In den nächsten zwanzig Jahren wird sich der weltweite Anteil der über 65-jährigen von heute 660 Millionen auf 1,1 Milliarden erhöhen. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass die Gutausgebildeten in dieser Bevölkerungsgruppe länger als früher arbeiten werden. Zwei mögliche Konklusionen: Die Lebensarbeitszeit darf nicht länger fix vorbestimmt sein (Schweiz: AHV-Alter 64/65), der Staat muss mehr Mittel in die Bildung der Jungen investieren.
Zehn-Millionen-Schweiz?
Im Gegensatz zu unseren Nachbarländern ist die Bevölkerung der Schweiz nach einer relativ stagnierenden Phase in den 1970er-Jahren seit dem Jahr 2000 wieder stark gewachsen. Der Zusammenhang mit der Immigration ist offensichtlich. Um 1900 zählte die Schweiz rund 3,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. 2013 waren es über 8,1 Millionen. Während sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen bis 14 Jahre seit 1900 halbiert hat, hat sich der Anteil der über 65-Jährigen beinahe verdreifacht. Fast jede sechste Person ist älter als 65 Jahre. Stark vergrössert hat sich auch der Anteil der über 80-Jährigen, der seit 1980 um über 80% zugenommen hat. Der Anteil der über 90-Jährigen hat sich gar mehr als verdreifacht.
Im Laufe der nächsten Jahre wird die Zahl der 65-jährigen und älteren Personen weiter zunehmen und im Jahr 2060 voraussichtlich einen Anteil von etwa 28 Prozent an der Gesamtbevölkerung erreichen. Heute beträgt er etwas mehr als 17 Prozent.
Bald über hundert Jahre alt?
Professor James Vaupel vom Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock sieht die Gründe für den anhaltenden Anstieg der Lebenserwartung unter anderem in einer Kombination laufender Fortschritte im medizinischen Wissen, in besserer Gesundheitsversorgung und Ernährung sowie in Fortschritten bei sanitären Einrichtungen. Das Institut weist darauf hin, dass der Bildung bei diesem Trend grosse Bedeutung zukommt. Diese ist nämlich entscheidend für das ökonomische Wachstum. Das Max-Planck-Institut plädiert in diesem Zusammenhang deshalb nachdrücklich für moderne Betreuungsangebote für Kleinkinder.
Vaupel ist überzeugt, dass die Lebenserwartung bei Geburt sich langsam der Marke von hundert Jahren nähert. Heute liegt sie noch bei durchschnittlich 82,7 Jahren, doch sie wächst kontinuierlich, jährlich um drei Monate. Konkret heisst das, dass jede zweite Person, die heute im Westen geboren wird, über hundert Jahre alt werden dürfte. Auch dieses Institut ist überzeugt davon, dass wir deshalb länger werden arbeiten müssen. Warum? Die steigenden Kosten für Rente, Gesundheit und Pflege würden sonst jeden Staat ruinieren.
Ein kleines Fragezeichen bei diesen Trendrechnungen sei erlaubt. Die heutige Generation „über 75“ erlebte die Kriegsjahre, wurde damals sehr einfach, ja bisweilen spärlich ernährt. Zu jener Zeit waren viele zivilisatorische Krankheiten, heute durch ungesunde oder zu üppige Ernährung begünstigt, unbekannt (Übergewicht, Zucker, Gicht etc.). Ob sich dies dereinst negativ auf unsere Lebenserwartung auswirken wird, ist zumindest einen Gedanken wert.
Prognosen und Realität
Im Zusammenhang mit Alain Bersets Rentenreform stehen der Zustand der AHV und der Pensionskassen im Vordergrund. Tatsächlich ist die AHV letztes Jahr in die roten Zahlen gerutscht und auch für 2015 sind Defizite vorausgesagt. Der St. Galler Wirtschaftsprofessor Martin Eling erhebt den Warnfinger. Er prognostiziert, im Jahr 2030 würden den Pensionskassen über 50 Milliarden Franken fehlen. Je nach politischem Standpunkt wird die gegenwärtige Situation als „beneidenswerter robust“ oder „Konkursgefahr“ bezeichnet. „Von einer Krise der AHV kann keine Rede sein“, vermeldete kürzlich gar der neue Geschichtsprofessor der Uni Zürich, Matthieu Leimgruber. Das Problem ist, mit Verlaub gesagt, nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft.
Es ist nicht zu leugnen, dass diverse Prognosemodelle seit 1995 den Kollaps der AHV angekündigt haben, dieser aber nicht eingetroffen ist. Warum nicht? Die steigende, aber unterschätzte Zuwanderung junger Arbeitskräfte federte bisher den vorausgesagten Alterungsprozess ab. Gleichzeitig stützte er das Wachstum der Wirtschaft und der AHV-Einnahmen. Nach der Annahme der Zuwanderungsinitiative dürfte dieser Mechanismus allerdings Sand ins Getriebe bekommen. „De Föifer und‘s Weggli“ ist eben ein trügerisches Versprechen.
