Dieses neue Thema heisst Unterwanderung. Die USA hätten dabei die empfindlichsten Stellen des Staates anvisiert, der Atomdeal sei nur ein Vehikel dazu. Eine gut orchestrierte mediale Kampagne, die von den mächtigen Revolutionsgarden gesponsert wird, bringt Rouhanis Regierung in Bedrängnis. Revolutionsführer Ali Khamenei fungiert dabei als Stichwortgeber.
Einsickern - ein Wort macht Karriere. Und die ist inzwischen so weit gediehen, dass sich sogar die wichtigsten Männer an der Spitze des iranischen Staates damit beschäftigen, Revolutionsführer und Staatspräsident eingeschlossen. „Hundert Tage sind seit dem Atomdeal vergangen und seitdem hat der geliebte Revolutionsführer siebzig Mal den Begriff 'Einsickern' warnend in den Mund genommen. Und das zurecht. Denn das Fundament ist bedroht“, sagte am Dienstag vergangener Woche Ahmad Khatami, der einflussreiche Freitagsprediger der Hauptstadt Teheran.
Die Nennung der Häufigkeit soll wohl Wichtigkeit und Dringlichkeit verdeutlichen: Es ist offenbar Gefahr im Verzug, wenn der mächtigste Mann des Iran ein Wort so oft benutzt. Jede Schlacht hat eine Losung Das haben die treuen Jünger des ersten Mannes im Staat mittlerweile sehr gut begriffen. Für sie ist der Kampf gegen das Atomabkommen Geschichte. Dafür wird nun landauf landab vor der Gefahr des Einsickerns gewarnt.
Das Atomabkommen mit dem Iran sei für den Westen, vor allem für die USA, nur ein Vorwand, so die Argumentation. Es gehe dabei in Wirklichkeit um das „Aushöhlen der göttlichen Ordnung von Innen heraus“. Freitagsprediger, Kommandanten der Revolutionsgarden, Parlamentsabgeordnete, Journalisten, Geheimdienste und Justizbehörden: Alle sprechen, predigen und warnen dieser Tage von und vor einer unmittelbaren Gefahr des „Einsickerns“. Sie rufen die Bevölkerung zu Wachsamkeit auf, jeder auf seine Art, belehrend, mahnend oder einschüchternd.
Die einstigen Gegner des Atomabkommens haben sich inzwischen zum Schutzschild gegen die heimliche Infiltration gewandelt. Ihre Losung lautet: „Das Einsickern verhindern.“ Es ist nicht das erste Mal in der islamischen Republik, dass ein Wort zu einem Schlachtruf mutiert. In der wechselvollen und oft blutigen Geschichte des Gottesstaates besitzt jede Periode des inneren Machtkampfes ein eigenes Codewort, bei dem jeder weiss, worum es geht. Seit zwei Monaten warnen zahlreiche Webseiten und Zeitungen, Funk und Fernsehen vor dem „Einsickern des arroganten Westens“, sie sprechen von der Gefahr einer „kulturellen Invasion“ und der „Einnistung des Feindes in den empfindlichsten Stellen des Staats“.
Revolutionsgarden schreiten zur Tat
Eine sehr schwierige und ungewisse Zeit habe begonnen, sagte Aziz Djafri, oberster Kommandant der Revolutionsgarden, am vergangenen Montag vor paramilitärischen Studenten an der Universität Teheran. „Wir befinden uns in der Ära des Einsickerns. Es wird eine sehr komplizierte Zeit werden, der Kampf dagegen wird schwer und er wird länger dauern als jener gegen den Aufruhr“, sagte der höchste Militärmann des Landes vor den Studenten, die bei Bedarf auch als Strassenkämpfer bereitstehen. Der Militärduktus des Generals war nüchtern und trocken und gerade deshalb so beängstigend, als stünde eine neue Schlacht bevor.
Das Codewort „Aufruhr“, das als offiziöse Bezeichnung für die Massenproteste von 2009 nach der umstrittenen Wahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad gilt, sollte dem Auditorium verdeutlichen, wie dramatisch die Lage sei. Doch fast sieben Jahre danach ist der „Aufruhr“ für viele nur noch Erinnerung, er gehört einer fernen Vergangenheit an. Von den damaligen oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, die immer noch im Hausarrest leben, weiss man kaum etwas. Der Aufruhr ist also passé, das Land hat einen neuen Präsidenten und mit dem Begriff „Einsickern“ einen neuen Schlachtruf, mit dem Hassan Rouhanis vorsichtige Öffnung des Iran gen Westen torpediert werden soll.
Nur wenige Stunden nach der Rede des Generals an der Universität verhaftete der Geheimdienst der Revolutionsgarden fünf Journalisten, die der Politik des Präsidenten nahestehen. Unter den Verhafteten ist auch Isa Saharkhiz, der als Doyen des iranischen Journalismus gilt. Der 61-Jährige, der einst an der Spitze des iranischen Journalistenverbandes stand, war schon 2009 in den Tagen des „Aufruhrs“ kurz nach Ahmadinedschads Wahl wegen Beleidigung des Revolutionsführers zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nun muss er wieder ins Gefängnis, diesmal, weil er dem „Einsickern“ Vorschub geleistet haben soll.
