schulterzucken endet. Und man mag von Macron halten, was man will: Niemand wird ihm absprechen, dass er Ideen und Leidenschaft hat.
Und Deutschland? Helmuth Plessner, nach dem Zweiten Weltkrieg Professor für Soziologie an der Universität Göttingen, analysierte in seinem zuerst 1959 erschienenen Werk «Die verspätete Nation» die Verführbarkeit des deutschen Bürgertums durch den Nationalsozialismus. Eine Wurzel dafür sah er in «Bismarcks Reich», das er als eine «Grossmacht ohne Staatsidee» charakterisierte. Frankreich dagegen war seit 1789 durchdrungen von den Ideen und Parolen der Französischen Revolution. Mit Frankreich verbanden sich Ideale, mit Deutschland nur die Bindung an das «Volk».
Das Grundgesetz, dessen Jubiläum Macron nun mit seinem Staatsbesuch begeht, hat diesem Mangel weitgehend abgeholfen. Aber er ist nicht verschwunden. Die Sachbearbeiterperspektive von Olaf Scholz und vorher der Opportunismus Angela Merkels bilden einen starken Kontrast zu dem Enthusiasmus, zu dem Macron noch immer fähig ist. Es wäre kein Fehler, wenn ein Funke überspringen würde.