Rund fünfzig Jahre lang (genau 1951–2002) ging alles gut. Rückblickend waren sich Mitgliedländer, deren Bevölkerung und Politiker, ja sogar Wirtschaft und Medien darin einig: die Verträge sollten allen zugute kommen. Ab 2002 kam das stolze Schiff vom Kurs ab. Die Einführung der Gemeinschaftswährung, des Euro, bildete den Anfang von Missverständnissen. Wie konnte es so weit kommen?
Menschen kreieren und zerstören
Offiziell waren sich alle einig. Doch mit den Beschlüssen zum Euro (2002) und zur EU-Erweiterung (2004) war es vorbei mit der solidarischen Aufbruchstimmung innerhalb der EU. Zu diesem Schluss jedenfalls kann man rückwärtsblickend kommen. Völlig unterschiedliche Hoffnungen oder Absichten der beteiligten Nationen führten zur Einheitswährung, die sich nach 16 Jahren als das entpuppt, wovor Ökonomen damals vergeblich gewarnt hatten: als Spaltpilz der EU, mit Profiteuren und Verlierern, die sich bekämpfen, statt zu helfen versuchen. Mit der EU-Erweiterung 2004 einher ging der Traum des umfassenden EU/Europa-Binnenraums. Doch auch hier muss man – 14 Jahre später – einsehen, dass wohl nicht überall mit offenen Karten gespielt wurde. Jedenfalls bereiten in erster Linie Ungarn, Polen, Tschechien, doch auch die Slowakei und Malta der EU-Führung seit Jahren Kopfweh, in letzter Zeit eigentliche Migräneattacken. Diese Länder akzeptieren aus Brüssel, was mit handfesten Vorteilen für sie verbunden ist (wie hohe Transfer-Zahlungen aus dem EU-Topf). Um den Rest foutieren sie sich, sogar wortreich selbst bestätigt. Unter Demokratie verstehen eben nicht alle Menschen dasselbe.
Der Europäische Rat
Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 einher ging eine Aufwertung des Europäischen Rats, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer. Damals wurden die Kompetenzen der Europäischen Kommission reduziert, also die supranationale Institution im Verhältnis zur Macht der Nationen geschwächt. Unter anderem entscheidet der Rat über die allgemeine Ausrichtung der EU-Politik und ihre Prioritäten. Er befasst sich mit komplexen oder sensiblen Themen, die auf einer niedrigeren Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht geklärt werden können, und legt die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU fest. Dabei berücksichtigt er die strategischen Interessen der EU und Fragen der Verteidigungspolitik.
Ob dies eine falsche Weichenstellung war? Wer sich die grössten Probleme der EU vor Augen hält, wird feststellen, dass seither das nationale Denken innerhalb der EU Aufschwung erhalten hat, ja, dass die offensichtliche Unfähigkeit, das wichtigste, das Flüchtlingsproblem auch nur ansatzweise zu lösen, damit zusammenhängt, dass jeder Staatschef seine nationalen Prioritäten voranstellt. Anders gesagt: nationaler Egoismus triumphiert über die europäische, solidarische Idee. Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik wird zwar seit Jahren wortreich beschworen, die gleichen Akteure hintertreiben jedoch schlicht eine Lösung.
Die grosse Illusion
Eigentlich wissen wir es doch alle. Die grössten Probleme unserer Zeit, die der Lösung durch die Politik harren, sind: Migrationsbewegungen, Klima (Erderwärmung, Ökologie), Digitalisierung, Globalisierung, Finanz-Schatten-Welt. Sie alle sind auf nationaler Ebene nicht zu lösen. Doch innerhalb der EU haben genau die nationalen Staats- und Regierungschefs diese Dossiers zu betreuen. Kein Wunder, dreht sich die EU seit Jahren im Kreis. Während Migration und Flüchtlingsdramen die Medien füllen, ist vergleichsweise wenig darüber zu lesen, wie wir in Europa (inkl. CH) dazu kämen, die Globalisierung politisch mitzugestalten, statt wortreich zu erleiden.