Eine veritable Zeitenwende
Journal21 hat dazu im Juli 2015 geschrieben. So oder so sollten sich unsere Politiker der Frage widmen und Szenarien entwerfen, um nicht dereinst vor einem Scherbenhaufen zu erwachen. Wenn sich heute Neunzigjährige fühlen wie früher Achtzigjährige, müsste das nach Konsequenzen im Arbeitsprozess rufen. Denn das hiesse ja auch, dass sich Arbeitnehmende mit 65 fühlen wie früher mit 55! Und damit würde klar, dass die heutige strikte Trennung zwischen Erwerbsphase und Ruhestand mit Stichtag 65 überholt ist.
Gemäss Stephan Sigrist, Gründer und Leiter des interdisziplinären Think-Tanks W.I.R.E., stehen wir vor einer veritablen Zeitenwende, einer grossen sozialen Umwälzung. Er ruft dringend nach konstruktiven Diskussionen, dem Gegenteil sturer Verteidigung persönlicher Meinungen.
Sigrist ortet insbesondere Chancenpotenzial in den Bereichen Gemeinschafts- und Familienarbeit sowie Einsatz Älterer mit Hilfe digitaler Technologien und flexibler Lebens- und Karriereplanung. Damit sich aus der gegenwärtigen Tendenz ein Mehrwert ergibt, sind für die Betroffenen und die Arbeitgeber neue Geschäftsmodelle und entsprechende Infrastrukturen zu erforschen, entwickeln und erproben.
Fällige Reformen
Im Alter den bisherigen Lebensstandard beibehalten zu können dank AHV und Zweiter sowie Dritter Säule, ist eine trügerische Hoffnung. Viele der damaligen Berechnungsgrundlagen stammen noch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, jener Phase des ungestümen Wachstums und einer eigentlichen Hochstimmung. Nach der Pensionierung betrug die Lebenserwartung für Männer 12 Jahre (heute ca. 17 Jahre, steigende Tendenz). Nicht nur müssen also Renten fünf Jähre länger ausbezahlt werden, auch der Bevölkerungsanteil der Berechtigten liegt inzwischen bei 30 Prozent – 50 Prozent mehr als damals. Zusätzliches Problem: die Zinsen auf dem ersparten Kapital fallen zurzeit schlicht weg.
Nüchtern betrachtet, ist eine Reform schon seit Jahren überfällig. Der Ständerat hat im September 2015 schon mal ausführlich debattiert. Das Geschäft geht jetzt an den Nationalrat. Ob der ständerätliche Kompromiss, der auf Druck der Gewerkschaften eine Erhöhung der Renten vorsieht, Zustimmung erhält, ist offen. Diese Idee steht völlig quer in der Landschaft – doch wäre ein Kompromiss immer noch besser als die spätere Ablehnung der Rentenreform an der Urne.
Es ist noch nicht lange her, dass 65-jährigen Arbeitnehmenden, die gerne noch einige Jahre länger gearbeitet hätten, dies nicht erlaubt wurde. Doch genau diese Idee wird einen Teil der Lösung ausmachen. Natürlich neben anderen Massnahmen, wie Senkung des Umwandlungssatzes, der in der Zweiten Säule das Verhältnis der Rentenhöhe zum angesparten Kapital festlegt. Nicht ganz unschuldig am politischen Verdrängungswettbewerb sind die betroffenen Jungen selbst: Sie bleiben vielen Abstimmungen und Wahlen fern, während die Alten zu den fleissigsten Urnengängern gehören.
Längere Arbeitszeit
Es steht damit fest, dass eine längere Arbeitszeit – nach Berücksichtigung der höheren Lebenserwartung und eines verbesserten Gesundheitszustands – ins Auge gefasst werden muss. Ebenso klar verständlich ist die Tatsache, dass gewisse Berufe (namentlich solche mit schwerer körperlicher Arbeit wie im Bausektor) davon ausgenommen sein müssen.
Ältere Mitarbeiter wären heute vielfach geneigt, noch über 65 Jahre hinaus berufstätig zu bleiben. Voraussetzung dazu ist ein zeitgemässes Verhalten der Arbeitgeber, lies flexible Arbeitszeiten und Pensionierungszeitpunkte, konstante Weiterbildungsangebote, ausdrückliche Wertschätzung. Diese älteren Mitarbeiter können für Firmen sehr wertvoll sein, zumindest dort, wo Erfahrung stark gewichtet werden muss. Positiv ins Gewicht fallen dürfte zudem der dadurch verminderte Zuwanderungsdruck.
Alle sind gefordert
Wenn heute etwa Grossbanken Tausende von Jobs ins billigere Ausland auslagern oder fallweise Tausende von ausländischen Arbeitnehmern ins Land holen, weil dadurch ihre internen Kosten gesenkt werden, ist das aus gesamtschweizerischer Sicht ein moralisches Problem. Es ist sicher nicht Teil der Lösung. Wenn sich heute Tausende von Arbeitnehmern frühzeitig, oft sogar mit 55 Jahren, pensionieren lassen, obwohl sie kerngesund sind, ist das natürlich ihr Recht, doch es verschärft das Problem zusätzlich (Berufe wie Piloten sind hier ausgenommen). Wenn andererseits ältere Arbeitswillige aus Prinzip (wegen höheren Vorsorgekosten als bei Jungen) mit 65 in Rente abgeschoben werden, ist dies oft einfach kontraproduktiv.
Alle sind aufgerufen, über den Zusammenhang „Länger leben, länger arbeiten“ nachzudenken.