Es ist gut, als erstes einen Spaziergang durch diesen Band zu machen. Da gibt es viele Bilder, die sofort betörend wirken, und sie sind es auch. Denn Stephan Erfurt erfasst mit seiner Kamera immer wieder das schwer zu Fassende: Symmetrie im Banalen, unerwartete Farbkompositionen im Alltäglichen, Magie auch noch auf den Schwundstufen unserer Zivilisation.
Metapher für die Zivilisation
Da gibt es eine Serie unter dem Titel „Brücken“. Wieder und wieder sehen wir die Brooklyn-Bridge. Aber was sehen wir von ihr? Manchmal ist sie aus der Perspektive irgendwelcher Hinterhöfe nur angedeutet. Aber diese Brücke wirkt so stark wie eine vertraute Stimme, die man noch aus tausend Stimmen aus einem Gemurmel heraushört.
Die Brooklyn-Bridge und dahinter aus diversen Perspektiven die Twin-Towers: Das ist vorbei, gewiss, aber Stephan Erfurts Bilder erinnern uns daran, dass New York, so fragwürdig in seiner sozialen Zerrissenheit auch immer, für Europäer etwas ganz Besonderes bleibt.
Florian Illies hat in einem hellsichtigen Essay zu diesem Band darüber geschrieben, wie Stephan Erfurt das künstliche Licht der Neonreklamen Amerikas mit dem Auf und Ab des Tageslichts in Verbindung brachte, leere Räume und Plätze zu einem Abbild und gleichzeitig zu einer Metapher für eine Zivilisation machte, die uns Europäer ebenso fasziniert, wie sie uns fremd bleibt.
Das Geheimnis hinter dem Bild
Für wen hat Stephan Erfurt all das fotografiert? Florian Illies beschreibt ausführlich, dass Erfurt in den 1980er Jahren zahlreiche Bilder für das „Frankfurter Allgemeine Magazin“ und für den Verlag Suhrkamp gemacht hat. Dieser Hinweis ist der Schlüssel zu diesem Band. Denn nun versteht man, wie diese Bilder im Zusammenspiel der Redaktionen mit dem Fotografen entstanden.
Illies geht zum Beispiel auf Fotos ein, die im Zusammenhang mit dem Roman „Montauk“ von Max Frisch entstanden sind. Das FAZ-Magazin hat Stephan Erfurt dafür 1986 nach Montauk geschickt. Dabei ist es ihm gelungen, die Formen, Farben, die Gegenstände, die Strände, Restaurants und Bars bildlich zum Sprechen zu bringen. Man sieht diese Bilder und denkt an den Roman. Das ist mehr als Dokumentation, das ist Fotokunst. Auch andere Bilder, die keine Bezüge dieser Art haben, scheinen immer auf etwas zu verweisen, das geheimnisvoll hinter ihnen liegt. Unwillkürlich muss man an die amerikanischen Bilder von Wim Wenders denken.
Am 9. Mai 1986 machte das Frankfurter Allgemeine Magazin mit der Montauk-Reportage auf. Zudem wählte der Suhrkamp-Verlag ein Foto von Erfurt für die Covergestaltung des Romans Montauk aus. Sowohl der Titel des FAZ-Magazins wie das Cover von der Suhrkamp-Ausgabe sind in dem vorliegenden Bildband reproduziert.
Zusammenspiel
Da erlebt man eine Überraschung. Denn das Foto, das die FAZ im Querformat recht gross auf der Titelseite zeigt, ist auf dem Cover von Suhrkamp beschnitten und quadratisch wiedergegeben worden. Zudem ist das Foto im Verhältnis zur Abbildung von der FAZ seitenverkehrt. Seitenverkehrt? Wenn man den Ort der Aufnahme nicht kennt, lässt sich die Frage nicht beantworten, ob das FAZ-Magazin oder die Grafik von Suhrkamp das Bild gekehrt hat. Aber man sieht hier, wie die Interpretation der Grafiker aus einem Bild immer wieder andere Eindrücke hervorhebt.
Fotografen wie Stephan Erfurt haben also nicht nur materiell von den Aufträgen anspruchsvoller Magazine und Verlage gelebt. Vielmehr gab es ein intensives Hin und Her. Da war der begnadete Fotograf, der einen Auftrag bekam, und diesen Auftrag bekam er von einer Bildredaktion, dem ein „Art-Director“ vorstand. In diesem Zusammenspiel entstand der endgültige Bildeindruck. Im vorliegenden Band sind eine Reihe von Seiten nicht mehr und nicht weniger als Reproduktionen der Bildfolgen, die von Stephan Erfurt in Printmedien veröffentlicht wurden. Man ist froh um diese Einblicke.
Auch andere Bildstrecken in diesem Band berühren den Betrachter in ähnlicher Weise. So hat Stephan Erfurt für das Frankfurter Allgemeine Magazin vom Februar 1988 Fotos von einer Fahrt auf dem Highway No. 1 gemacht. Auch in diesen Fotos schwingt etwas mit, das nur schwer fassbar ist, gleichwohl aber überzeugt. Wie der Fotograf zu diesen ganz spezifischen Fotos kommt, kann immer nur annähernd beschrieben und verstanden werden. In seinem engagierten Begleittext beschreibt Jordan Mejias, wie wichtig für Erfurt die New Yorker Fotografenszene und natürlich New York selbst war. Und wie rastlos er auf der Suche nach einem spezifischen Licht am ganz frühen Morgen oder dann wieder in der Dämmerung ist.
Blick nach Osteuropa
Die Fruchtbarkeit des Zusammenspiels zwischen Fotografen und ihren Redaktionen lässt sich kaum überschätzen. Es ähnelt der Zusammenarbeit von Autoren und Lektoren. Und wie alles in der Welt kann das auch schieflaufen. Nicht wenige Fotografen haben die Zusammenarbeit mit ihrer Bildredaktion aufgekündigt, weil sie mit der Präsentation ihrer Bilder nicht einverstanden waren.
Bei Stephan Erfurt war es genau umgekehrt: Die Zusammenarbeit endete, weil das FAZ-Magazin am 25. Juni 1999 das Erscheinen einstellte. Daraufhin gab er seinen Wohnsitz in New York auf und ging nach Berlin. Dort gründete er die Galerie „C/O Berlin“, die inzwischen internationales Renommee erworben hat.
Es ist gut, dass der Band auch Bildstrecken aus Europa enthält. Besonders eindrucksvoll sind dabei die Fotos, die unmittelbar nach der Wende in den osteuropäischen Regionen entstanden sind. Da spielt der Fotograf auf allen ästhetischen Klaviaturen: von der quasi-dokumentarischen Abbildung bis hin zu Impressionen, die in ihrer Grobkörnigkeit und mangelnden Schärfe an Bilder aus längst vergangenen Zeiten erinnern.
Dieser Band ist ein ästhetischer Genuss. Und er bietet zudem Einblicke in die fruchtbare Wechselwirkung zwischen Fotografen und anspruchsvollen Bildredaktionen.
Stephan Erfurt: On The Road. Herausgegeben von Matthias Harder, Felix Hoffmann. Texte von Matthias Harder, Florian Illies, Jordan Mejias. Gestaltet von Naroska Design. 252 Seiten. 127 Farb- und 32 Duplex Abbildungen. Kehrer Verlag, Heidelberg 2018.