Wenn das Salz selbst verdorben ist
Präsident Rouhani, gegen den sich diese gut orchestrierte Kampagne richtet, hat lange Zeit zu all dem geschwiegen, war und ist zu sehr mit dem Atomabkommen beschäftigt. Am vergangenen Montag brach er jedoch in aufsehenerregender Weise sein Schweigen. Er nahm sich in einer Rede vor Journalisten zunächst die Justiz des Landes vor, die gemäss der Verfassung dem Revolutionsführer untersteht. Das Vertrauen der Bevölkerung in die eigene Justiz sei das A und O jeder politischen Ordnung, so Rouhani. Fehle dieses Vertrauen, sei das Ende des Systems absehbar, sagte der Präsident, der seine Kritik an den Revolutionsgerichten mit einem persischen Sprichwort beendete: „Gegen das Verderben verwendet man Salz, aber wehe, wenn das Salz selbst verdorben ist“.
An diesem Tag trat der Präsident wie ein Oppositionspolitiker auf. Es gebe im Iran Zeitungen, aus denen man heute erfahren könne, wer morgen verhaftet werde, sagte er und spielte damit auf mächtige Presseorgane an, die den Revolutionsgarden und den Geheimdiensten nahestehen. Das war zu viel.
Der Chef der Justiz, Ayatollah Laridjani, meldete sich umgehend auf einer extra einberufenen Pressekonferenz zu Wort und drohte dem Präsidenten, er solle sich zurückhalten, sonst müsse er selbst mit Prozessen rechnen. Wisse Herr Rouhani, was er sage, wen er beleidige, wisse er, wem die Justiz unterstehe, fragte rhetorisch der Justizchef und fügte hinzu, der Jurist Rouhani wisse sicher, dass solche Äusserungen justiziabel seien.
Die Pressekonferenz war noch im Gange, als der Geheimdienst der Revolutionsgarden bekannt gab, dass ein sehr wichtiger US-Agent in die höchste Regierungsebene eingedrungen sei. Eine Blamage für Rouhani: Denn dieser angebliche Spion war ein libanesischer IT-Experte, der auf Einladung des Präsidenten selbst im Iran war, um auf einer Konferenz über den Iran und die virtuelle Welt zu sprechen.
Die Wahlen und der Westen
Bei diesem Lärm und dieser gefährlichen Zuspitzung der Lage gehe es in Wahrheit weder um diese oder jene Aussage noch um Infiltration, sagt der Politologe Sadegh Zibakalam von der Universität Teheran. Es gehe eigentlich um zwei wichtige Wahlen im kommenden Februar: die des Parlaments und - noch wichtiger - die der sogenannten Expertenversammlung, die den künftigen Revolutionsführer des Iran bestimmt.
Doch es geht auch um die Frage, ob Rouhanis Annäherung an den Westen über das Atomabkommen hinausgehen darf. Das dürfe sie nicht, hat Revolutionsführer Khamenei mehrmals und unmissverständlich gesagt. Und dieses Nein wird in unzähligen Variationen wiederholt, von mächtigen Militärs, einflussreichen Mullahs und von Richtern und Parlamentariern.
Mitte November, als der Wächterrat als das höchste Verfassungsorgan den Atomdeal ratifizierte, gaben die iranischen Militärs den erfolgreichen Test einer neuen Langstreckenrakete namens Emad bekannt. Und am Tag danach geschah Erstaunliches: Das staatliche Fernsehen des Iran gewährte seinen Zuschauern erstmals einen Einblick in einen unterirdischen Raketenstützpunkt. Die Anlage befinde sich 500 Meter tief unter der Erde, um sie vor möglichen feindlichen Angriffen zu schützen, erklärte der Kommandant Amir Ali Hadschisadeh und fügte hinzu, solche Stützpunkte gebe es „in allen Provinzen und Städten des Landes“.
Offener und unmissverständlicher als mit solch einer Machtdemonstration liesse sich der Welt nicht zeigen, dass das Atomabkommen nicht zu einer Fessel werden kann und darf. Das Weisse Haus in Washington erklärte am Tag darauf, der Iran habe damit wahrscheinlich gegen eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats verstossen.
Wer ist Treiber, wer Getriebener?
Revolutionsführer Ali Khamenei sei weder der einzige noch der eigentliche Initiator der neuen Kampagne gegen Rouhani, sagt Jamschid Barzgar, der Iran-Experte der BBC. Barzgar vermutet die Revolutionsgarden als Hauptantreiber der neuen Angriffe. Khamenei sei dabei nur Stichwortgeber. Mächtige und grosse Wirtschaftsunternehmen, die den omnipotenten Garden gehören, mögen keine Konkurrenz aus dem Westen. Ihre Auslandsgeschäfte wollten sie weiterhin mit China und Russland betreiben, das Atomabkommen solle der einzige Erfolg Rouhanis bleiben, so der BBC-Mann.
Doch ein Atomdeal ohne eine tatsächliche Veränderung des Alltags der Menschen wird Rouhani kaum nützen. Der anfängliche Optimismus nach dem Atomabkommen ist längst verflogen, Rouhanis Machtlosigkeit innerhalb des komplizierten Systems der islamischen Republik offenbart sich zunehmend. Und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ist nicht in Sicht. Die Zahl der Arbeitslosen steigt, mit ihr der Dollarkurs. Bliebe alles so wie jetzt, könnten nicht nur die beiden wichtigen Wahlen im Februar für Rouhani zum Fiasko werden, sondern auch die Implementierung des Atomabkommens und die vollständige Aufhebung der Sanktionen scheitern. Seine Wiederwahl wäre dann fraglich.
Mit freundlicher Genehmigung von Iran Journal