Vor 200 Jahren stand der Liberalismus am Anfang einer steilen Karriere. Inzwischen sind ihm viele der ursprünglichen Qualitäten abhandengekommen. Der einstige Reform- und Gestaltungshunger ist längst gestillt. Andere politische Gruppierungen sind in die Lücke gesprungen. Nicht zum Vorteil der Demokratien.
Selbstgefälliger Liberalismus?
Täuscht der Eindruck? Ist aus der einstigen radikalen Erneuerungspartei nach Jahrzehnten des Erfolgs eine satte, konservative, etwas selbstgefällige Elitetruppe geworden? Wenn der liberal geprägte «Economist», das weltweit gelesene Wirtschaftsmagazin, sich um die Liberalen sorgt und nach Wegen sucht, den alten Gründer-Geist zu revitalisieren, lässt das aufhorchen.
Auch wenn im erwähnten Essay ein globaler Fokus eingenommen wird, so lassen sich doch auch für die kleine Schweiz Parallelen ziehen. Reinventing Liberalism – also quasi ein Neuerfinden des Liberalismus – zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Dafür sollte sich auch hierzulande die einst staatstragende Partei interessieren. Wir lassen uns überraschen.
«Der Markt wird es richten»
Viele nachdenkliche Menschen fragen sich, woher der gegenwärtige, weltweite antiliberale Trend zu Nationalismus und Rassismus herrühre. Warum Rechtsstaatlichkeit ignoriert und Figuren wie Trump, Erdogan oder Orban zugejubelt wird, als hätte es im letzten Jahrhundert keinen Anschauungsunterricht zu den Folgen solcher Fehlentwicklungen gegeben. Damals wie heute war und ist wohl nicht zu übersehen, dass der Liberalismus selbst Mitschuld trägt am Niedergang freiheitlicher Qualitäten.
Der starre Fokus auf die wirtschaftlichen Aspekte der Freiheit, das Dogma „der Markt wird es richten“, schon hier wird sichtbar, was zu kurz gekommen ist. Der Liberalismus in seiner einseitigen Ausrichtung hat dazu geführt, dass Kartelle und Grosskonzerne wuchern. Ja, selbst die von Karl Marx angekündigten Monopole weltweit nehmen überhand und „das System des Kapitalismus“ diktiert mehr und mehr Politikern, wo’s langgeht.
Gleichzeitig verschwanden Verbraucher, Kunden – das Heer der Arbeitnehmenden – aus dem liberalen Fokus. Die hochgelobte Praxis – weniger Regulierung, mehr Freiheit – tönt heute für immer mehr Menschen hohl und hat sich in dieser Extremform des Neoliberalismus als gefährlicher Nährboden für Unzufriedene, Abgehängte, Entlassene und von der Globalisierung Überforderte erwiesen. Das ist die Stunde der Heilsbringer, die ihren Auftritt gekommen sehen.
Was heisst «aufgeklärte Nüchternheit»?
Es ist eben nicht damit getan, den Wohlfahrtsstaat nur als effizienzmindernde Kraft zu bekämpfen. Die sozialen Effekte einer Politik dürfen nicht ausgeklammert werden, sollen sie nicht eines Tages den Absender einholen. „Sowohl als auch“ in seiner versöhnlichen Form bleibt wohl die langfristig erfolgreichste Strategie, Kooperation statt Kampf die nachhaltigste Form der politischen Zusammenarbeit.
„Der Liberalismus steckt nur scheinbar in einer Krise“, schreibt Gerhard Schwarz in der NZZ. Da ist er wieder, der selbstgerechte Ton jener Verteidiger eines Liberalismus, die sich immer noch an die etwas eingetrübte, alte Version klammern. „Liberale wollen ja den Menschen keine Werte vorgeben, keine Inhalte, […] sondern sie wollen nur einen Rahmen schaffen, in dem alle nach ihrer Fasson selig werden und nach Glück streben können.“ Das tönt zwar grossartig, doch was ist davon zu halten in einer Zeit, da Orientierungslosigkeit und Unverständnis über das Weltgeschehen vielen Menschen Angst einflössen?