Ganz allgemein fällt es unendlich viel leichter, die EU zu kritisieren, als die Vorteile dieser Verträge herauszustreichen. Gerade die Überwindung des nationalstaatlichen Denkens hat erst die Freiheiten gebracht, die wir versucht sind, als selbstverständlich vorauszusetzen: Niederlassungsfreiheit, Reisefreiheit, Arbeitsfreiheit. Für Studenten hat sich Europa geöffnet, ihre persönlichen Chancen innerhalb des Studiums sind enorm gestiegen. Das Fundament all dieser Freiheiten, die sich in den letzten 60 Jahren entwickelt haben, ist die Menschenrechtskonvention, ihrerseits basierend auf der Aufklärung.
Existentielle Krise der EU
Jene Kräfte, die das Wohlergehen der Gesellschaft vor Augen haben, müssen den Kopf schütteln. Denn viele der wortreichen, gegenwärtig erfolgreichen Politiker sind reine Populisten, denen es um ihre persönliche Macht geht. Wenn sie uns vorgaukeln, die oben aufgeführten grossen Zeitprobleme wären unter ihrer Führung subito zu lösen – Arroganz in Reinkultur! Warum sind sie denn trotzdem erfolgreich? Viele Menschen glauben, dass es ihnen besser ginge, wenn die guten alten, nationalen Interessen wieder Vorrang vor internationalen Kooperationen erhalten. Noch immer haben in Zeiten der Verwirrung die Stimmen der nationalen Heilsbringer, auch Führer genannt, vermehrt Zuspruch erhalten. Viele der enttäuschte Menschen („Loser“) sehen keinen Zusammenhang zwischen den Errungenschaften, dem Wohlstandsanstieg, der kürzeren Arbeitszeit, der längeren Ferienzeit, der Komfortsteigerung und der Sicherheit, in der sie leben, und deren Fundament: supranationale Zusammenarbeit anstelle nationaler Alleingänge.
Auch in der Schweiz wäre es keine schlechte Idee, zwischen den nationalen Abstimmungsgängen für einmal ein rotes Bundesbüchlein an alle Stimmberechtigen zu verschicken, worin über die ganzheitlichen Aspekte und Voraussetzungen zeitgemässer Wohlstandsgesellschaften gesprochen würde. Denn auch hierzulande sind sie unablässig am Wühlen, die Heilsbringer, die im Alleingang der Schweiz ihr Heil sehen. Wie der französische Historiker Nicolas Baverez im „Le Figaro“ schrieb: „Der Populismus ist ein Krebsgeschwür, das die Demokratie zersetzt, ihre Institutionen und Werte untergräbt.“
Ausweg aus der Krise?
Warum herrscht in unserem Nachbarland Frankreich nach Jahren der Lähmung ansteckende Aufbruchstimmung? Warum gelingen Präsident Emmanuel Macron Reformen, die niemand für möglich gehalten hätte? Warum sind Ewiggestrige (wie die Eisenbahn-Gewerkschaften) plötzlich chancenlos und werden von der Bevölkerung verachtet? Warum sollten sich europäische Nationen mit diesem französischen Phänomen in ihrem eigenen Interesse vertraut machen? „Jetzt müssten Europa Flügel wachsen“, schreibt die ZEIT. „Die EU darf die Chance nicht ungenutzt lassen, die Macron für den Kontinent bedeutet.“
Es geht um die Zukunft, um die Jugend. Statt Macron als „jungen Mann mit alten Ideen“ zu titulieren und der Effekthascherei zu verdächtigen, wie es die NZZ nicht lassen kann, könnte man seine ansteckende Lust, längst überfällige Reformen anzupacken, zum Vorbild erheben. Da kommt endlich einer, der nicht verharrt, sondern aufbricht. Der die Ausweglosigkeit des gegenwärtigen EU-Durchwurstelns und die Untätigkeit gegen den falschen Nationalismus satt hat. Der die Ehre der dritten Generation seit der Gründung der EU retten könnte.