Und was ist zu verstehen unter der Feststellung „… eine der grossen Stärken des Liberalismus, seine aufgeklärte Nüchternheit“? Versteckt sich hinter dieser Qualifizierung nicht eine leicht arrogante Überschätzung des eigenen Verhaltens vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Zeit, als zum Beispiel das Schweizerische Bankgeheimnis noch als uneinnehmbare Festung, an der sich «Kritiker die Zähne ausbeissen» würden (Bundesrat Merz), gnadenlos verteidigt wurde?
Im gleichen Artikel gibt noch eine Bemerkung zu denken, die der liberal-konservative Berliner Historiker Jörg Baberowski formuliert haben soll: „Sie (die Liberalen und Konservativen) sind im politischen Kampf unterlegen, weil es ihnen zuwider ist, sich in Herden zu organisieren, Ideen wie Ikonen zu verehren und endgültige Wahrheiten herauszuschreien.“ Ziemlich abgehoben gesehen, könnte man einwenden. Besonders dann, wenn in der Schweiz ein Drittel der FDP-Stimmberechtigten bei Wahlumfragen angibt, sich für eine extreme SVP-Initiative auszusprechen (Umfrage vor der Abstimmung zur «Selbstbestimmungsinitiative» im November 2018, die dann allerdings klar abgelehnt wurde).
Der ungemütliche Nationalismus
Liberale Kreise leiden zu Recht unter der Renaissance eines explosiven Nationalismus in der Form der „Mein-Land-zuerst-Devise“ (in Anlehnung an Trumps „America first“- Propaganda-Spruch), der Europa seit einigen Jahren überflutet. Wird dieser Slogan einerseits aus egoistischen persönlichen Machtgelüsten der starken, selbsternannten Führer vorgeschoben, um abzulenken, ist er andererseits geeignet, den liberalen Grundkonsens in Europa zu schädigen. Der Neopopulismus, der keine Gelegenheit auslässt, Gerichte, Menschenrechte, Eliten und Regierungsmitglieder zu diffamieren, leistet Sterbehilfe für jenes Individuum, das vormals unser kostbares Vermächtnis, Demokratie und Freiheit, hochhielt.
Doch die wortgewaltigen und schlauen Führernaturen in den einzelnen Nationen haben schneller als andere entdeckt, dass der liberale-demokratische Grundgedanke zerbrochen ist und eine Lücke hinterlässt. Linke und Rechte, Sozialisten und Liberale sind so sehr damit beschäftigt, den jeweiligen Gegner zu diffamieren und zu besiegen, dass sie völlig übersehen haben, dass es an ihnen gelegen hätte, Alternativen für Populismus-anfällige Menschen anzubieten. Dieser Vorwurf zielt natürlich auf beide Seiten. Der kritische Blick auf sich selbst wäre angebracht und wohl erfolgversprechender, als in den Printmedien sich selbst zu loben – einem Medium, das im Übrigen von der jungen Generation angeblich kaum mehr zur Kenntnis genommen werde.
Die Frage nach den wichtigsten Baustellen
Zurück zum Anfang dieses Beitrags. Die Liberalen, deren Exponenten vor 200 Jahren in der Schweiz Aufbruchstimmung, Reformhunger und risikoreiches Unternehmertum verkörperten, müssen zurückfinden, im Interesse unseres Landes. Die „kreative Zerstörung“ als Schmiermittel gilt vorab in den eingeübten und rückwärtsgerichteten Ritualen in Bundesbern und den Parteizentralen. Gegen die zunehmende Polarisierung anzutreten, hiesse auch, die eigenen Ziele und Kommunikationswege in Frage zu stellen. Nicht Erhalt und Ausbau des parteipolitischen Marktanteils sind zukunftsweisende und populäre Prioritäten. Schon eher wären solche die Inangriffnahme der wichtigsten Baustellen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind dies die grossen, überfälligen Reformen im eigenen Land. Hoffentlich fragen jetzt die liberalen Angesprochenen nicht, welches diese dann eigentlich wären …